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Flipper
Flipper und die Zapfenschlacht.
Es gibt einen alten Brauch in meiner Hauptschule, der Körperertüchtigung und Charakterbildung vereinen soll.
Die beiden zweiten Klassen, die 2A und die 2B gehen auf Wanderschaft, erkunden unter Aufsicht ihrer Lehrer die Umgebung, bestimmen Pflanzen und Tierspuren. Es ist kein kurzer Spaziergang, es ist ein 15 Kilometer Marsch. Das Ziel ist eine riesige, umgestürzte Eiche, der Stamm bildet eine mächtige Brücke.
Niemand weiß, warum dieser Gigant umfallen konnte. Wann der Sturz passiert ist, ist ebenfalls nicht zu ermitteln. Er liegt auf der Seite, die Krone ist immer noch grün, man kann unter dem massiven Stamm hindurchgehen, ohne sich zu bücken. Wo vorher seine Wurzeln tief ins Erdreich gereicht hatten, befindet sich nun ein kleiner Teich. Die Wurzeln sind hinabgewachsen, um diesen Teich zu erreichen. Ich bin erschöpft vom langen Marsch, die Hitze klopft in meinen Schläfen und ich kann das langsame Pulsieren sehen, mit dem der gefallene Baum das Wasser in seine braunen Venen pumpt.
Dieser Baum ist nicht tot, er hat nur seine Perspektive gewechselt, ich kann das gut nachfühlen.
Wir haben einen geistiges Beeinträchtigen im Ort, der sich vor Kindern gerne einen runterholt. Er ist bekannt als harmloser Spinner. Abends wandert er neben dem Badeteich und schreit immer die gleichen Mantras: „Waruuuum?“ „Duuu AAAA!“ Er wandert über die Feldwege und Nebenstraßen. Er hat einen Platz zum Schlafen, aber er wandert, vor allem nachts wandert er und er schuldet niemandem Rechenschaft.
Neben dem Badeteich befindet sich ein Sportplatz, mit Basketballkörben und Fußballtoren, dort tummeln sich die 12, 13, 14-Jährigen. Jugendliche in ihrer Pubertät, die allermeisten Jungs sind Sportler, die Mädchen schlank und schön. Im Schatten der Linden liegt damals niemand. Die Hitze belastet uns nicht, wir baden in ihr, wie Echsen.
Direkt hinter dem Sportplatz befindet sich ein kleines Wäldchen, ich denke es sind meist Birken, ihre Stämme schälen sich ständig. Künstlich gepflanzte Fichten sind sowieso allgegenwärtig.
Dort steht Flipper – das ist der Name für ihn, keiner weiß, wie er wirklich heißt, beobachtet die schönen junge Leute und masturbiert gelegentlich.
Wird er entdeckt, machen sich die Mutigsten auf ins Wäldchen und beobachten ihn, wie er sich einen runterholt. Wir verspotten ihn und manche bewerfen ihn mit Dreck. Er ist keiner der schnell kommt, das muss man ihm zugutehalten. Die meisten gehen einfach irgendwann wieder und spielen Basketball oder lassen sich den Rücken einölen. Aber manche haben Ehrgeiz und wollen ihn treffen, mit Dreck, niemals mit Steinen, das gehört sich nicht. Die Logistiker tragen Erde zum Badeteich, machen sie nass und formen Kugeln, die sie dann zurück transportieren, um die Schützen treffsicherer zu machen. Ich glaube, manche nehmen die Keine-Stein-Regel nicht ernst. Ich nehme eine der Dreckkugeln, erinnere mich an meine Wurftechnik, lege mich in den Wurf und treffe Flipper heftig an der Stirn. Die rote Suppe beginnt zu fließen und wir fliehen.
„Warum?, Du aa“, tönt es uns nach, nicht einmal wütend. Mein Herz klopft wie wild, ich befürchte, ich muss ins Gefängnis, aber es geschieht nichts in den nächsten Tagen, die nächsten Nächte schlafe ich schlecht, es passiert nichts.
Aus der Sicht von Flippers Wäldchen ist die Stirnseite dieses Sportplatzes direkt vor ihm, erweitert man aber die Perspektive etwas nach hinten, sieht man dort die Baustelle des neuen Sportzentrums, eigentlich existiert bis jetzt nur der Keller und eine Bodenplatte.
Wir gehen in den Keller, es gibt kein Licht und riecht eigenartig. Ganz selten liegt Kot und Papier in einer Ecke. Er ist dunkel und stickig und voller pubertären Phantasien. Oben, wir auf unserem giftigem roten Plastikplatz, auf unseren Coca Cola Handtüchern, gebräunte Schönheiten. Wir haben Kassettenrecorder, wir hören Depeche Mode. Aber dieser Keller, direkt unter unserem Schaulaufen der Eitelkeiten. Er lockt uns.
Der traditionsreiche Abschluss der Wanderung ist die Fichtenzapfenschlacht. Die Regeln sind denkbar einfach. Eine Klasse – die 2 A begibt sich auf die überlegene Position auf den umgestürzten Stamm. Es ist immer die A, vielleicht sind das die besseren Schüler, vielleicht ist das die Tradition.
Ich bin in der A Klasse, gehe aber freiwillig vor den umgestürzten Baum, ich denke, ich wollte etwas heroisch vor den Mädchen wirken. Der Mann, der die Schlacht alleine entscheiden kann und der ganze Scheiß.
Zapfen waren genug vorhanden, die Schlacht begann. Ich bin ein guter Werfer und habe gleich mal zwei Gegner gut an der Birne erwischt.
Aber es war vorbei, bevor es begonnen hatte. Aus ihrer überlegenen Position bewarf uns die A mit Tannenzapfen und es dauerte nicht lange und mehr und mehr Kämpfer wechselten die Seite. Das ist eine Regel der Fichtenzapfenschlacht: Man kann ganz einfach die Seite wechseln, möglicherweise hat das einen erzieherischen Nutzen. Einzelne A Kämpfer liefen den Stamm hinunter und sammelten die abgeschossenen Fichtenzapfen wieder auf. Die Logistik ist eine der wichtigsten Voraussetzungen des Krieges.
Mehr Mitstreiter ließen mich im Stich, sammelten noch ein paar Fichtenzapfen auf und erklommen den umgestürzten Baumstamm. Es wurde immer einseitiger, aber das erhöht den Ruhm. Inzwischen war ich der Einzige, der noch Zapfen den Baum hinaufwarf. Für jeden Zapfen, den ich warf, kassierte ich einen Hagel von 10 oder mehr Gegenangriffen.
Ein Geschoß traf mich so heftig, dass ich über dem Auge blutete, ich glaube, es war ein Stein.
Sie lachten über mich, weil ich alleine so dastand und Treffer um Treffer kassierte. Weil ich blutete und immer noch nicht aufhörte. Schulfreunde, schöne Mädchen in die ich so halb verliebt war, verspotteten mich. Inzwischen weinte ich, weil sie mich so verraten hatten, aber ich konnte nicht weichen. Weil ich weinte, verspotteten sie mich härter. Sie riefen mich an: Komm zu uns, komm zu uns auf den Baum! Lass es doch sein! Irgendwann schmeckt es dir!
Aber ich konnte nicht. Irgendwann wurden sie dann oben müde und hörten auf. Die Lehrer hatten sich traditionell zurückgezogen und tauchten wieder auf, als es vorbei war.
Am Rückweg machten wir Rast in einem Gasthaus. Wir bekamen Würstel und eine Semmel und eine Limo. Ich baute den höchsten Turm aus Bierdeckeln. Ich tat, als sei nichts geschehen. Aber jeder war mein Feind geworden. Sie hatten mich alle verraten.
Flipper bezog für seine Masturbationsperformances den Keller des zukünftigen Sportzentrums. Er wanderte die Straßen entlang, unermüdlich, doch er wusste, wann die schönen, jungen Menschen am Sportplatz waren. Es war ein Fehler, das kleine Wäldchen zu verlassen. Es war zu heiß im Keller, zu stickig.
Der Sommer war heiß, Flipper hatte immer eine dicke Arbeiterhose und ein schweres Hemd an. Ein blaues, dickes Hemd, im Hochsommer. Sein Gesicht war braungebrannt, die grauen Augen sahen durch jeden hindurch.
Blaugraue Augen sind in dieser Gegend nicht unüblich, sie haben keinen wirklichen Fokus. Es sind unendliche, unheimliche Augen.
Ein Mädchen, in das ich mehr so dreiviertel verliebt war, ging in den Keller und schaute zu, als Flipper seine Show abzog. Ich sage das ganz ehrlich, ich wollte sie beschützen, deshalb hielt ich mich im Hintergrund und beobachtete nur, was vor sich ging. Sie war eine der wenigen gewesen, die sich nicht über mich lustig gemacht hatten, damals bei der Zapfenschlacht.
Flipper holte seinen Penis hervor und begann daran herumzurubbeln. Ich bin jetzt kein Peniskritiker, aber wenn das rot und blatterig aussieht und 5 Meter weit riecht, dann bin ich bei eklig. Das Mädchen schaute ihm zu, ohne einen Kommentar, ohne eine Reaktion, bis das Ganze mit einem recht beachtlichen Samenerguss erledigt war. Sie wirkte kühl und interessiert.
Entspannt drehte sie sich um, sah mich an und ging mit ausdrucksloser Miene an mir vorbei. In diesem Moment fürchtete ich mich vor ihr.
Ich trug von der Zapfenschlacht die gleiche Wunde wie die, die ich Flipper mit meinem perfekten Wurf verpasst hatte. Einen perfekten Wurf kann man noch Jahre danach in sich spüren. Wir beide hatten diesen Schmiss. Nur war ich jung und meine Wunde fast verheilt, seine war voller Eiter und wurde immer schlimmer.
Er wanderte die Straßen entlang und den Weg am See. Wo er sich niederlegte, war seine Heimat. Das Zimmer, dass ihm zugeteilt worden war, blieb immer leer.
Flipper lebte nicht mehr lange. Sein „Waaaruuum?“ und „Du AAAAA!“ verstummte endgültig. Wir waren jung und machten selbst die Nacht unsicher, am See, bei den Linden und Birken, im Schein der Laternen. Wir erwarteten seinen Ruf, es gehörte dazu. Spazierte einer mit einem schönen jungen Mädchen den See entlang, mit Zungenkussabsichten, dann musste der Ruf von Flipper dabei sein, sonst verlor das jede Erotik.
Ich glaube, sie haben ihn einfach totgeschlagen. Oder ein Auto hat ihn überfahren, er wanderte immer die Straßen entlang und wo sein Kopf ruhte war seine Heimat. Aber nicht dort.
Meine Wunde ist niemals geheilt, die über meinem Auge, die mir der Zapfen geschlagen hatte. Ich schlafe schlecht und dann wandere ich die Straßen entlang. Inzwischen bin ich viel älter, die Leute sehen mich ungern an, das merke ich. Und dann frage ich: „Waruuum?“