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Fliegen
"Weißt du, was das Schlimmste ist?"
"Dass der Trichter nicht auf das Marmeladenglas passt?"
"Auch. Also, das ist vielleicht momentan so ziemlich das Zweitschlimmste. Nein, das Schlimmste ist, dass wir nicht fliegen können."
"Wie jetzt?"
"Wir können nicht fliegen. Das muss dir doch aufgefallen sein."
"Also... also, erstens hatte ich noch nie das Bedürfnis dazu und zweitens kannst du fliegen. Wenn es auch nicht allzu elegant aussieht."
"Mach dich nicht lustig. Tiger können nicht fliegen, das weiß jeder."
"Das stimmt. Da du allerdings kein Tiger bist, spielt das für dich keine Rolle."
"Jaja... trampel du nur auf meinen Gefühlen rum..."
"Was denn? Ich kann nichts dafür, dass deine Mutter eine Fledermaus war... naja, und dein Vater auch."
"Und das macht mich jetzt gleich zu einem schlechten Tiger?"
"Nein, das macht dich zu überhaupt keinem Tiger. Und jetzt reich mir mal den Dosenöffner."
...
"Ich habs!"
"Du hast was?"
"Die Lösung."
"Das ist toll. Wirklich. Wofür denn?"
"Für unser Problem."
"Und?"
"Sieben!"
"Sieben?"
"Ja, sieben."
"Oh... Sieben ist gut..." Die Schildkröte blinzelte aufreizend langsam mit den Augen. "Glaub ich."
"Manchmal habe ich das Gefühl, du nimmst das hier nicht ernst. Es geht immerhin um die Weltherrschaft." Paul war kein Pinguin im herkömmlichen Sinne. Natürlich hatte er zwei Füße, einen Schnabel und zwei Flügel, die ihn ums Verrecken nicht in die Luft bringen wollten, er hatte ein sehr pinguinesques Schwarzweißmuster auf dem Rücken und ein unaussprechliches Faible für Fisch. Aber an Paul war dennoch einiges anders. Zum Beispiel war er wohl der einzige Pinguin überhaupt, der in wichtigen Momenten eine Lesebrille auf seinem Schnabel balancierte. Außerdem machten sich die meisten seiner Artgenossen nicht so besonders viel aus der Weltherrschaft. Eigentlich gibt es nicht viel, was einen normalen Pinguin noch weniger interessiert, als die Weltherrschaft.
Warum Paul sich ausgerechnet eine namenlose Schildkröte für die Rolle seines Assistenten ausgesucht hatte, war für einen Außenstehenden vermutlich ziemlich schwer zu verstehen, würde aber um einiges klarer werden, wenn man sich nur eine Sekunde in seine Gedankenwelt hineinversetzen könnte. Da dies aber aufgrund ihrer unbegreifbaren Komplexität unweigerlich zu einem überschäumenden Informationsoverkill und damit verbundenem Verlust der äußeren Hirnrinde führen würde, sollte man diesen Versuch tunlichst vermeiden. Paul hatte eine ziemlich skurrile Gedankenwelt, das muss als Information an dieser Stelle ausreichen.
"Wie kommst du eigentlich ausgerechnet auf sieben?", fragte die Schildkröte und deutete gemächlich auf die mit Pauls krakeliger Handschrift vollgekritzelte Wand. Der Pinguin hatte die letzten Wochen damit verbracht, unendliche Formeln auf seine Tafel zu schreiben und dann seinen Aktionsradius irgendwann auf die umliegenden Wände ausgedehnt. Wohin das Auge in diesem Raum auch blickte, überall grinsten einem endlose Zahlenkolonnen, finster ineinander verschachtelte Integrale und bestenfalls suboptimal aufgelöste Kettenbrüche entgegen. Nichts an diesem Konglomerat aus Mathematik und Irrsinn hätte vermuten lassen, dass der Vogel auch nur eine ansatzweise Ahnung davon gehabte hatte, von welcher Inspiration er da geleitet wurde. Aber der Schein trog - in Wirklichkeit hatte Paul ganz genau gewusst, was Sache war. Paul wusste immer ganz genau, was Sache war.
"Ich meine", fuhr die Schildkröte fort, "kein normal denkender Verstand käme auf den Gedanken, irgendwas aus diesen Formeln erkennen zu können. Und du hast sogar eine Lösung?"
"Ja. Sieh her..." Paul nahm ein Stück roter Kreide und strich einige der Zahlenkolonnen durch, umkringelte sie oder markierte sie mit kleinen Fußnoten. "Hier, du kannst das hier gegen das da drüben wegkürzen. Dann hast du dort noch ein indefinites Integral, das sich gegen null löst. Und dadurch wird dieser Ausdruck", er deutete wage auf die Wand schräg gegenüber, "zu null. Und weil null mal irgendwas immer null ist und dieser Teil hier von vornherein vernachlässigt werden kann, ergibt sich am Ende das hier."
"Drei plus vier?"
"Ja. Sieben. Ganz leicht, oder?"
"Und das bedeutet..."
"Das bedeutet, dass ich fliegen werde. Kannst du dir das vorstellen? Ich werde fliegen und die Welt auf dem Luftweg einnehmen."
"Luftweg. Klar."
"Genau! Der Plan ist geradezu sensationell simpel. Ich muss nur fliegen können. Und dazu..." Der Pinguin zog ein Foto aus irgendeiner Untiefe seines Federkleides "... brauchen wir das da."
"Was ist das?"
"Das ist der siebenläufige Zirkon der Facitation."
"Faci..."
"...tation, genau." Der Pinguin bemerkte den ratlosen Gesichtsausdruck seines Gegenübers. "Das ist das Gegenteil von Schwerkraft."
...
"Kann ich dich mal was fragen?"
"Nein, es macht dich nicht zu einem Tiger."
"Du weißt doch noch gar nicht, was ich wollte."
"Geht es darum, ob ein oranger Streifen dich zu einem Tiger machen würde?"
"Woher weißt du..."
"Du solltest wissen, dass es sinnlos ist, etwas hinter seinem Rücken verstecken zu wollen, das größer ist, als man selber. Und wenn man, sagen wir mal, zum Beispiel die Größe einer Fledermaus hat, dann gilt das auch für Farbtuben. Allerdings ist alleine der Versuch angesichts deiner Anatomie bewundernswert."
"Meine Anatomie ist bitte frei jeder Lächerlichkeit als gegeben hinzunehmen. Aber du hast gewonnen."
"Fein. Reichst du mir mal den Kanister?"
"Klar. Sag mal, kann ich dich noch was fragen? Das geht mir schon eine Weile im Kopf herum."
"Sicher."
"Warum bauen wir eigentlich dieses Ding? Ich meine, du bist ein Tiger."
"Und?"
"Naja, nehmen wir mal an, es würde tatsächlich ein schändlicher Aggressor kommen und versuchen, hier etwas zu stehlen. Könntest du nicht einfach losstürmen und ihn... also... naja, fressen oder so? Keine Ahnung, was ihr Tiger halt so macht normalerweise."
"Ich weiß ja nicht, was du für Gruselgeschichten gehört hast, aber wir Tiger sind sehr kultivierte Lebewesen. Ich zum Beispiel ziehe ein Glas Rotwein und eine nette Konversation über den Kategorischen Imperativ jederzeit einem blutgetränkten Festgelage in gedärmgeschwängerter Umgebung vor. Und darum die Maschine."
"Oh, ach so. Hast du Klebeband?"
"Hält die Regenrinne nicht am Bierdeckelintegrator?"
"Wenn du damit das Ding hier meinst, dann ja. Also nein."
"Verstehe. Hier, bitte schön, mein streifentechnisch benachteiligter Freund."
"Danke. Hey, pass auf, dass du den Schraubenzieher nicht aus der Verankerung stößt. Nachher fällt der runter, reißt ein Loch in den Gülleschleudertank und die ganze Suppe läuft uns in den Nanokonduktor."
"Oh, du hast Recht. Ich sollte echt besser aufpassen."
"Sag mal..."
"Ja?"
"Wie wäre es mit einem Tiger ehrenhalber?"
...
"Auf, auf und davon!"
"Wie jetzt?"
"Soll ich es nochmal sagen?"
"Bitte nicht."
"Na also. Können wir dann?"
"Ja, ist ja schon gut." Schwerfällig setzte sich die Schildkröte in Bewegung, warf im Vorbeigehen noch einen vergleichsweise kurzen Blick auf die Formeln an den Wänden, zuckte metaphorisch mit den Schultern und kaute gemächlich auf einem Stück Banane herum, das Paul ihr zwischenzeitlich in den Mund gesteckt hatte. Der Pinguin wiederum saß auf ihrem Panzer, versuchte, sich auf der harten und glatten Oberfläche irgendwie festzuhalten und malte sich schon einmal seinen Triumph aus.
Es war wirklich ein lächerlich einfacher Plan, der aber zugleich voller Details, verzwickter Situationen unberechenbarer Herausforderungen und schwieriger Probleme steckte. Am Anfang war es in der Tat nicht leicht gewesen, die vielen Aspekte unter einen Hut zu bringen, aber für einen Vogel mit seinem Gehirn war es dennoch eine machbare Aufgabe gewesen. Und mit der Lösung der Gleichung war ihm nun das vorletzte Puzzleteil in die Hände gefallen. Nur noch der Zirkon und dann könnte er endlich fliegen. Und für einen fliegenden Pinguin war es wirklich ein leichtes, sich die Welt Untertan zu machen.
"Du, Paul?"
"Ja?"
"Warum lachst du so komisch? Hab ich was Lustiges gesagt?"
"Nein... nein, manchmal lachen Genies nun mal manisch. Das liegt in der Natur der Sache."
"Ach so. Sag mal, wie lange werden wir wohl etwa brauchen, bis wir da sind? Ich meine, dir sollte aufgefallen sein, dass ich nicht der Schnellste bin."
"Natürlich ist mir das aufgefallen." Es war ihm nicht aufgefallen. Um genau zu sein, realisierte der Pinguin in diesem Moment den einzigen Schwachpunkt seines Plans. Bei all den Formeln, Zahlen, Planspielen und durchwachten teelosen Nächten war ihm dieser Aspekt tatsächlich irgendwie entglitten. "Wir... wir werden uns einfach ein Taxi nehmen."
"Ein Taxi."
"Ja, ein Taxi."
...
"Meinst du, wir können die Maschine mal ausprobieren?"
"Klar, warum nicht."
"Worauf wollen wir denn schießen? Ich hätte noch die Blutorange von heute Mittag."
"Hast du schon wieder nicht aufgegessen?"
"Hör mal, ich bin ein Tiger ehrenhalber und kein Vegetarier. Dass der Boss mir sowas vorsetzt, ist darüberhinaus eine tiefe Beleidigung meiner Fledermaushaftigkeit."
"Hättest du lieber eine Jungfrau?"
"Ich weiß ja nicht, was du so für Geschichten gehört hast, aber wir Fledermäuse sind sehr kultivierte Lebewesen. Ich zum Beispiel ziehe ein wohl ambientiertes Dinner bei Kerzenschein in netter Begleitung jederzeit einem in schattigen Gassen durchgeführten Biss in irgendwelche Kehlen vor. Jungfrauen gehören übrigens in den Bereich der Legenden. Ich beiße höchstens mal ein Meerschweinchen oder kleine Katzen. Die krieg ich auch wenigstens alle."
"Ja, ich kanns auch nicht haben, wenn man die Hälfte hinterher wegschmeißen muss, nur weil beim besten Willen nichts mehr reingeht. Naja, dann lass uns die Blutorange nehmen."
"Warte, ich leg sie in den Zielbereich."
"Sehr schön. Ich drück dann mal ab, okay?"
"Ja, drück dann mal ab."
"Ich hab abgedrückt."
"Wirklich?"
"Ja."
"Ist nichts passiert."
"Vielleicht stimmt etwas mit dem subimplementierten Enteogenerator nicht. Eventuell hätten wir die Tupperdose doch vorher abstauben sollen. Ich meine, die Staubpartikel könn... oh, jetzt ist es doch passiert."
"Das ist ein ziemlich verwirrendes Ergebnis, meinst du nicht?"
"Naja, eigentlich ist genau das passiert, was in der Gebrauchsanweisung stand."
"Ja, natürlich hast du Re... oh, da kommt jemand."
"Bist du sicher? Ich hör nichts."
"Hey, wer von uns ist die Fledermaus? Sonar, schon mal davon gehört?"
...
"So, Jungs, dat macht dann zwo siebzich, ne."
"Hast du Kleingeld?" Paul blickte die Schildkröte fragend an, doch die schüttelte den Kopf. "Na, was solls. Hier hast du drei. Stimmt so, aber nicht alles versaufen."
"Hömma, du Schollenpuper, ich weiß ja nich, was du so Geschichten kennst, aber wir Schafe sind hochkul... hochklu... ho... ach, Kacke. Aber jedenfalls sind wa jetz da, ne." Das Schaf ging in die Knie und ließ seine beiden Passagiere über die von Weitem ziemlich gewagt wirkende Konstruktion aus Gurten, Rampen und kleinen Getränkehaltern von seinem Rücken absteigen.
"So, hier wird also der siebenläufige Zirkon der Facitation aufbewahrt", begann Paul, nachdem das Schaf gegangen war, um sich irgendwo heftig einen mit Brennesseltee hinter die Binde zu kippen. Denn, was auch immer Paul für Geschichten über Schafe gehört hatte, sie entsprachen vollstens der Wahrheit.
"Hier, nur noch kurz um die Ecke und schon sind wir... ach, du Scheiße..." Der Pinguin blieb wie angewurzelt stehen und blickte starr auf den Eingang des Museums.
"Was ist denn? Haben sie etwa geschlossen?"
"Nein, schlimmer. Sieh nur."
"Oh, da sitzen ja zwei Tiger auf diesem Ding."
"Ich glaube, das eine ist eher eine Fledermaus."
"Aber sie hat Streifen."
"Künstlich. Siehst du die Farbtube da?"
"Nein. Wo denn?"
"Neben dem Nanokonduktor." Paul deutete auf einen der vertrackteren Teile der Maschine.
"Meinst du das Ding, wo die Gülle reinläuft?"
"Ja, genau."
"Oh ja, ich seh die Tube. Sag mal, was liegt denn da vor der Maschine? Das ist so klein, ich kanns kaum erkennen."
"Sieht aus wie... sieht aus..." Und als in diesem Moment der Tiger, der echte Tiger, den Auslöser der Maschine betätigte, erfüllte er damit unbewusst den letzten Teil von Pauls Plan. Jetzt konnte der Pinguin fliegen. Wenn auch nicht ganz so, wie er es sich vermutlich gewünscht hatte.
...
"Sie funktioniert."
"Ja, sie funktioniert tatsächlich."
"Und du dachtest erst, das wäre Scharlatanerie."
"Naja, der Prospekt klang ja auch komisch, oder? Ich meine, Maschine, die alles und jeden in eine Fliege verwandelt, also bitte..."
"Ja. Aber du must zugeben, dass es eine gute Idee war, es zu probieren."
"Sag mal... meinst du, die haben auch eine Maschine, die alles und jeden in einen Tiger verwandelt?"