Flimmern
Plötzlich war es dunkel. Die Lampe, der Fernseher und der Computer stellten ihren Dienst ein. Das sonst obligatorische Gewirr aus Computerbrummen, dem leisen Fiepen des Dimmers und der Klangkulisse des Fernsehers verschwand in einem Geräusch, das an eine eigentümliche Mischung aus Saugen und Knacken erinnerte. Als hätte jemand das Leben aus der Einzimmerwohnung gesogen und die Tür zugeknallt, das es ja nicht zurückfände. Johannes erschrak für einen Moment, fasste sich dann aber, versuchte ohne Erfolg das Licht im Flur anzuschalten und tappte sich bis zur Haustür durch. Er meinte Geräusche draußen gehört zu haben und schaute durch den Türspion. Er sah nur Schwarz. Er öffnete den Sicherungskasten neben der Haustür und erfühlte, dass alle Sicherungen oben wahren. Das ganze Haus musste unter Stromausfall leiden. Er ging zum Küchen-Fenster, stieß sich auf dem Weg den Fuß am leeren Bierkasten, fluchte und sah auch auf dem kleinen Platz vor dem Haus nur Dunkelheit. Selbst die Straßenlaternen hatten ihren Geist aufgegeben, und die Wohnungen im Haus schräg-gegenüber konnte er erst mühsam ausmachen, als sich seine Augen so langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Johannes starrte ins Nichts. Ein Gefühl von Leere machte sich in ihm breit. Ein inneres Vakuum zerrte an seinen Eingeweiden. Johannes überkam eine penetrante Form der Furcht. Sein Problem war nicht die Dunkelheit an sich. Ihr war mit Kerzen leicht beizukommen. Doch wie sollte er sich ohne Strom ablenken?
Seit zwei Wochen machte er nichts anderes. Denn seit zwei Wochen war sie weg. Er sagte ihr damals, dass das alles keinen Sinn mehr mache. Man sich gegenseitig nur noch anöde, und die Perspektive auf eine glückliche Zukunft gleich null wäre. Sie weinte, bettelte und beteuerte, dass es sich doch gebessert habe. Er hielt es in der Wohnung nicht mehr aus, verschwand für ein paar Stunden. Als er zurückkam, war sie weg. Seitdem war sie noch dreimal gekommen, um Sachen aus seiner Wohnung abzuholen. Sie redeten bei den Aufeinadertreffen nur das Nötigste. Beiden flossen bei jedem Dialog Tränen aus den Augen. Johannes fühlte einen unerträglichen Druck in seinem Kopf, wenn er sie packen sah, sein Hals war wie zugeschnürt. Er konnte kaum reden, versteckte sich meist im Bad. Sie wohne jetzt bei den Eltern bis sie was Neues habe, und natürlich ginge es ihr da besser. „Bestimmt besser als dir. Aber Du wolltest es ja so. Ich komm noch einmal, dann müsste ich alles haben. Tschö!“, waren ihre letzten Worte beim Besuch vor drei Tagen. Es folgte noch eine SMS „Wenn ich unfair war, tut mir leid. Wollte dich nicht verletzen. Leb wohl.“ Als Johannes die Worte las, begann nicht nur der Druck unter der Schädeldecke zuzunehmen und der Hals sich zu verkrampfen, auch sämtliche Bauch- und Atem-Hilfsmuskeln zogen sich für Sekunden zusammen und pressten Tränen aus seinen Augen. „Hör auf zu jammern, du wolltest es so“, redete er sich ein, doch es half nichts. In solchen Momenten gewannen die Gedanken, das Bewusstsein der selbstverschuldeten Isolation und die Angst vor ganz Alltäglichem.
So machte er seit zwei Wochen nichts anderes als sich berieseln zu lassen. Der Fernseher lief nahezu 24 Stunden am Tag und in der Nacht. Der Computer war kaum einen Moment aus. Johannes hatte es anfangs mit Alkohol versucht, doch merkte schnell, dass Ethanol viel weniger geeignet war, Gedanken und Ängste zu verdrängen als das heilsame Flimmern, das von Bildröhren ausging. Besonders in den Stunden vor dem Einschlafen war das Flimmern unentbehrlich, denn Dunkelheit und Ruhe schienen idealer Nährboden für die verfluchten Hirngespinste zu sein. Nichts anderes waren Gedanken für Johannes im Moment. Nahezu zwangsläufig führte alles Gedachte zu Angst. Die Angst führte ohne Umwege zur Panik, die sich auch jetzt anzukündigen drohte.
Mehrere Minuten musste Johannes regungslos am Fenster gestanden haben, er sammelte sich und fing an, Kerzen zu suchen, um wenigstens nicht im Dunkeln sitzen zu müssen, während er auf Strom und damit auf das Flimmern wartete. Die beiden Kerzenleuchter am Bett hatte sie mitgenommen. Er fand welche im Schrank, nahm Alufolie als Wachs-Tropfschutz und verteilte sie in der Wohnung. Dann stand er da. „Und jetzt?!“. Der Druck stieg in seinem Schädel, der Hals verkrampfte sich langsam. „Lesen“, kam ihm kurz in den Kopf. Doch er wusste genau, dass es für ihn im Momente nichts schlimmeres gab, als lesen zu müssen. Das Wahrgenommene drängte sich hierbei zu wenig in den Vordergrund und die zum Lesen nötige Ruhe brachte ihn nur auf Gedanken, die er gerade vermeiden wollte. Es lag noch ein ganzer Stapel von Büchern auf seinem Schreibtisch, die er hätte durcharbeiten müssen. Doch er rührte sie nicht an. Das Semester konnte er eh abschreiben.
Johannes ging zur Spüle, stellte eine Kerze neben sie ließ das mit Geschirr gefüllte Becken vollaufen und kippte Spülmittel rein. Er fing an, den ersten Teller mit dem Spülschwamm zu bearbeiten, wollte ihn unter klarem Wasser abspülen und merkte, dass nur kaltes Wasser aus dem Hahn lief. Auch der Boiler war stromlos, der letzte Rest an Warmwasser war im Becken. Er legte den Teller zurück ins Becken und fing an, in der Wohnung auf und ab zu gehen, setzte sich, wippte nervös mit dem rechten Bein und schaute sich im Halbdunkel des Kerzenscheins um. Er nahm sein Handy – es war mittlerweile nach zwei – scrollte durchs Telefonbuch, las noch mal ihre letzte SMS, stand auf und nahm sich die Klamotten vom Schreibtischstuhl und zog sich an. „Ich halt es hier nicht aus. Ich muss weg“, murmelte Johannes, atmete kurz und schwer und ging zur Haustür. Plötzlich ein Knacken. Licht, zunächst gleißend, dann wie immer, kalt. Johannes schaute sich um. Sah sich im Flurspiegel. Seine roten, geschwollenen Augen, sein zerzaustes Haar und den verkehrtherum angezogenen Pullover. Erschrak einen Augenblick über sich selbst, über das, was er im Spiegel sah und über sein Verhalten. „Krank“, diagnostizierte er kurz. Doch die blitzartigen Gedanken, die mehr Eindrücke waren als ausformulierte Wahrnehmungen, wurden schnell verdrängt. Aus dem Schlafzimmer hörte Johannes Geräusche, Brummen, Stimmen. Flimmern erhellte den Raum. Der Fernseher lief.