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Flip-Flops und Jesussandalen
Flip-Flops und Jesussandalen
Etwas hatte sich in der Straße verändert.
Ich war auf dem Weg zur Arbeit Richtung Forschungsinstitut und mit den Gedanken bei der letzten Versuchsreihe, die heute ihren Abschluss finden sollte.
Ich nahm die Veränderung unbewusst wahr. Es war ein vages Gefühl und hätte mich jemand gefragt, ich hätte es nicht benennen können. Im Laufe des Tages vergaß ich es. Erst auf dem Nachhauseweg am späten Nachmittag fiel es mir wieder ein.
Ich bemerkte den Menschenauflauf auf der anderen Straßenseite. Beim Überqueren der Straße sah ich, dass sich über Nacht der Secondhandladen in einen Schuhladen verwandelt hatte.
Das also war die Veränderung, ganz banal.
Ich stellte mich zu den anderen Leuten und schaute in die Auslage. Der neue Inhaber hatte ein originelles Schaufenster gestaltet, indem er Schuhe aus den letzten 30 Jahren in seine Dekoration einbezog. Mich interessierte aber hauptsächlich, ob auch Ledertaschen im Angebot waren. Der Geruch von neuem, ungebrauchtem Leder hat mich von jeher fasziniert.
Die Leute vor dem Fenster diskutierten, zeigten auf einzelne Schuhmodelle und schmunzelten.
„Ich krieg mich nicht ein, meine Schuhe aus der Tanzstunde!“ lachte eine Frau laut auf und zeigte auf weiße Pumps mit einer Schleife.
„Die trug meine Freundin auch zum Tanzstundenball!“ rief daraufhin eine andere Frau.
Ich amüsierte mich über die Leute, schaute in die Auslage und entdeckte rechts außen rote Kinderschuhe, ähnlich denen, die ich zum Schulanfang getragen hatte. Mein Herz begann schneller zu schlagen, mir wurde warm. Eine Reihe tiefer standen gelbe, vietnamesische Badelatschen neben braunen Jesussandalen. Ich erinnerte mich an beide Modelle. Mein Herz schlug noch schneller.
„Das gibt es doch gar nicht, so viele Zufälle?“ murmelte ich vor mich hin und beschloss, in das Cafe gegenüber zu gehen, um etwas zu trinken.
Am Nebentisch saß eine Gruppe Leute, die sich laut unterhielten. Eine der Frauen kam mir bekannt vor.
Ich bestellte einen Kaffee und tauchte in meine Erinnerungen ein.
„Möchten Sie ein Stück Kuchen zu Ihrem Kaffee?“ unterbrach die Kellnerin meinen Gedankenfluss.
„Nein, danke, ich mag nichts Süßes!“ antwortete ich schnell.
Mir war natürlich bewusst, dass Rückblicke Perspektiven sind, denen man nicht trauen kann. An die Zeiten vor dem vierten bzw. fünften Lebensjahr erinnert man sich so gut wie gar nicht. Und auch die Erinnerungen an die ersten Schuljahre sind sehr selektiv und unvollständig oder stimmen gar nicht.
Und doch, überlegte ich, wenn ich an meine Kindheit denke, dann sehe ich mich in Jesussandalen oder den vietnamesischen Badelatschen durch die Gegend laufen und- es war immer warm!
Die Badelatschen waren wieder ganz aktuell und hießen jetzt Flip-Flops. Die Modelle in meiner Kindheit waren aus Kautschuk und einfarbig. Wenn der Sommer vorüber war, zeichneten sich alle fünf Zehen und auch die Stellen, wo Ballen und Fersen aufsaßen, ab. In manchen Jahren waren diese Stellen fast durchsichtig. Meine fünf Geschwister und ich bekamen jedes Jahr neue Badelatschen und zusätzlich ein Paar Jesussandalen in schwarz oder braun. Das waren einfache Sandalen, die eine Ledersohle, einen Riemen aus Leder über die Zehen und einen um die Knöchel mit jeweils einer kleinen verstellbaren Schnalle hatten. Sie weiteten sich und mussten mehrfach enger gestellt werden.
„Wieso heißen die Jesussandalen?“ fragte ich meinen Bruder.
„Solche Sandalen hat Jesus getragen!“ meinte er zu mir.
„Und wer ist Jesus?“
„Das ist der, der alles überwacht!“
„Woher willst du denn das wissen? Hast du ihn gesehen?“
„Nein, ich nicht, aber Peter hat ihn gesehen.“ antwortete er und versuchte, nicht laut loszulachen.
Ich blickte damals ungläubig auf meinen Bruder und überlegte, ob ich nicht Peter fragen sollte. Aber der sah mich als lästiges Anhängsel von seinem Freund und schupste mich des öfteren. Wenn er bei uns klingelte und Henry abholte, rief meine Mutter meist:
„Nehmt die Vera!“
Mein Bruder war zwei Jahre älter als ich und ging schon in die zweite Klasse.
Warum starren die Leute vom Nachbartisch ständig zu mir her? Das ist ja schon auffällig.
„...meinst du, wie viele Leute ich....“ hörte ich die Frau in der Mitte sagen, verstand aber den Rest des Satzes nicht, da sie plötzlich den Kopf wegdrehte und in die andere Richtung sprach. Ich überließ mich wieder meinen Gedanken.
Feste Schuhe gab es im Sommer keine, erinnerte ich mich.
Wozu auch? Wir wohnten auf dem Dorf. Wenn es regnete, blieben wir zu Hause bzw. trugen die Badelatschen. Wir wohnten in einer Siedlung für Armeeangehörige. Unser Vater war bei der Armee, unsere Mutter Hausfrau, die nebenbei für fremde Leute nähte. Mein Vater hatte die Angewohnheit, regelmäßig in die Kneipe zu gehen.
„Der ist wieder auf Sauftour!“ präzisierte mein Bruder die Auskunft, wenn einer fragte, wo Vater sei. Das Geld war immer knapp bei uns.
Im Herbst bekamen alle neue, feste Schuhe, die bis zum Frühjahr halten mussten. Dann waren sie meist durchgelaufen bzw. die Sohle hatte sich gelöst. Als Kind ging es nur darum, wer die kaputtesten Schuhe hatte und vor allem, wo sie kaputt waren!
„Hast du die Schuhe von Beate gesehen? Da guckt der halbe Zeh raus!“ kreischte einer der Brüder, als ich in der vierten Klasse war und alle lachten sich halbtot. Pech war, wenn man über Winter wuchs, denn ein zweites Paar gab es nicht, das Geld war einfach nicht da. Komischerweise wuchsen die Schuhe aber immer mit.
Schulanfang bedeutete einmal Kleidung zusätzlich.
Meine Mutter nähte mir ein blau-weiß gemustertes Kleid mit einem weiten Rock und am Kragen ein schwarzes Samtband. Ich mochte es und konnte kaum erwarten, dass es fertig wurde.
Dazu sollte ich die passenden Schuhe bekommen. Wir liefen ins Dorf. Es gab nur ein Schuhgeschäft, das am Dorfrand lag. Wir schauten in das Schaufenster und meine Mutter zeigte auf weiße Schuhe. Die hätten sehr gut zu dem Kleid gepasst.
Da ich bereits mit sechs Jahren alleine zum Einkaufen geschickt wurde, kannte ich die Auslagen in dem Schuhgeschäft und hatte mir meine Schuhe längst ausgeguckt. Sie waren rot, hatten eine kleine Lasche, durch die Schnürsenkel gezogen wurden. Ich hatte mich den ganzen langen Sommer nach diesen Schuhen verzehrt. Nichts hätte mich von diesen Schuhen abbringen können.
Wir betraten das Geschäft und meine Mutter fragte nach den weißen Schuhen.
Ich probierte sie an.
„Und? Wie passen sie?“ hörte ich die Mutter fragen.
Sie passten gut. Aber ich wollte sie nicht. Ich wollte die roten Schuhe.
„ Nein“, meinte ich „Die passen nicht, die drücken !“
„Das kann doch gar nicht sein, stell dich nicht so an!“ sagte meine Mutter ungeduldig.
„Die passen nicht!“, behauptete ich und starrte sie an.
„Zieh sie aus!“, sagte die Mutter jetzt ungehalten und sprach mit dem Ladeninhaber, Herrn Wilcke. Er kannte mich. Wir hatten uns ab und an unterhalten, wenn ich vor dem Schaufenster und er zufällig draußen stand.
„Welche möchtest du denn?“ fragte er und zwinkerte mir zu. Stumm zeigte ich auf die roten Schuhe. Meine Mutter sagte, dass sie nicht zu dem Kleid passen.
Es war mir gleichgültig, ob sie dazu passten oder nicht.
Ich wollte die roten Schuhe.
„Los, probier sie an!“ sagte die Mutter unwirsch.
Ich zog sie an und merkte, sie waren etwas zu klein. Herr Wilcke hatte vorher schon erwähnt, dass es das letzte Paar sei.
„Die passen richtig gut!“ strahlte ich meine Mutter an.
Sie guckte skeptisch, sagte aber nichts weiter. Sie meinte nur, dass ich nicht denken soll, es gäbe noch ein Paar Schuhe.
Das gibt es doch nicht! Wieso schauen die Leute vom Nebentisch mich ständig an? Am besten wird es sein, ich frage sie einfach. Fünf Minuten warte ich noch.
Am Tage der Einschulung war ich total aufgeregt, achtete nicht auf die Schuhe. Als ich mit meiner Schultüte, die zur Hälfte mit Papier, die andere Hälfte mit Erdnüssen und nur oben unter dem Tüll, für die Leute sichtbar, mit einigen Süßigkeiten gefüllt war, nach Hause kam, fielen meine Geschwister sofort über den Inhalt her und aßen fast alles auf. Ich war mit der Federmappe, dem Ranzen und den Schulbüchern beschäftigt. Es roch wundervoll nach neuem Leder. Ich weiß noch, dass ich immer wieder die Federtasche an die Nase hielt und daran roch.
Als ich endlich mitbekam, was mit meiner Schultüte geschah, schrie ich wie am Spieß, stürzte auf meine Geschwister und schlug drauflos. Meine Mutter packte meinen Arm und zerrte mich zurück. Ich wehrte mich. Daraufhin gab sie mir ein schallende Ohrfeige. Ich war augenblicklich still und schaute sie an. Ich verstand sie nicht. Ich begriff es damals nicht und auch heute noch nicht.
Ich aß nichts von den Süßigkeiten aus meiner Schultüte.
Am nächsten Tag begann der Unterricht. Der Schulweg betrug etwa eine halbe Stunde, da die Siedlung außerhalb des Ortes lag. Die Schuhe drückten relativ schnell. Ich humpelte, sobald ich aus dem Blickfeld meiner Mutter war. Mein Bruder dachte, der Weg sei zu anstrengend für mich.
„Bist du noch ein Baby und schaffst nicht mal den Schulweg?“ lachten er und sein Freund, liefen aber doch etwas langsamer.
Die Fersen waren bald blutig und ich konnte es nicht mehr verheimlichen, dass die Schuhe nicht passten. Nach einer Woche waren die Schmerzen so groß, dass wir einen Arzt aufsuchten.
„Habe ich es nicht gleich gesagt, dass diese Schuhe nicht passen? Das habe ich sofort gesehen! Die weißen Schuhe waren genau richtig! Aber du musst ja immer deinen Dickkopf durchsetzen!“ totterte meine Mutter unentwegt.
Auf Grund der schlimmen Entzündungen wurde ich für zwei Tage in ein Krankenhaus eingeliefert. Nach der Entlassung mussten mein Bruder und sein Freund mich mit einem Handwagen in die Schule fahren. Sie fuhren durch jedes Schlagloch und sehr schnell, um ja vor allen anderen Schulkameraden in der Schule zu sein.
Ich trug wieder meine Jesussandalen.
„Sag mal, bist du nicht Vera Winter und wohntest früher als Kind in Bromnitz in der Schumannstraße?“ fragt eine der Frauen vom Nebentisch. Wenn sie weiterhin so gestarrt hätten, hätte ich jetzt etwas gesagt.
Die Frau hat kurzes, braunes Haar und ein schmales Gesicht. Ich mustere sie aufmerksam, weiß, dass ich sie irgendwoher kenne, kann es aber nicht zuordnen. Wir müssen in etwa gleichaltrig sein.
„Ja, die bin ich. Bis zur siebten Klasse wohnte ich auf dem Dorf. Nach der Scheidung meiner Eltern zogen wir mit meiner Mutter in die Stadt. Warum? Kennen wir uns?“
„Ich ging mit deinem Bruder Henry in eine Klasse. Mein Mann und ich haben heute dieses Geschäft eröffnet. Weißt du, dass die roten Schuhe in der zweiten Reihe von unten deine Schuhe vom Schulanfang sind?“
„Wie? Meine Schuhe? Das sind meine Schuhe, die ich zum Schulanfang getragen habe?“
„Ja, genau die. Ich treffe mich regelmäßig mit deinem Bruder. Ihr ward ja so ein Horde Kinder zu Hause und da habe ich ihn nach Schuhen von früher gefragt. Deine Mutter hatte die roten Schuhe aufbewahrt.“
„Meine Mutter? Nee, das glaub ich nicht. Sie war doch völlig gegen diese Schuhe? Als ich die zwei Tage im Krankenhaus war, hat sie mich nicht einmal besucht. Und sie hat diese Schuhe aufgehoben? Das überrascht mich jetzt völlig.“
„Ist aber so. Komm mit, ich zeige dir die braunen Stellen vom eingetrocknetem Blut im Fersenbreich der Schuhe. Dein Bruder hat mir die Geschichte vom Schulanfang erzählt.“
Was für ein Tag! Erst die geglückte Versuchsreihe heute morgen und nun diese Schuhgeschichte.
Seltsam, bis heute esse ich keine Süßigkeiten und meide Schuhläden. Ich habe nie über die Gründe nachgedacht. Dabei ist es so einfach!
Ich muss unbedingt meine Mutter besuchen. Wann war ich das letzte Mal da? Ich weiß es nicht. Unser Verhältnis war immer kompliziert.
„Du bist Marina Walbusch, dein Mädchenname war Walbusch, stimmt’s? Ich erinnere mich jetzt, dass Henry von dir gesprochen hat. Ja, ich würde sie gern noch einmal anschauen und anfassen, die roten Schuhe. Am liebsten sofort!“
„Gut, dann komm mit!“