Flirt
Flirt
Sie steht am Tresen der schummrigen Bar, allein, es ist schon lang nach Mitternacht. Ihr langes dunkelrotes Kleid umschmeichelt ihren gertenschlanken Körper, ihre Schultern sind mit einer Stola bedeckt. Sie hat offenbar die Premiere im nahegelegenen Theater besucht und danach keine Lust gehabt, allein nach Hause zu gehen. An einem langen Riemen trägt sie eine kleine Umhängetasche, am Tresen liegt das Programmheft, in der rechten Hand hält sie eine Zigarette, die ihr der Barmann eilfertig angezündet hat.
Sie hat ein Glas Weißwein neben sich stehen, an dem sie gelegentlich nippt. Ihre dunklen Augen schweifen ziellos im Raum umher, so, als ob sie auf etwas wartet, jemand bestimmten sucht. Ihr schwarzes Haar fällt geschmeidig auf ihre Schultern, sie trägt große auffällige Ohrringe. Endlich setzt sie sich auf einen der Barhocker, schlägt die Beine übereinander, gibt den Blick frei auf einen schwarzen Seidenstrumpf und einen eleganten Schuh mit hohem Absatz, der im Takt der Hintergrundmusik leicht wippt.
Während sie raucht, zieht sie die Blicke der vereinzelten Nachtschwärmer auf sich, die noch an den kleinen Tischen oder am Tresen sitzen, nervös an ihren Drinks nippen oder an ihren Zigaretten saugen, wohl wissend, dass die Zeit gegen sie arbeitet, jede der zäh verrinnenden Minuten ihre Chance reduziert, noch ans Ziel zu gelangen. Der ein oder andere hat schon sein Glück versucht, Feuer angeboten oder zu einem Drink eingeladen, doch offenbar haben sie alle eine höfliche, aber kühle Abfuhr erhalten, sodass sich die verbleibenden darauf beschränken, sie mit vor Sehnsucht hungrigen Augen anzustarren.
Ich überlege bei mir. Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mir anders ergehen wird, sehr gering, viel geringer als bei all den anderen. Doch was habe ich schon zu verlieren? Ich bin neu in der Stadt, erst kürzlich zugezogen wegen eines lukrativen Jobs, einer beruflichen Chance, die sich so schnell nicht wieder bieten wird. Was sind schon zwei Jahre in einem ganzen Leben, zwei Jahre für die konkrete Aussicht auf Geld, Aufstieg und Karriere. Warum also nicht mein Glück einmal versuchen, wo ich nichts zu verlieren habe als eine einsame Nacht in einem kalten Bett in einer kalten Wohnung in dem trostlosen Stadtviertel, in dem ich eine vorläufige Bleibe gefunden habe.
Ich stehe also auf und suchte die Toilette auf. Auf dem Weg nach draußen muss ich an ihr vorbei, eine erste Gelegenheit, sie von der Nähe zu sehen, Augenkontakt aufzunehmen. Ihr suchender Blick bleibt an mir hängen, lange, länger jedenfalls, als ein nur zufälliger Austausch von Blicken dauern würde. Ich versuche ein schüchternes Lächeln, als ich an ihr vorbeigehe, glaube, einen Ansatz einer Erwiderung zu erkennen. Darf ich hoffen? Kann ich es wagen? Diese Fragen stelle ich mir wieder und wieder, während ich in den Spiegel blicke, den Versuch aufgebe, mein blondes Haar zu bändigen, die locker gebundene Krawatte zurechtrücke, das weiße Herrenhemd in den Bund stopfe, nicht zu straff, damit man den leichten Bauchansatz nicht sieht, der mir in letzter Zeit Kummer bereitet, mein Jackett zurechtrücke. Warum kann ich nie wie andere das mit haben, was ich brauche, denke ich bei mir, denke an ihre Handtasche, ihr könnte so etwas nie passieren. Aber es ist ja auch sie, die die Blicke auf sich zieht. So ist es immer.
Auf dem Weg zurück beschließe ich, alles auf eine Karte zu setzen. Ich bleibe neben ihr stehen, nehme all meinen Mut zusammen, deute auf den Barhocker neben ihr und frage „darf ich?“. Sie sieht mich lange an, prüfend, fast nachdenklich. Schließlich verzieht sich ihr Mund zur Andeutung eines Lächelns, sie macht eine Geste in Richtung des Hockers und nickt mir aufmunternd zu. Der Barmann schaut mich fragend an, ich sage: „Scotch - On the Rocks“. Sie nickt anerkennend, wirft ihm ein knappes „zweimal bitte“ hin. „Rauchst du?“, fragt sie in meine Richtung. Ich nicke, überrumpelt von dem selbstverständlichen „du“. Obwohl ich mir das Rauchen vor einiger Zeit abgewöhnt habe, hätte ich alles getan, ihre Aufmerksamkeit nicht zu verlieren. Sie bietet mir einen Zigarillo aus einer silbernen Dose an, wartet, bis ich ihn mit nervösen, fahrigen Fingern herausgenommen habe, nimmt selbst einen, gibt uns beiden Feuer. Ich greife nach dem Whiskyglas, das der Barmann vor mich hinstellt, hebe es, schaute ihr in die Augen und sage „meine Freunde nennen mich Billy“. Mein Herz schlägt bis zum Hals, ich fürchte, sie hat mich nicht verstanden, so heiser hat meine Stimme geklungen. Sie lächelt, hebt ihr Glas ebenfalls, „Hallo Billy, ich heiße Karola“. Ihre Stimme ist dunkel, melodiös, fast rauchig. „Cheers“, sagen wir beide fast gleichzeitig, ein kurzes verlegenes Lächeln, dann trinken wir, sehen uns dabei an.
„Möchtest du tanzen?“, frage ich sie, als jemand an der Juke Box eine langsame Nummer wählt. Die Absurdität der Frage kommt mir erst zum Bewusstsein, als sie gestellt ist. Ich fühle, wie sich die Aufmerksamkeit der wenigen noch anwesenden auf uns fokussiert, es wird sonst nicht gesprochen in der Bar. Sie sieht mich wieder an, ist da ein Anflug von Unsicherheit in ihren Augen? Kurz flackert ein Ausdruck der Kühle auf, ich versuche, den unergründlichen Augen standzuhalten. - Ein Ruck der Entschlossenheit geht durch ihren Körper, sie lächelt, sagt „Sicher, gern“ und gleitet von ihrem Barhocker. Ich stehe auf, biete ihr den Arm, geleite sie zu der freien Fläche in der Nähe der Juke Box. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich, legt ihre Arme auf meine Schultern, ich fasse sie an den Hüften. Wie von selbst synchronisieren sich unsere Schritte, wir beginnen, uns im Takt der Musik zu wiegen, langsam zu drehen.
Ich kann die hungrigen Augen spüren, die auf uns gerichtet sind. Wie in Trance bewegen wir uns zur Musik, merken kaum, dass die erste Nummer verklingt, der Mann an der Juke Box eine Münze nachwirft. Beim zweiten Lied legt sie ihren Kopf leicht an meine Schulter, ich umfasse sie enger, fühle ihren Atem, ihren Herzschlag, ihre Seele dicht an der meinen pulsieren. Der Duft ihres Haares vermischt sich mit der dezenten Andeutung eines exquisiten Parfums – sie muss es vor Beginn der Vorstellung aufgelegt haben, man kann es nur noch ahnen.
Die Musik endet, wir verharren noch eine Weile regungslos. Dann lösen wir uns voneinander, ich führe sie am Arm wieder zur Bar. Sie legt einen großen Schein auf den Tresen, beachtet den Barmann nicht, der versucht, herauszugeben. „Komm mit, wenn du möchtest“. Mein Herz rast, ich folge ihr zum Ausgang, wir gehen schweigend durch die Nacht.
An ihrem Wagen angekommen – nein, es ist kein Sportcabriolet, so läuft das nur in den billigen Filmen – drückt sie mir den Schlüssel in die Hand. Ich öffne ihr die Beifahrertür, lasse sie einsteigen, setze mich ans Steuer. Ich fahre los, ohne zu wissen, wohin. Obwohl ich schon Monate nicht mehr selbst gefahren bin, gehorcht mir der Wagen mühelos, ich entspanne mich langsam im Fahrersitz. Sie sagt nichts, blickt nur ab und zu ruhig zu mir herüber. Einer spontanen Eingebung folgend, versuche ich den Weg zu finden zu einem kleinen Hügel in einem Vorort, von dem ich an meinem ersten Abend hier in der Stadt die Aussicht genossen habe.
Die ein oder andere knappe Anweisung lässt erkennen, dass sie meine Absicht erraten hat. Schließlich halte ich den Wagen in der kleinen Parkbucht, an, steige aus, öffne ihr wieder die Türe. Wir treten an die niedrige Steinmauer, blicken eine Weile schweigend auf die Lichter der Stadt. Plötzlich fröstelt mich, der Wind ist hier stärker, spielt in meinem Haar, bauscht meinen dünnen Rock auf.
„Komm, ich wohne gleich da drüben“. Ihre Hand zittert leicht, als sie die meine ergreift. Wir gehen schweigend die paar Schritte zu einem alten eisernen Gartentor, das durch eine verwilderte Hecke in einem dunklen Garten führt. Der Weg ist spärlich beleuchtet, führt zu einem schmucken, kleinen Anwesen. Sie geht voran, bedeutet mir zu folgen, sie schließt die Tür auf.
Man kann sie greifen, die Kälte, die uns entgegenschlägt. Im Flur, in der Küche, auf den Stiegen, überall Pappkartons, Gewand, Bücher. Sie führt mich in die Küche, deutet auf einen wackeligen Stuhl inmitten der Unordnung. Ich setze mich hin, beginne zu begreifen, als ich sie beobachte, wie sie Milch wärmt, zwei Becher aus einem Karton nimmt, Kakao einrührt und sie auf den kleinen Tisch vor uns stellt. Endlich beginnt sie zu reden.
*
Es ist bereits früher Nachmittag, als ich vom penetranten Lärm einer elektrischen Klingel geweckt werde. Sie räkelt sich in meinen Armen, das elegante rote Kleid verdrückt, ihr Haar zerzaust. Ich blicke an mir herunter, die Krawatte liegt auf dem Boden vor dem Sofa, auf dem wir inmitten des Chaos eingeschlafen sein müssen. Die Kerze ist heruntergebrannt, Wachs klebt auf der politierten Tischplatte. Eine halbleere Flasche Scotch und zwei Gläser lassen die Ursache der pochenden Kopfschmerzen erahnen. Sie steht auf, öffnet die Türe, kümmert sich nicht um die aufdringlichen Blicke des Möbelpackers, der polternd grüßt – „das alles?“, sie nickt abwesend – und sich mit seinen Helfern anschickt, die verteilten Habseligkeiten in seinen Wagen zu verladen. „Möchtest du bei mir wohnen?“, frage ich sie sehr leise. „Vorerst“, füge ich hinzu, ich möchte sie nicht noch mehr verletzen. „Danke“, sagt sie einfach, als sie mir den Wagenschlüssel in die Hand drückt und gemeinsam mit mir durch das eiserne Gartentor geht, wohl zum letzten Mal, ohne sich umzublicken.