Fliegen
Der Regen schlägt hart auf das Dach meines Unterstandes. Das Wasser drückt schwer auf die Kanalisation. Es fliesst eine braune Brühe die leichte Steigung der Straße hinab. Während ich mich an die gläserne Rückwand des Wartehäuschens drücke, im verzweifelten Versuch die letzten trockenen Stellen meiner Kleidung der Nässe zu entziehen, bleibt mein Blick verwundert an einem unscheinbaren Mann hängen, der wenige Schritte weiter im Regen steht. Ungeschützt und mitten im Strom des ablaufenden Wassers, steht er am Straßenrand, die Beine fest zusammengedrückt, die Absätze gegen den Bordstein. Er wirkt eingefallen, geschrumpft. Dabei ist er doch ein großer Mann, wenn auch eher hager. Seine Arme drückt er seitlich an den Körper und die Hände graben sich tief in die Hosentaschen. Die Kleidung ist nicht auffällig. Sie wirkt gepflegt, aber man erkennt den stetigen Gebrauch, der Spuren hinterlassen hat. Hose und Jacke sind an Knien und Ellbogen abgetragen, aber ordentlich geflickt worden.
Ich zünde mir eine Zigarette an um mir die Zeit zu vertreiben. Es gelingt mir nicht davon los zu kommen. Wie oft habe ich es schon versucht. Wie immer, wenn K. und ich uns treffen, hat er mir gestern erneut vorgehalten, daß ich meine Vorsätze endlich ausführen sollte. Es sei nur zu meinem Nutzen. Es geht einem viel besser, sagt er, der schon tausendmal aufgehört hat . Ich kann es kaum erwarten ihn wieder verführt zu sehen, damit wir uns wieder gemeinsam über die Sucht an und für sich unterhalten können.
Genüßlich ziehe ich an der Kippe und mein Blick wandert wieder zu dem Anderen hin. Ich hatte ihn nicht bemerkt bei meiner Flucht vor den Naturgewalten. Von Hauseingang zu Hauseingang bin ich immer nasser geworden. Das letzte Stück bin ich gebückt und fasst Blind durch das Wasser, das mir über Stirn und Nase in meine Augen lief, bis hierher gerannt.
Während ich den Anderen betrachte denke ich an die Geschichte die K. mir neulich erzählt hatte.
Es ging darin um einen Mann, erfolggewohnt, zielstrebig, Haus , Frau und Kinder. Ein hohes Tier in der örtlichen Sparkasse, der seinen beruflichen Werdegang stützend zu begleiten wusste, indem er sich in der Gemeinde möglichst vielfältig beteiligte. Er war im Schützenverein ganz oben, so wie er auch im Kirchenrat mitmischte und immer trat er kraftvoll auf und setzte sich für die Belange seiner Aufgaben ein.
K sagte, die ihn kannten fragten sich wie er mit seiner Zeit zurecht käme, denn er schien rund um die Uhr im Einsatz zu sein. Und auch sein privates Leben erschien in der Öffentlichkeit als vorbildlich, was sein Umfeld schon fast als unwirklich wahrnehmen musste.
In Gedanken betrachte ich den Mann an der Strasse, der da steht und seine Haltung nicht verändert hat, seit ich ihn bemerkt habe. Der Mann fixiert einen Punkt auf der Staßenseite gegenüber, an der Fassade eines heruntergekommenen Altbaus. Ich blicke hinüber und betrachte die Fenster und Oberflächen des Gebäudes und frage mich, ob das Interesse des Mannes wohl der geschunden Haut des Hauses gilt, dem Putz mit seinen Rissen und Fehlstellen, die die Vergänglichkeit des Bauwerkes preisgeben. Da stehen sich zwei gegenüber und sind einander verfallen...
Natürlich, so K., sprach man hinter seinem Rücken und glaubte nur die Hälfte dessen, was die Familie der Öffentlichkeit präsentierte. An den Stammtischen wurde diskutiert, ob nicht die Flucht in die Verbände ein Zeichen gerade für die Unaufgeräumtheit privater Umstände sei. Aber alle die ihn mit seiner Frau und seinen Kindern erlebt hatten mussten eingestehen, daß es keinerlei Anlass gab an der Intaktheit seiner Verhältnisse zu zweifeln.
Dann wiederum wurde gemunkelt, die Filiale wär ihm eine zu große Last und das sei der Grund warum er sich in die Gemeinde und Familie flüchtete. Aber eine kurze Notiz in dem lokalen Wirtschaftsteil der Zeitung konnte Auskunft geben, wie dank des Engagements der Sparkasse und insbesondere ihres Leiters, wichtige Investitionen in der Region erfolgreich umgesetzt werden konnten - zum Wohle aller.
Warum steht er da, im Regen, in der Gosse und stellt sich nicht unter? Ich spüre in mir eine Unruhe aufsteigen. Ich spüre wie es mich zu ihm hinzieht. Entweder gehe ich hin oder ich geh hier weg. Woher diese Unruhe? Was kann ihm schon passieren? Wenn er später da ist wo er wohnt - hat er ein Zuhause? - wird er einen Schnupfen haben, eine Erkältung, höchstens wohl eine Grippe.
Er steht gerade da wo der Bus zum halten kommt. Das schlimmste was hier passieren kann ist, daß die vorüber fahrenden Autos ihn mit Fontänen schmutzigen Wassers überschütten. Aber wer sagt, dass er stehen bleibt? Die Unruhe steigt. Wieviel Busse er wohl schon hat passieren lassen? Er wirkt nicht als hätte er ein Ziel. Der Fahrplan zeigt an, das die einzige Linie die hier hält erst in 15 Minuten kommt. Ich könnte ihn unter das schützende Dach bitten. Vielleicht leite ich einen Kontakt ein, indem ich ihn um Feuer bitte. Gespräche können so beiläufig enstehen.
Erst spät, so K., lernte er diesen faszinierende Menschen kennen, kurz bevor sich dessen Leben unscheinbar und langsam zunächst und dann in rapidem Schüben veränderte. K. bedauerte in unserem Gespräch den Tag, an dem er dessen Bekanntschaft machte. K. hätte sich rückblickend gewünscht, er wäre nicht mehr als eine Agenturmeldung für ihn geblieben. Tatsächlich entwickelte K. eine freundschaftliche Beziehung zu ihm und wurde bald auch in die Familie eingeführt, was K. mit dessen bezaubernder Frau und seinen heranwachsenden Söhnen zusammenkommen lies. K. war mit einem Mal befangen.
Die ersten Anzeichen einer Änderung im Wesen seines Freundes sieht K. heute in den Gesprächen über naturwissenschaftliche Themen. Plötzlich begann er sich für so etwas zu interessieren und erzählte von Büchern, die er gelesen hatte, meist populäre aber durchaus kluge Werke, die einen reichen Fundus für ausgedehnte und angeregte Diskussionen boten. Eines Tages sah sich K. mit der fast kindlich vorgetragenen Frage konfrontiert, was er über das Fliegen wisse. K. bezeichnet diese Frage seines Freundes als Dammbruch. Es war die erste öffentliche Manifestation einer schleichenden Veränderung die nun an Fahrt gewinnen sollte. Wie fliegen die Vögel und wie hatten die Gebrüder Wright die Schwerkraft überwunden? Was hatte Da Vinci für Visionen und welche physikalischen Erklärungen hatte Newton uns geschenkt? Er begann Modellflugzeuge mit seinen Söhnen zu bauen und verbrachte viel freie Zeit mit ihnen und beobachtete das Flugverhalten der ferngesteuerten Modelle am Himmel. Dabei schaffte er sich und seinen Söhnen eine beachtliche Flotte unterschiedlichster Flieger an und philosophierte über unterschiedliche Flügelausbildungen und aerodynamischen Zusammenhängen, Auftrieb und vieles mehr. Ein gemeinsames Hobby verbindet. Nicht aber lange. Dem Enthusiasmus ihres Vaters konnten die Söhne bald nicht mehr folgen. Sie beschäftigten bereits mit Freundinnen und der Freizeitgestaltung heran waschender. Sicherlich war auch die zunehmende Fahrigkeit des Vaters nicht förderlich für gemeinsame Aktivitäten. K. beobachtete zu dieser Zeit den Beginn der sozialen Isolation, die seinem Freund jedoch noch nicht bewusst schien. Zum einen hatten sein Hobby ihn zur Aufgabe seiner führenden Arbeit im Schützenverein gebracht. Zwar wurde der Schritt bedauert, aber nicht als Affront gewertet, da er ihn mit der Förderung jüngerer und kompetenter Mitglieder im Verein begründete. Der Verein begrüsste das und sein Ansehen blieb dadurch unbeschädigt.
K. erzählte von einem gemeinsamen Essen mit dem Sparkassenleiter und seiner Frau. Hier ging es natürlich wieder um das Fliegen und der Eifer mit dem er seine Beobachtungen vortrug lies K. erschauern. Schlimmer noch: K. beobachte wie auch die Frau offensichtlich mit körperlichen Unbehagen auf die Situation reagierte. Hier wurde klar, daß zwischen den Eheleuten bereits ein tiefes Zerwürfnis bestehen musste, obwohl die saloppe Frage von K. in die Runde, wie denn ihr das neue Hobby ihres Mannes gefalle, sie nur zu einer ebenso saloppen wie scheinbar leichtfertigen Antwort veranlasste, daß sie mit einem verständnisvollem Lächeln unterlegte: Er dreht halt ein wenig am Rad.
K. war sich sicher, das die Frau nun dies tat, was schon oft in Gesellschaften diskutiert worden war. Sie hatte begonnen eine Fassade aufrecht zu erhalten, eine Fassade die bereits brüchig war.
Durch das stetige Rauschen des Regens dringt das Brummen eines Motors in mein Bewusstsein. Ich kann nicht die Augen von ihm lassen. Es ist mir nicht möglich sein Gesicht klar zu sehen. Er steht so, daß ich den Riss seiner gespannten Wangen sehe und sich gerade eben die Augenhöhlen andeuten, über denen sich eine hohe Stirn abbildet. Seine Augen kann ich nicht sehen. Seinen Mund kann ich nicht sehen. Seine Mimik bleibt mir verschlossen. Es ist eine Mutmaßung und eine ehrliche Sorge die mich in den Regen treibt. Ich werde ihn vorsichtig von der Seite anblicken. Der Busfahrer hat beim Heranfahren an die Haltestelle bereits mehrmals sein Fernlicht aufblenden lassen. Beruhigend - hat er ihn doch gesehen. Trotzdem bin ich angespannt. Wenn er nicht einsteigt, dann bleib ich hier stehen. Ich werde mit ihm reden. Der Bus hat seine Fahrt schon verlangsamt, während ich vorsichtig zum Anderen hinüber schiele. Die Tür beim Busfahrer öffnet sich. Er schaut mich erwartungsvoll an. Dann blickt er zum anderen hinüber, der immer noch unbeweglich da steht und starrt. Ich wende mich ab und der Busfahrer fährt fluchend weiter. Ich stehe im Regen.
Die Augen liegen tief und sind blutunterlaufen. Lange Zeit schlaflos. Jetzt, da ich ihn sehe, blicke ich in eine lebloses Gesicht ohne Mimik. Lange Zeit leblos. Der Mann hat sein Schicksal verspielt, denke ich. Ich werde ihn ansprechen.
Ich kann Fliegen.
K. war ganz entgeistert als der Sparkassenleiter ihm dies, in einem Café am Rathausplatz, ganz im Vertrauen, die Hand schützend vor dem Mund und kaum hörbar zuflüsterte. Hiernach beobachtet er, wie sich der Freund nervös in seinen Stuhl zurück schob die Ellbogen auf die Armlehnen stützend die Hände faltete und auffällig die Finger aneinander rieb. Dabei blickte er unablässig von rechts nach links, als fürchtete er beobachtet zu werden. K. beschrieb das Gespräch das sich entwickelte als das absurdeste, das er je geführt hatte. Während K. deutlich die Zerrissenheit des Mannes spürte, den er über die Zeit ihrer Bekanntschaft lieb gewonnen hatte, entfaltete sich vor ihm die Beziehungslosigkeit und Verwirrtheit seines Gegenübers zunehmend. Diese grauenhafte halbe Stunde an einem sonnigen Tag auf dem Rathausplatz, war ein geflüsterter Abschied eines Mannes, der der Realität den Rücken zugewandt hatte. Zu den absurden Bekenntnissen zur Überwindung der Schwerkraft, seltsamer Geräte und Chemikalien und deren manischer Logik K. weder folgen konnte noch wollte, gesellte sich die Verwirrtheit des Freundes, die sich nun auch körperlich manifestierte. Von der Fahrigkeit hatte er ja bereits gesprochen. Diese hatte in der letzten Zeit zugenommen. Er hatte kaum ruhig stehen oder sitzen können. Dann hatte er, etwa ein Woche vor ihrem Treffen auf dem Rathausplatz, damit begonnen die Finger der rechten Hand zu reiben. Aber nun war es eine Explosion vielschichtiger feinmotorischer Bewegungsabläufe, die sich vor K.s entsetzten Augen abspielten. Es war eine Fontaine von Berührungen und Abläufen, die sich einander zu bedingen schienen und sich immer im gleichen Rhythmus wiederholten. K.s erfolglose Hilfsangebote verebbten in der entrückten Realität seines Gesprächspartners und schließlich verabschiedete er sich wohl wissend, daß sein Freund verloren war. K. war machtlos.
Es sei der schwerste Moment seines Lebens gewesen, sagte er. Der Abschied selbst steigerte in K. den Schmerz über seinen Verlust, da der Sparkassenleiter mit einem Mal als er die Hand über den runden Tisch reichte, wieder der zu sein schien, der er mal gewesen war: Jovial, Selbstbewusst und eben ganz normal. K. erklärte sich das, mit der Ritualisierung der Umgangsform, die sein Freund aus dem ff beherrschte. Die Fassade, so K., ist wohl das Letzte das Schaden nimmt.
K. machte sich umgehend auf den Weg zur Frau des Sparkassenleiters. Er fühlte sich verpflichtet wenigsten dort Hilfe anzubieten. Er kam zu einem verlassenen Haus. Der Garten war längere Zeit nicht gepflegt worden. Ein Blick durch die Fenster zeigte ein nahezu leergeräumtes Haus.
Eine Angestellte der Sparkasse, die in K. einen Freund des Leiters erkannte, berichtete ihm später im Vertrauen, daß sein Freund nun schon seit mehreren Wochen nicht mehr der Filiale vorstehe. K.s spätere Versuche Kontakt mit der Frau aufzunehmen scheiterten. Sie schien für sich und ihre Söhne jede Verbindung zu ihrem Mann abgebrochen zu haben. K. weigerte sich darin einen herzlosen Akt zu sehen, sondern verteidigte es als Selbstschutz und dem Schutz der Kinder. Er war davon überzeugt, daß das Leid der Familie unermesslich sei.
K. hadert noch immer mit seiner Hilflosigkeit im Angesicht dieser Tragödie.
Entschuldigend näher ich mich dem Mann. Durch den Regen hindurch erkenne ich den Verfall nun deutlicher als zuvor. Er scheint mich nicht wahrzunehmen, aber ich schiebe das auf meine etwas verlegene, leise Ansprache. Jetzt stehe ich dicht bei ihm.
Entschuldigung.
Er dreht ganz langsam den Kopf zu mir, zieht die Hände langsam aus den Hosentaschen, aber sein Gesicht bleibt unbewegt. Die Finger zucken, eine Hand streicht kurz über die andere und plötzlich geht er in die Hocke, um sich blitzschnell vom Boden abzustoßen und zum Sprung anzusetzen. Er breitet die Arme aus bevor er in die Höhe schnellt und stürzt mit ausgebreiteten Armen auf den Boden.
Mein Herz rast. Ich blicke mich um. Kein Auto und kein Mensch ist zu sehen. Nicht reden. Ich gehe auf den am Boden Liegenden zu. Es tut gut endlich handeln zu können. Ich trage den Mann zum Unterstand und setzte ihn auf eine der Plastikschalen. Er ist schwer. Keuchend blicke ich auf. Er blutet aus der Nase. Sein Blick bleibt leer. Seine Kleider sind vom Sturz etwas zerrissener als zuvor. Ein Zittern geht durch ihn durch, die Hände liegen in seinem Schoß. Die Finger aber zucken in einem stetigen Rhythmus. Ich setze mich neben ihn und lege eine Hand auf seine Schulter und starre so wie er auf die Hauswand gegenüber.
Wir.
Nein. Ich warte auf den nächsten Bus.
In 20 Minuten.
Ich werde dem Busfahrer Bescheid geben.
Ich werde hier bei ihm warten, bis jemand kommt.
Solange starre ich auf die Fassade.
Sie ist schon längst hinüber.