Mitglied
- Beitritt
- 24.08.2020
- Beiträge
- 197
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Flip und das ungesühnte Verbrechen
Warum müssen die Kinder auf dem Karussell immer essen? Es ist mühsam, die Lebkuchenkrümel, Liebesperlen und Brezelreste aus den kleinen Fahrzeugen zu entfernen. Flip schmerzt der Rücken vom Bücken und Saubermachen. Er räumt Besen und Eimer auf, verstaut beides unter dem Kassenwagen. Gleich würde die Chefin kommen und die Musik einschalten.
„Machst du mir meine Klappe auf?“, hört er die Nachbarin rufen.
Seit Jahren steht die Hütte von Gerda neben dem Karussell. Sie verkauft Schmuck für ihren Sohn. Jede Woche kommt er, um sich von seiner Mutter die Einnahmen abzuholen. Flip denkt, dass Gerda mit ihren achtundsiebzig Jahren besser zu Hause bleiben sollte, anstatt auf dem Weihnachtsmarkt zu frieren.
„Zu Hause da sterben die Leut!“, ist ihre Antwort, wenn er sie darauf anspricht. Er kennt den wahren Grund. Ihr missratener Sohn Tom, der ständig wegen irgendwelcher Dummheiten im Knast sitzt. Flip zieht an der Holzklappe und drückt sie nach oben. Gerda sichert von innen mit einem Metallriegel die Gasfeder. So kann die Klappe auch bei Sturm und starkem Schneefall nicht zufallen.
„Danke! Was würde ich nur ohne dich machen?“ Die alte Dame lächelt ihn an.
Aus den Lautsprechern ist Rolf Zuckowski mit „in der Weihnachtsbäckerei“ zu hören und das Kinderkarussell dreht eine Proberunde.
„Gute Geschäfte Gerda. Bis später!“
Schnell läuft Flip die paar Schritte zurück. Seine Chefin kann wütend werden, wenn das Karussell sich dreht und er nicht da ist. Es gehört zu seinen Aufgaben aufzupassen, dass während der Fahrt kein Kind ins Karussell läuft.
Mit einem Blick erfasst er den Weihnachtsmarkt. Außer den Markthändlern ist niemand auf dem Platz. Er kann sich noch in die Kasse setzen und etwas aufwärmen. In der kleinen Kajüte haben gerade mal zwei Stühle und der Ölradiator Platz. „Noch nichts los?“ Ein Lächeln begrüßt ihn.
„Nein, noch keiner da.“ Flip setzt sich und beobachtet seine Chefin, die Fahrchips und Wechselgeld herrichtet. Sie wird alt, wie die Frauen in meinem Heimatdorf, denkt er, mit grauen Haaren, fülligen Hüften und Falten. So ganz anders als die Schaustellerfrauen, denen er sonst begegnet. Mit gefärbten Haaren und viel Make-up versuchen sie jünger auszusehen. Sein Blick bleibt an ihrer rechten Hand mit den beiden Eheringen hängen. Nach einem mysteriösen Sturz war ihr Mann vor mehreren Jahren gestorben. Der Schausteller hatte an der Dachfront Lichterkappen ausgewechselt. Beim Heruntersteigen war er gestürzt. Zeugen berichteten von einem Mann, der die Leiter umgeworfen hatte. Die Polizei ermittelte wochenlang auch bei den Kollegen. Ohne Erfolg.
Nach dem Tod ihres Mannes brauchte Clara einen Mitarbeiter. Das war gar nicht so einfach, denn junge Leute zum Mitreisen fand man nur schwer. Sie wandte sich an das Johanneshaus, einer sozialen Übergangseinrichtung für obdachlose Männer. Der Leiter der Einrichtung, ein Pfarrer und Streetworker, schlug ihr vor, Flip zu fragen. Die anderen wären entweder zu nass oder schon zu lange auf der Straße gewesen. Bei ihm könnte es sein, dass er einer geregelten Arbeit nachgehen kann.
Flip war mit siebzehn von zu Hause abgehauen und eineinhalb Jahre obdachlos gewesen. „Er ist noch nicht von Alkohol und Gewalt geprägt, und er hat kein Drogenproblem“, hatte der Leiter erklärt.
Sie bereute es nicht. Von April bis Dezember reiste er mit ihr von Stadt zu Stadt.
„Einen Fahrchip bitte.“ Vor der Kasse steht die erste Kundin.
Es dauert nicht lange und das Karussell ist halb voll. Flip geht aus der Kasse, um die Chips einzusammeln.
Er fängt mit dem Feuerwehrauto an. Drei von vier Sitzplätzen sind belegt.
„Fahrchip bitte.“ Flip streckt die Hand aus. Ein Junge, wie ein Wesen aus einer anderen Welt, hebt den Kopf. Er kann die Augen des Kindes nicht sehen. Die Lider verdecken bis auf einen Schlitz die Pupillen. Sein Gesicht ist nach innen gedrückt. Das Händchen, das Flip den Fahrchip hinhält, ist an den Schultern angewachsen. Ein Durcheinander von winzigen Fingern. Er lächelt das Kind an und nimmt den Chip.
„Dankeschön.“
„Bitte.“
Das Kind versucht nach der Feuerwehrglocke zu greifen, doch die Entfernung ist zu groß. Flip zeigt auf einen roten Knopf neben dem Lenkrad.
„Schau, hier kannst du hupen.“
Die schmalen Lippen deuten ein Lächeln an und der Junge bückt sich zu der Hupe, um es selbst zu versuchen. Tatütata, immer wieder drückt er.
Ein anderer Junge will sich neben ihn setzen. „Die Feuerwehr ist besetzt.“ Energisch zieht die Mutter den Buben weg. „Ich will auch hupen, Mama!“ Der Kleine beginnt zu weinen. Sie setzt ihn in die Lokomotive.
Flip holt auch diesen Fahrchip.
Er schaut sich um, will noch jemand mitfahren? Sein Blick fällt auf eine junge Frau mit Sommersprossen, auseinanderstehenden Zähnen und langen Haaren, ein kindliches Gesicht. Sie erinnert ihn an Pippi Langstrumpf. Die Schnürsenkel ihrer ungebundenen Turnschuhe baumeln bei jedem Schritt hin und her. An den Händen hält sie zwei kleine Jungs.
Der Größere von beiden steigt zuerst aufs Karussell, will sich auf das Fahrrad setzen.
Unbeholfen versucht er zunächst, mit dem rechten Fuß auf dem Pedal den Sattel zu erreichen. Hilflos und resigniert gibt er auf. Bleibt vor dem Rad stehen.
„Mama“, ruft er ängstlich.
Von der Pippi-Langstrumpf-Frau kommt keine Reaktion.
„Mama!“ schreit er.
„Steig woanders auf!“, befiehlt die Mutter.
„Schau, du musst es so machen.“ Flip nimmt den linken Fuß und setzt ihn auf das Pedal. „Und jetzt kannst du auf den Sattel steigen. Deinen Fahrchip bitte.“
Der kleinere Junge hat inzwischen in einem Auto Platz genommen. Mit großen Augen schaut ihn das schmächtige Kind ängstlich an. Als Flip die Hand nach dem Fahrchip ausstreckt, drückt sich der Junge in den Sitz des Buggys. „Gibst du mir das?“ Er deutet auf den Fahrschein. Der Kopf des Kleinen senkt sich, schaut auf das rote Ding zwischen seinen Fingern. Langsam zieht Flip die Fahrkarte aus der verkrampften Hand.
Ein Signal ertönt und die Fahrt beginnt.
Seine Chefin nimmt die eingesammelten Chips entgegen.
Flip beobachtet die Fahrgäste. Er sieht den Jungen im Buggy, der teilnahmslos bleibt. Kein Lenkrad wird gedreht, die Hupe bleibt stumm.
Flip springt auf, kniet sich neben das Auto. Drückt auf den roten Knopf. „Da kannst du das Auto sprechen lassen.“ Heiße Kiste hier, ertönt es aus dem Lautsprecher. „Hast du das gehört?“ Flip lächelt den Jungen an. „Versuch du es einmal, ob es bei dir auch funktioniert!“
Ganz langsam nähert sich der Finger dem Knopf. Heiße Kiste hier.
„Toll gemacht.“ Flip nimmt die Hand des Kleinen und führt sie zum Lenkrad. „So, und jetzt fährst du alleine. Hupen nicht vergessen.“
Er springt wieder ab.
Tatütata! Heiße Kiste hier! Tatü… Heiße Kiste hier! Flip lächelt.
Es ist Feierabend. Flip hilft Gerda noch beim Schließen ihrer Hütte. Heute würde er nicht wie sonst zu seinem Wohnwagen fahren, sondern in die benachbarte Großstadt. Selten verabredet er sich mit seinen Kollegen von den anderen Kirmesgeschäften. Die Jungs sah Flip nur, wenn sie auf einem der großen Volksfeste standen. Das Treffen mit den Dreien war eine spontane WhatsApp-Verabredung gewesen, um sich in einer Dartkneipe zu treffen. Flip steigt in den Opel. Er liebt es, Auto zu fahren, Gas zu geben. Ein Vergnügen, dass er seiner Chefin verdankt.
„Es ist dein Firmenwagen“, hatte sie lächelnd zu ihm gesagt. Wärme steigt in ihm auf und er erinnert sich an den Tag vor fünf Jahren, als er das warme Gefühl zum ersten Mal spürte. Die Chefin hatte ihn vom Johanneshaus abgeholt. Eine freundliche Frau mit einem großen Jeep.
„Hallo, ich bin Clara Winterstett und wenn Sie damit einverstanden sind, nehme ich Sie jetzt mit zu Ihrem neuen Arbeitsplatz.“
Nur weg hier, von den alten Säufern, den täglichen Streitereien, dem Geruch von verpissten Hosen und ungewaschenen Körpern. Im Schlafsaal schnarchte ständig einer oder war auf Entzug und halluzinierte. Viele hatten Alpträume und schrien im Schlaf. Doch schlimmer war das Leben auf der Straße gewesen. Da war es ums Überleben gegangen, von einem Tag zum nächsten.
Auf der Fahrt zu seinem ersten Arbeitsplatz erklärte ihm seine Chefin, was von nun an zu seinen Aufgaben gehörte. Karussell aufbauen, putzen, Chips einsammeln … und du wirst den Führerschein machen, beendete sie die Aufzählung. Mit großen Augen hatte er sie angeschaut. „Ich habe doch gar kein Geld.“
„Das lass mal meine Sorge sein. Ich brauche jemanden, der die Transporte fährt und damit werden wir deinen Führerschein verrechnen, wenn du einverstanden bist.“
Und wie er einverstanden war.
Als Flip am Abend den kleinen Wohnwagen bezog, konnte er sein Glück kaum fassen. Alles war so sauber. Ein Tisch mit einer Polstereckbank. Ein abtrennbarer Schlafraum. Eine Nasszelle mit Dusche und WC. Ein Kleiderschrank, in den er seine Habseligkeiten einräumte und sogar ein Fernseher. Wasserkocher, Mikrowelle. Die Schränke waren eingeräumt mit Tassen, Tellern und Töpfen, Besteck und alles, was man sonst noch brauchte, um auf dem Gasherd zu kochen. Im Kühlschrank fand er Wurst, Käse und Margarine.
Noch nie in seinem Leben war er so umsorgt worden. Später, in dem frisch bezogenen Bett, dachte er an das, was seine Chefin zu ihm gesagt hatte. „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie ihre Aufgaben ordentlich erledigen. Und Ehrlichkeit. Wenn Sie dazu bereit sind, werden wir gut miteinander auskommen.“
Er hatte sich ganz fest vorgenommen, sie nicht zu enttäuschen.
Die Drei sind schon da, als er die Kneipe betritt. Mit lautem „Hallo“ begrüßen sie ihn.
Es ist ein schöner Abend, bis der Alkoholpegel steigt und mit ihm die Reizbarkeit seiner Kollegen. Immer häufiger landen die Dartpfeile nach einem missglückten Wurf wutentbrannt auf dem Boden.
„Jungs, für mich wird es Zeit, muss morgen wieder arbeiten.“ Flip steht auf.
„Wiiiee? Du kannst doch jetzt noch nicht geeehhen!“ Die Stimme von Matze klingt schrill, blutunterlaufene Augen stieren ihn an. Flip weiß, er ist der gewalttätigste, oft in Schlägereien verwickelt. Begütigend klopft er ihm auf die Schulter.
„Ich warte noch, bis du dein Bier ausgetrunken hast, dann fahre ich euch nach Hause.“
„Jetzt komm, noch eine Runde, dann fahren wir alle mit“, wirft Bastian ein, der unbedingt sein verlorenes Dartspiel wettmachen will.
„Leute, ich muss morgen früh aufstehen und …“ Weiter kommt Flip nicht.
Laut äfft Matze ihn nach: „Leute, ich muss morgen früh aufstehen und meinem Job nachgehen, den ich gar nicht hätte, wenn der liebe Matze nicht ein bisschen an der Leiter gerüttelt hätte, auf dem der Arsch von Helmut war.“
Am Tisch ist es mucksmäuschenstill. Alle starren Matze an.
„Was hast du gemacht?“ Unbewusst flüstert Flip, als wenn er das Ungeheuerliche dieser abscheulichen Tat nicht laut aussprechen kann.
„Nichts hat er gemacht“, wirft Tim ein. „Der ist besoffen und redet Blödsinn.“
„Ja, natürlich redet der Blödsinn!“ Mit einem Augenrollen und der abwinkenden Geste auf Matze deutend, versucht Bastian ebenfalls die Situation zu entschärfen.
Doch Flip ist nicht bereit, das Gehörte zu vergessen. „Warst du das, der die Leiter umgeworfen hat?” Auf eine Bestätigung wartend, schaut er ihn an.
„Ich will jetzt noch ein Bier“, schreit dieser und knallt mit der Faust auf denTisch. Das laute Klirren der Flaschen und Gläser ruft die Wirtin hinter der Theke hervor.
„Wir wollen noch eine Runde“, bestellt Bastian, bevor die Wirtin sich über das Benehmen seines Kumpels beschweren kann. „Drei Bier bitte!“
Mit einem besorgten Blick auf Matze nimmt sie die Bestellung auf.
Tim tritt hinter Flip. „Hör auf. Du hast gehört, es war nur betrunkenes Geschwätz. Wenn du klug bist, gibst du jetzt Ruhe. Mit Matze sollte man sich nicht anlegen.“
„Ich gehe. Tschüss“. Er blickt in die Runde, keiner versucht ihn aufzuhalten. Das Gefühl einer unausgesprochenen Bedrohung lässt ihn schnell das Lokal verlassen.
Seine liebste Zeit ist der Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen. Diese kurze Zeitspanne, in der sich das Bewusstsein verabschiedet. Heute gelingt es ihm nicht, diesen Zustand zu erreichen. Unruhig wirft er sich hin und her. Keine Minute zweifelt er daran, dass Matze in seinem Rausch die Wahrheit gesagt hat. Muss er das nicht seiner Chefin erzählen? Tims Warnung fällt ihm ein. Was wird Matze mit ihm machen, wenn er die Chefin informiert. Wird sie es glauben? Was wird sie tun? Immer wieder die gleichen Gedanken und Fragen, bis er endlich schläft.
Nachts war Schnee gefallen. Die Begeisterung und Freude, die Flip sonst beim Anblick des in weihnachtliches Weiß getauchten kleinen Weihnachtsmarkt verspürt, wird von Unruhe und trüben Gedanken verdrängt. Obwohl das Thermometer vier Grad Minus anzeigt, geht er nicht in die Kasse. Nun spürt er, wie seine Kollegen sich fühlen. Sie müssen im Freien am Karussell bleiben.
Nach zwei Stunden Einsammeln ruft ihn die Chefin. „Flip, was ist los mit dir? Du hast mir schon wieder einen Chip zu wenig gebracht! Es ist doch nicht so viel Betrieb. Warst gestern wohl zu lange feiern?“ Er spürt ihre Besorgnis, sieht, wie sie ihn beobachtet. „Es muss dir doch kalt sein, warum kommst du nicht zu mir in die Kasse?“
Was soll er erwidern? Unruhig beißt er sich auf die Lippe. Ehrlich – schoss es ihm durch den Kopf. Er will sprechen, spürt die Enge in seinem Hals, schluckt und würgt die Angst hinunter.
„Ich weiß jetzt, wer der Mann war, der die Leiter umgestoßen hat.“
Mit weit aufgerissenen Augen sieht er seine Chefin an.
Ein tiefer Seufzer und ein Flüstern. „Ich weiß es auch. Wir unterhalten uns nach Feierabend darüber“, hört er sie sagen.
Flip ist verwirrt. Warum hatte sie Matze nicht angezeigt oder hat sie es auch erst später erfahren? Warum ist sie dann nicht zur Polizei gegangen?
Am Abend erzählt ihm die Chefin von einer Gerichtsverhandlung. Ihr Mann musste als Zeuge aussagen. Er war dazwischen gegangen, als Matze mit einem Schraubenzieher einen Kollegen angriff. Der verlor fast ein Auge, ihr Mann konnte Schlimmeres verhindern. Matze wurde verurteilt. In seiner Wut drohte er, irgendwann würde er sich dafür rächen.
Ihr Blick streift an Flip vorbei in weite Ferne, um dort etwas zu sehen, was ihr hilft, die nächsten Worte zu sagen. „Ich glaube nicht, dass er meinen Mann umbringen wollte, aber ihm eine Lektion erteilen. Es hätte ihn nicht wieder lebendig gemacht, wenn ich meinen Verdacht der Polizei mitgeteilt hätte. Doch für mich und meine Kinder wäre das Leben zur Hölle geworden.
Ich habe inzwischen keine Volksfeste mehr, auf denen wir zusammen stehen. Du würdest gut daran tun, dem Matze aus dem Weg zu gehen. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert.“