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Flucht nach innen
Er war völlig außer Atem, als er endlich in seiner Wohnung angekommen war. Doch zum Ausruhen blieb keine Zeit. Sie waren bestimmt schon hinter ihm her. Schnell hastete er ins Schlafzimmer, kramte dort einen Rucksack hervor, knüllte ein paar Anziehsachen und seinen Schlafanzug sowie einige persönliche Dinge, die noch auf seinem Nachttisch herumlagen hinein. Dann noch schnell ins Bad, seinen Kulturbeutel. Wieder im Wohnzimmer angekommen, krallte er sich noch die auf dem Couchtisch herumliegende Retina-Display-Brille sowie seinen tragbaren Computer. Es musste jetzt alles schnell gehen. Mit fahrigen Fingern öffnete er den Alu-Koffer, den er dabeigehabt hatte und begann seinen Inhalt eilig in den Rucksack umzufüllen: lauter Datenkubusse und Matrix-Massenspeicher, nur mit Nummern beschriftet, sowie eine zerfledderte, überquellende Mappe elektonischer Papiere. Hastig zog er den Reissverschluss des Rucksacks zu, setzte seinen Schlapphut auf, steckte sich noch einen herumliegenden Schokoriegel in die Manteltasche und wollte gerade gehen. Er sah sich noch einmal um, in der Wohnung, die er mit Anna so lange Zeit geteilt hatte. Ihr Bild stand noch auf dem Nachttisch. Doch das Ehebett, das so lange Ort ihrer Leidenschaften gewesen war, war nun seit drei Tagen leer. Sie konnte einfach nicht verstehen, dass er seine Ersparnisse, die mal zwei Drittel ihres gesamten Vermögens ausgemacht hatten, dringend brauchte. Es ging in dieser Sache um sein Leben. Er wollte sie mitnehmen, doch sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf gehabt. Sie hatte ihm nicht mal zuhören wollen, als sie ihn verließ. Beim Blick durch das Panorama-Fenster, das den Blick über das ganze, ewig verschneite Achilles City bis zum Horizont freigab, wurde ihm schwer ums Herz. Die Sonne ging gerade unter, der blasse Gasriese, der den Himmel beherrschte, wurde kräftiger. Langsam zog ein Stern über den Himmel: Die Raumstadt Neu-Hamburg. Er würde diesen Ausblick, diese Wohnung nie wiedersehen, soviel stand fest. Und wie es aussah, würde er auch Anna nie wiedersehen. Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Er seuftzte.
Dann fiel sein Blick auf die antike, mechanische Uhr, die seit jeher auf dem Tisch neben dem Holo-Fernseher stand. Die konnte er nicht einfach hier zurück lassen! Sie war ein Teil seiner Erinnerung. Schnell packte er sie und stopfte sie noch in den Rucksack. Doch der Blick auf die Zeit hatte ihm auch wieder mit Macht die Gegenwart ins Gedächtnis gerufen. Schnell schulterte er den Rucksack und verließ die Wohnung. Wie jedesmal schloss er auch diesmal ab. Ein letztes Mal.
Dann nahm er den Express-Lift nach unten.
Zwei Minuten später kam er unten an, auf dem Sympostion-Platz, der von einer großen Kuppel überspannt wurde. Hastig verließ er den Lift und ging schnellen Schrittes auf die Farnstraße zu, eine große Hauptstraße, die, wie der gesamte öffentliche Raum von Achilles, luftdicht überdacht war. Wie immer herrschte starker Verkehr. An der Ecke eines großen, im neoklassizistischem Stil gebauten Gebäudes schaute er sich noch einmal um - um dann umso schneller zum nächsten U-Bahnhof zu eilen. Er hatte es gewusst: sie waren schon da! Während er die Treppen zum Bahnsteig heruntereilte, um dann schnell am Automaten noch ein Ticket auf sein Fahrkarten-Template zu laden, arbeitete es in seinem Kopf. Er musste schnell weg. Aber in der Stadt konnte er nicht bleiben. Tatsache war, dass er schon vor Wochen, als das Ganze noch hypothetisch war, aus reiner Vorsicht eine Fluchtmöglichkeit auf Port Achilles geschaffen hatte. Surrend rauschte der Zug in den Bahnsteig. Schnellen Schrittes eilte er zum Zug, stieg ein, schaute sich um. Da waren sie schon! An der Treppe! Sie hatten ihn gesehen! Wenn der verdammte Zug nicht gleich ...
Erleichtert atmete er auf. Die Türen des Zuges schlossen sich und er verliess den Bahnsteig Sie hatten es nicht geschafft in den Zug zu kommen. Das wäre das Ende gewesen!
Langsam wurden seine Gedanken wieder klar. Er musste zum Stadtzentrum. Dort lag die Bodenstation des Raumlifts, von dort aus kam er am schnellsten nach Port Achilles. Der Plan zeigt ihm, dass er einmal am Hauptbahnhof Ost umsteigen musste. Soll ich nicht doch den Zug nach Südstadt oder La Colonie nehmen? Und von dort aus das Orbitalshuttle über Neu-Hamburg nach Port Achilles?
Nein, der direkte Weg war billiger. Er musste mit dem Reisegeld haushalten. Hoffentlich war nichts schief gelaufen und seine Fluchtmöglichkeit war weg oder unbrauchbar. Fünf Stationen später hielt die U-Bahn in einem großen U-Bahnhof, der einer der vielen Hauptknotenpunkte nahe des Zentrums darstellte. "Station Mittlerer Ring West. Ausstieg links." verkündete eine synthetische Frauenstimme. Sanft hielt der Zug und die Türen summten auf. Gleichgültig quollen die Menschen aus dem Zug auf den Bahnsteig und verteilten sich in alle möglichen Richtungen.
Zügig schritt der Mann mit dem Trenchcoat, dem Schlapphut und dem Rucksack durch die metallenen Gänge des U-Bahnhofes, vorbei an übermannsgroßen Werbetafeln, auf denen in 3D-Bildern ständig animierte Werbung lief. Er folgte den Anzeigetafeln und Pfeilen zur Linie 9, deren Endstation die Bodenstation des Raumlifts war. Ab und zu sah er sich verstohlen um, ob ihm jemand folgte, doch er konnte keinen Verfolger ausmachen. Dennoch hatte er es eilig. Je mehr Raum er gewann, desto besser. Er würde wohl erst an Bord eines Frachters zur Ruhe kommen, der ihn weit weg brachte. Wie weit, das wusste er nicht. Jedenfalls weit genug, dass sie ihn nicht finden und schnappen konnten. Ungeduldig stellte er sich ganz vorne an den fast leeren Bahnsteig. Scheiße! Warum sind nur so verdammt wenig Leute zum Raumlift unterwegs? Hier falle ich ja auf wie ein Groß-Sonnenkollektor! Hoffentlich hat der Zug keine Verspätung.
Zum Glück kam die U-Bahn wenige Minuten später. Doch auch die Wagen waren leer. Er stieg ein. Außer ihm waren nur eine Gruppe Teenies und drei Büroangestellte im Zug, zwei Frauen und ein Mann. Er lehnte sich gegen die Tür und warf einen genaueren Blick auf die anderen Fahrgäste. Summend fuhr der Zug an und verließ den Bahnhof. Der Mann und eine der beiden Frauen unterhielten sich angeregt. Sie waren wohl Kollegen. Die andere Frau saß unbeteiligt daneben. Die Teenies hatten sich am anderen Ende des Wagens niedergelassen und blödelten herum.
Irgendwie kam ihm die unbeteiligte Büroangestellte verdächtig vor.
Es war das zweite Mal, dass sie den Blick niederschlug, als er in ihre Richtung schaute. Sie tippte sich kurz gegen einen Ohrring.
Verdammte Scheiße! Eine Agentin! Er musste raus aus diesem Zug, so bald es die Situation zuließ. Sie durfte als erstes nicht bemerken, dass er sie gesehen hatte.
Der Zug hielt. Die beiden anderen Büroangestellten verließen den Wagen, weitere Menschen kamen hinein. Noch fünf Stationen bis zur Endstation. Es ging weiter.
Bei der nächsten Station stiegen noch mehr Menschen ein. Einige wenige stiegen wieder aus. Jetzt oder nie! Ich verschwinde!
Er stieg aus und tauchte ein ins Getümmel. Durch mehrere Gänge gelangte er zu einen Ausgang in einer Seitenstraße. Hier war Industriegebiet, doch er wusste, wie er von hier zum Raumlifthafen kam. Eine Weile lang ging er gemessenen Schrittes die Straße entlang, dann bog er in eine Seitengasse. Er sah sich um. Die Frau folgte ihm tatsächlich in einigem Abstand! Er musste sie abhängen!
Er suchte die Gasse nach Türen ab, nach Eingängen, die öffentlich zugänglich waren, oder einfach nur nicht abgeschlossen. An einer T-Kreuzung der Gasse bog er zielsicher rechts ab, dann wieder links. Dann drehte er sich nochmal um. Die Frau trug Stöckelschuhe. Er ließ es drauf ankommen und begann zu rennen. Hier war eh niemand unterwegs, selbst zur Rush-Hour nicht. Ein rascher Blick über die Schulter. Scheiße! Sie ruft die Jagdroboter! Verdammtes Miststück! Es wurde höchste Zeit!
Da, ein Wartungseingang! Hastig öffnete er die Tür, schloss sie wieder und eilte durch den notbeleuchteten Gang, an dessen Decke Dutzende von Rohren und Kabelsträngen verliefen. Weit vorne machte der Gang eine Biegung. Ein Wartungsroboter stand dort neben einem Kasten. Viel näher, eine Leiter.
So schnell er konnte kletterte er nach oben, öffnete eine Klappe und kam in einem Wekzeugraum raus. Er versuchte, die Tür zu öffnen. Nein! Abgeschlossen! Langsam stieg Panik in ihm empor. Er ließ sich wieder nach unten fallen und hastete weiter den Gang entlang. Hoffentlich kam bald wieder eine Tür, die nach draußen führte. Er sprintete, als ginge es um sein Leben. Und mit Sicherheit ging es das auch. Vorbei an verdutzt dreinschauenden Technikern, die gerade Pause machten. Wieder eine Leiter.
Bitte, sei offen!
Er hatte Glück. Nur ein Putzroboter mitsamt Zubehör standen in dem kleinen Abstellraum. Und als er dann feststellte, dass er direkt im Terminal des Raumlifthafens war, sandte er ein Stoßgebet gen Himmel.
Gehetzt fuhr sein Blick durch die Halle. Ein Lift startete in einer Minute. Perfekt! Sofort eilte er zum Schalter und lud ein Ticket auf sein Fahrkarten-Template, drängelte sich an wartenden Passagieren vorbei zum Lift Nr. 3, ließ sein Ticket beim Steward entwerten und atmete auf, als die Türen sich verschlossen und eine Stewardess die Passagiere aufforderte, Platz zu nehmen und sich anzuschnallen. Der Mann mit dem Trenchcoat ging die Treppe rauf in die zweite Ebene, dann in die dritte und setzte sich schließlich an einen Platz, der direkt vor den Panorama-Fenstern war.
Ein elektrisches Surren ertönte und langsam setzte sich der Lift in Bewegung. Die Wände des Start- und Landetunnels fuhren immer schneller nach unten, die g-Kräfte drückten die Passagiere in ihre Sitze. Dann, der Blick auf Achilles City, im Licht der Abenddämmerung. Am Himmel der Gasriese, wie ein unwirklicher Ballon. Noch vor ein paar Tagen war er voll, jetzt nahm er wieder ab. Blinkende Punkte zogen über den Himmel; die Lichter der Flugzeuge und Atmosphärenschiffe. Sanft sprang die Innenbeleuchtung an.
Erleichtert lehnte er sich zurück. Er hatte sie abgehängt. Vorerst, wie er fürchtete. Denn mit dem Transporter, den er vor ein paar Wochen gekauft hatte, kam er nicht weit genug. Und er musste weit weg. Es gab keine Alternative.
Irgendwie muss ich es schaffen, einen Händler zu finden, der mich nach Wuhan oder in die Zone mitnimmt,. ging es ihm durch den Kopf. Was von beiden is' mir egal, wenn ich erstmal den äußeren Gasriesen von 47 UMa sehe, bin ich zufrieden. Hier, beim inneren kann ich nicht bleiben. Hier finden die mich, egal was ich mache. Soviel ist klar.
Er stand auf und ging nach hinten, um sich eine Flasche Synth-Cola zu holen. Erst jetzt merkte er, dass er schrecklichen Durst hatte. Das kühle Getränk tat gut und er kam langsam wieder zu Kräften.
Schon durchstieß der Lift die oberen Wolkenschichten. Die Krümmung des Mondes Achilles wurde immer deutlicher, der Mond immer kleiner. Schließlich fühlte er, wie die g-Kräfte nachließen und wie sein Körper schwerelos wurde. Eine Anzeige, die auf die Panorama-Scheiben projiziert wurde, forderte die Passagiere auf, sich anzuschnallen, da das Bremsmanöver in Kürze beginne. Die Sitze waren in Metallschienen eingefasst, die bis zur Decke gingen. Als auch der letzte Passagier sich angeschnallt hatte, lösten sich die Sitze vom Boden, drehten sich um 180 Grad und landeten auf der Decke. Dann spürte er wieder die g-Kräfte, die so wieder ein Maß an Schwerkraft erzeugten.
Einige Minuten später verstärkten sich die g-Kräfte und der Lift fuhr summend in die hell erleuchtete Landeröhre von Port Achilles. Kurz darauf kam er zum Stehen und die Schwerelosigkeit ergriff wieder Besitz von ihm. Noch etwas unsicher hangelte sich der Mann mit dem Trenchcoat zum Ausgang, vergewisserte sich, dass sein Rucksack und sein Hut saßen und passierte die Sicherheitsschleuse. In der schwerelosen Terminalhalle angekommen, stellte er sich auf ein Transportband, an dem Fußsschlaufen zum Halt angebracht waren und ließ sich zu einem Plan der Raumstation bringen. Er kramte sein PDA aus seiner Manteltasche, lud sich den Plan runter und überlegte, was er als nächstes tun sollte und wohin er dazu gehen sollte. Das verlassene Dock war laut Plan noch da, es erschien allerdings erst, wenn als er auf die Option 'Alles einblenden' ging. Zuerst musste er jedoch noch ein paar Sachen erledigen. Im rotienden Schwerkraftstrakt der Station gab es eine Bar, die als 'Raumfaher-Treff' ausgewiesen war. Dort fanden sich sicher ein paar interplanetare Händler.
Er machte sich auf den Weg. Durch mehrere große, schwerelose Gänge, in denen geschäftiges Treiben herrschte, durch mittlere Gänge bis zur Drehachse des Rotationstraktes. Dort nahm er den Lift nach unten. Es tat gut, wieder die Schwerkraft zu spüren.
In einem Supermarkt kaufte er sich ein paar Happen zu essen und ließ seine Synth-Cola-Flasche mit Wasser füllen. Dann machte er sich auf den Weg zur Bar 'Zur klappernden Mühle'.
Es war ein eher kleines, dämmeriges Lokal. Es gab keine Hauptbeleuchtung; jeder Tisch hatte eine eigene Lampe, ebenso wie der Tresen. Dahinter stand ein humanoider Roboter und putzte ein Glas. Vom Tresen blubberte und dudelte das Radio. In der Ecke standen ein paar Automaten. Einige Gäste hingen herum: am Tresen drei Männer unterschiedlicher Größe und Statur, die auf ihre Gläser blickten. An den Tischen verteilt ein paar Leute, die aussahen, als gehörten sie zu Besatzungen. Am anderen Ende des etwas länglichen Raumes eine fotorealistische Panorama-Abbildung der Außenwelt: Eine außen angebrachte Kamera zeigte den Blick auf den Gasriesen. Von den Ringen war kaum mehr als die Kante zu sehen. Ein Frachter zog träge dahin. Das Blitzen der Positionslichter verdeutlichte seine Konturen. Und in der Ferne die blinkenden Punkte anderer Raumschiffe.
Etwas ratlos setzte er sich an den Tresen, neben die drei Männer. Einer von ihnen, mit militärischem Gesicht trug eine Uniform. Die beiden anderen sahen zivil aus.
"Was kann ich ihnen zu trinken anbieten?" fragte der Roboter mit einer synthetischen, etwas blechernen Männerstimme.
"Ein Tonicwasser, bitte."
"Kommt sofort."
Der Mann mit dem Trenchcoat sah sich nochmal in der Bar um. Suchte jemanden, der aussah, wie ein Frachter-Kapitän. Ihm war bewusst, dass sein Vorgehen planlos und à-tout-hazard war, aber zum Planen hatte er keine Zeit. Der Roboter stellte ihm das Tonicwasser hin und gab einen Strohhalm dazu. Er zog das Glas zu sich hin und nahm einen Schluck.
Dann erspähte er jemanden.
Ein kleinwüchsiger Mann japanischen Aussehens, mit Bürstenhaarschnitt und einer schmalen, rechteckigen Sonnenbrille, der an einem der Tische saß und seinen tragbaren Computer bediente. Der tragbare Computer zeigte das Hologramm eines Frachtschiffes. Es sah aus, wie ein technisches Verwaltungsprogramm.
Er stand auf, ging zu ihm hin, begrüßte ihn auf japanisch und fragte, ob er sich setzten könne. Der Japaner wies ihm den Platz gegenüber zu und frage, worum es ginge.
"Fliegen Sie zum äußeren Gasriesen? Ich müsste da nämlich möglichst bald hin, weiß aber niemanden, der mich dahin mitnehmen kann. Und mein Schiff hat zuwenig Reichweite."
"Was haben Sie denn für ein Schiff?"
"Einen Astrametall TE20. Atmosphärenflugtauglich, aber, wie sie wissen, nicht ausreichend, um nach 47 UMa c zu kommen."
Der japanische Kapitän nickte.
"Haben Sie einen speziellen Wunsch, was das Ziel in 47 UMa c betrifft?"
"Nein, es ist mir völlig egal. Aber eilig habe ich es."
"Wie eilig?"
"Verdammt eilig. Aber wenn Sie mich mitnehmen, erzähle ich es Ihnen auf dem Flug. Ach ja, ich würde gerne, nach Möglichkeit, versteht sich, meinen Transporter mitnehmen. Ich bezahle auch."
"Kein Problem." nickte der Japaner lächelnd. "Ich nehme Sie mit. Nur ... meine Geschäfte erlauben es mir nicht, direkt dahin zu fliegen. Aber wenn wir uns morgen früh auf Station Akine treffen könnten, kommen wir ins Geschäft. Geben Sie mir nur noch ihre ID-Karte. Ich schicke ihnen dann die Docknummer, wenn ich dort angekommen bin."
"Alles klar." Der Mann mit dem Trenchcoat kramte seine ID-Karte raus und gab sie dem Japaner, der sie in ein Lesegerät an seinem Computer einführte, und ihm zurückgab. "Eine Frage noch" sagte der Japaner.
"Sind Sie allein?"
"Ja."
"Okay. Dann sind wir uns einig." Sie schüttelten die Hände. "Auf Wiedersehen."
Der Mann mit dem Trenchcoat nahm seinen Rucksack und seinen Hut, stürzte den letzten Rest Tonicwasser hinunter, zahlte und ging.
Ohne zu zögern begab er sich schnellen Schrittes zu den Lifts, die ihn wieder in den schwerelosen Trakt brachten. Dort begab er sich in Richtung Docks, wo er schon bald die belebteren Sektionen hinter sich ließ um sich in die düsteren, nur noch spärlich benutzten Docks des Abschnittes 23 zu wagen. Alles hier wirkte trostlos und verlassen. Müde Funzeln, die ihr ärmliches Licht abstrahlten und dabei lange Schatten warfen. Dunkle Lagerräume, die zum Gang hin offen waren, verrammelte Türen. Nur ab und zu eine, an dem noch Licht war.
Vorbei an einem Wachroboter hangelte er sich schließlich zum Dock Nr. 23-14. Es war unbeleuchtet. Er kramte in seiner Manteltasche nach einem elektronischen Schlüssel und trat ein, in den Vorraum seines Docks. Dort aktivierte er ein Computerterminal, das ihm Kamerabilder eines kleinen atmopsphärenflugtauglichen Transporters zeigte. Den Statusanzeigen zufolge war alles okay. Es war aufgetankt und flugbereit, genau wie er es zurückgelassen hatte.
Er stieß sich ab und hangelte sich zu einer Ecke, in der ein paar alte Kisten verzurrt waren. Er öffnete eine, und entnahm ihr ein kompaktes Sturmgewehr mit Zielfernrohr und Laserpointer und die Magazine, die er zusammen mit dem Gewehr seinerzeit hier deponiert hatte. Dann schloss er das Dock von innen ab, hangelte er sich zur kreisrunden Schleusentür, entriegelte mit dem Schlüssel ein Nummernpad, gab einen sechsstelligen Code ein. Das rote Licht sprang auf grün um und die Tür öffnete sich. Er hangelte sich durch. Die zweite Tür öffnete sich ebenfalls. Er verschloss sie wieder und stieß sich ab zum Dockstutzen seines Transporters.
Im Cockpit angekommen nahm er Hut und Rucksack ab, klemmte beides unter die Gurte des Copilotensitzes, schnallte sich an und begann sofort, die Systeme hochzufahren. Nach und nach sprangen die Lichter der Schalter und Anzeigen an, die Bildschirme erwachten zum Leben und das HUD zeichnete hauchdünne blaue Anzeigen auf die Cockpitscheibe. Zügig führte er einen Systemcheck durch und bat um Starterlaubnis. Ihm wurde eine Startzeit in fünfzehn Minuten zugeteilt. Es reichte, um noch ein paar zusätzliche Checks durchzuführen.
Endlich öffnete sich das schwere Dock-Tor und die Halteklammern gaben das Schiff frei. Die Triebwerke glommen auf und magnetisch wurde das Schiff aus dem Dock ins All befördert. Dort angekommen steuerte er den Transporter auf eine günstige Ausstiegsbahn und stellte den Kurs auf Station Akine ein.
Dann endlich kam Erleichterung über ihn. Bald hatte er es geschafft. Sie hatten ihn an der Bodenstation des Raumliftes verloren. Und nun war er unterwegs. Auf dem Weg nach Akine. In etwa 9 Stunden war er da. Er spürte, wie die Triebwerke aufdrehten und der Transporter Fahrt aufnahm. Bald schon, würde er auf dem Weg nach 47 UMa c sein. Bald war es vorbei.
Das Piepen des Weckers seines PDAs drang in sein Bewusstsein. Noch mit geschlossenen Augen tastete er danach und stellte es ab. Er schlug die Augen auf.
Bin ich schon da?
Er hörte das dumpfe, monotone Brummen der Maschinen.
Tief unter ihm befand sich ein Meer aus farbenpbrächtigen Wolken, ständig in Bewegung. Und doch auf sonderbare Weise statisch. Vereinzelt flackerte Wetterleuchten. Der Horizont schwang einen sanften Bogen. Darüber die tiefe Nacht des Weltalls. Kein Zweifel, der Transporter war inzwischen in einem tiefen Orbit um den Gasriesen. In der Ferne vor ihm, ganz klein noch, eine Raumstation. Vielmehr eine Raumstadt. Das HUD beschriftete sie mit "Station Akine." Darunter eine langsam sinkende Entfernungsanzeige.
Ein sehr großes Raumschiff schob sich von oben ins Sichtfeld. Bedächtig zogen die Aufbauten und Container vorbei, mündeten schließlich in die mächtige Antriebssektion. Und schließlich die glühenden Triebwerke.
"Guten Morgen! Grüße von der 'La Mystique' !" kam es über das Funkgerät, das selbsständig aus dem Standby-Modus erwachte. Eine HUD-Markierung zeigte, dass der Funkspruch von dem Frachter kam, der sich gerade an ihm vorbeischob. Noch etwas verschlafen antwortete er: "Ahoi! Grüße auch zurück!"
Beim Tunen durch die Funkfrequenzen gab es nichts Neues. Nur das übliche Geplapper der Händler, die gerne über Funk über alles Mögliche redeten. Noch müde rieb er sich die Augen und instruierte seinen Bordcomputer, nach Möglichkeit an Akine zu docken. Anschließend schnallte er sich los, und hangelte sich nach hinten. In der kleinen Bordkombüse kramte er nach einer 0-g-Kaffeemaschine und kochte sich erstmal einen starken Kaffee. Er musste einen klaren Kopf haben. Noch war es nicht ganz vorbei.
Er sah auf die Uhr. Sechs Uhr morgens, noch verdammt früh. Datum: 26. März 2303.
Er nahm den Kaffee im Cockpit, während er zusah, wie der Computer des Transporter zunächst ein Korrekturmanöver machte. Kurz darauf setzte sich der Transporter auch schon wieder in Bewegung und näherte sich der riesigen Raumstation.
Das PDA hatte sich anscheindend von seiner Halterung gelöst, als er den Wecker abgestellt hatte, jedenfalls schwebte es plötzlich vor seine Nase. Er griff danach und öffnete den Rucksack, um es dort zu verstauen. Dabei taumelte einer der Datenkuben ins Freie.
Er enthielt Daten, die er gestohlen hatte. Daten, deretweswegen er gejagt wurde.
Einer seltsamen Eingebung folgend betrachtete er ihn näher. Ein harmlos aussehendes Ding. Ein handlicher Würfel aus massivem durchsichtigem Kunststoff, in Inneren ein milchiges, fadenartiges Gebilde, das im Sonnenlicht in allen Farben schimmerte. An einer Kante hatte es einen Anschluss, für einen Computer. Ein Etikett klebte an der anderen Seite:
0014e1515u4722-x
VERTRAULICH
Eigentum von Nantrans AG
Draußen näherten sich die Docks des schwerelosen Trakts der Raumstation und warfen ihren Schatten auf den Transporter. Über Funk, mehr oder weniger deutlich, immer noch das übliche Gelaber über Warenpreise, Sonnenstürme, Treibstoffpreise und worüber sonst noch Raumhändler so redeten. Behutsam steckte er den Datenkubus wieder in den Rucksack. War es wirklich wert, dafür ein ganzes Leben aufs Spiel zu setzen. War es das wert gewesen, dass er dafür sein ganzes vorheriges Leben einfach so wegschmeißen musste? Er dachte an Anna. Die Aussicht, sie vielleicht nie wiedersehen zu können, schmerzte ihn.
Doch als er daran dachte, was darauf gespeichert war, was er auch mit Hilfe von Nanoimplantaten in seinem Gehirn verankert hatte, zerstoben diese Zweifel zu Staub, und sein Entschluss wurde umso fester. Er war überzeugt, dass er das Richtige getan hatte. Eines Tages würde sie es verstehen. Denn das, was er über Nantrans herausgefunden hatte, war so unbeschreiblich schrecklich, dass er handeln musste. Er würde Hilfe brauchen, Nantrans davon abzubringen, die Firma, für die er so lange Zeit gearbeitet hatte, vor sich selbst zu retten.
Die schweren Tore öffneten sich und langsam schwebte der Transporter hinein in das hell erleuchtete Dock. Die Instrumente zeigten: alles lief problemlos. Dumpfes Rumpeln kündigte das Einrasten der Halteklammern an, die Instrumente zeigten sich anschliessende Versorgungsleitungen, die Anzeige für den Andockstutzen sprang auf grün.
"Willkommen auf Station Akine." begrüßte ihn eine synthetische Frauenstimme auf japanisch. Das PDA zeigte keine neuen Nachrichten. Er beschloss im Transporter zu warten, bis der Japaner sich meldete. Denn falls sie ihn vorher aufspürten konnte er immer noch mit dem Transporter fliehen. Also wartete er.
Um neun endlich meldete das PDA eine neue Nachricht. Es war der Japaner. Treffen in der schwerelosen Bar 'Chez Takahiri', in 20 Minuten.
Der Mann mit dem Trenchcoat nahm nur noch seinen Rucksack und seinen Hut und kletterte nach hinten, wo er aus einer Klappe neben der Kombüse das Sturmgewehr hervorholte. Er zögerte. Zwar konnte er sich hier in den Docks relativ frei bewegen, aber die Bar lag hinter den Sicherheitssperren. Er würde es abgeben müssen. Oder er deponierte es irgendwo. Man kann ja nie wissen ...
Deponieren war besser. Irgendwo in der Nähe seines Docks. Er würde sowieso nicht lange weg sein, und wenn er es einfach hinter einem Müllcontainer versteckte?, würde es schon keiner finden.
Er öffnete die Luke und hangelte sich durch den Tunnel in den Vorraum seiner Dockbucht. Im Unterschied zu seinem Dockplatz auf Port Achilles war hier alles gepflegt und hell. Und wirkte freundlicher. Ein Terminal zeigte den Status seines Schiffs, durch ein kleines Fenster konnte man auf den Gang draußen sehen. Es war nicht viel los draußen. Nur ein paar Techniker und Leute die aussahen, als gehörten sie zu Frachter-Besatzungen waren unterwegs. Er hängte sich das Gewehr um, klappte den Kolben ab und versteckte es unter seinem Mantel. Dann öffnete er die Tür und schwebte auf den Korridor.
Ruhig hangelte er sich an den Griffen des Korridors entlang. Er wollte erst einmal einen Rundgang machen, um einen guten Platz für das Gewehr zu suchen. Wo er es auch immer deponierte, es würde wahrscheinlich nicht allzu lange unbemerkt bleiben, aber das Treffen dauerte sicher nicht lange. Der Korridor war lang. Viele Docks lagen zu seiner Rechten. Links gingen einige weitere Gänge ab, sie führten wohl ins Innere der Station. Gelegentlich gingen auch Korridoren nach oben oder kamen von unten.
Dann endlich fand er einen Müllcontainer. Er war direkt neben einem Gang befestigt, der zur Waffenkontrolle führte. Gerade wollte er das Gewehr hinter dem Container verschwinden lassen, als er einen Blick zur Waffenkontrolle warf.
Was er sah, trieb ihn den Schock ins innerste Mark.
Sie waren da!
Zwei Agenten und mindestens acht Jagdroboter von Nantrans! Sie hatten sogar Arachno-Bots, übermannsgroße, spinnenartige Roboter, die wegen ihrer unmenschlichen Schnelligkeit gefürchtet waren. Sie hatten ihn gesehen! Jetzt ging es um Leben und Tod! Schon schossen die Roboter heran und spreizten ihre Greifwerkzeuge mit Klauen und Klingen. So schnell er konnte fuhr er herum und stieß sich mit aller Kraft an einer Sprosse ab. Wenn man wusste, wie es ging, konnte man sich in der Schwerelosigkeit verdammt schnell bewegen. Während er durch regelmäßiges Abstoßen an den Wänden Fahrt aufnahm, riss er das Stumgewehr unter seinem Mantel hervor, klappte den Kolben aus, entsicherte es mit fahrigen Fingern und schoss eine Garbe in Richtung der Roboter.
Die Arachno-Bots hatten ihn schon fast erreicht. Erschreckt darüber, dass ihr Gegner bewaffnet war, wichen sie zurück und er gewann wertvolle Meter. Doch zum Transporter konnte er nicht zurück, sie würden ihn schnappen, noch bevor er die Luke verschliessen konnte. Erst musste er sie abhängen.
Immer schneller raste er den Dock-Korridor entlang, sporadisch Schüsse nach hinten abgebend. Laserschüsse knallten zurück. Sekunden, bevor er daran vorbeirauschte, erspähte er eine günstig liegende Stange, an der Kante zu einem nach oben führenden Korridor. Sofort griff er danach. Die Fliehkraft zerrte unbarmherzig an seinen Gelenken, doch er schaffte es. Ruckartig fuhr er herum und schoss in den nach oben führenden Gang. Die Roboter reagierten prompt und setzten ihm nach. Wieder und wieder schoss er, und erwischte sogar einen der kleineren. Splitternd und knisternd zerfledderte er und blieb als Trümmerwolke zurück. Schon holten die Arachno-Bots auf. Diesmal hielten sie Schutzschilde, um seine Kugeln abzuwehren. Silberne Tentakeln schnappten nach ihm.
"Verschwindet ihr Bastarde! Lebend kriegt ihr mich nicht!" Schüsse knatterten. Das Magazin war fast leer. Abermals wirbelte er herum und hastete in einen Nebengang. Hier war es dunkler, eindeutig ein weniger benutzter Dockabschnitt. Die letzten Schüsse aus dem Magazin klatschten den Verfolgern um die Ohren.
Gerade wollte er auf das zweite Magazin umschalten, als etwas Großes Metallisches mit Wucht herangebraust kam und ihn hart gegen den Türrahmen eines Seitengangs krachen ließ.
Schmerz durchfuhrschlug seinen Körper. Sein Griff löste sich, er verlor das Gewehr.
Wie Raubtiere fielen die Roboter über ihn her. Dutzende metallener Tentakeln schlangen sich um ihn. Die Klauen der Arachno-Bots umklammerten ihn eisern. Heftig versuchte er sich zu wehren, sich loszulösen, doch es hatte keinen Zweck. Je mehr er sich sträubte und zappelte, desto fester packten die Roboter zu. Aus kalten Kameraaugen sahen sie ihn dabei an. Es war vorbei. Er hatte verloren. Die Erkenntnis zog ihn nach unten, schmeckte bitter, ließ seinen Widerstand erlahmen.
Ein Agent erschien. "Warum nur? Warum? Warum hast du das getan?" fragte er.
Wimmelnd fuhren Tentakeln unter seine Kleidung. Eine Metallkanüle bohrte sich in seinen Unterarm, Tentakeln tasteten sich zu seinen BCI-Anschlüssen und fuhren in sie hinein.
Unbeschreibliche Pein durchfuhr rasend und brennend seine Gliedmaßen, einfach alles. Sein Nervensystem schien in Flammen zu stehen.
Dann umfing ihn Dunkelheit.
Vollkommene Stille. Leere.
Nichts.
*
Ein leises Blubbern.
Er spürte, wie er schwebte. Schwebte in etwas Dichtem, das seinen Körper umspülte, das um ihn herumfloss. Langsam tauchte sein Bewusstsein aus den Tiefen auf.
Bin ich tot?
Er schlug die Augen auf. Alles war verschwommen, das Medium brannte in seinen Augen. Er blinzelte ein paarmal, dann ging es. Er sah sich um.
Wo war er? Was war passiert?
Er sah an sich herab. Zwar war seine Wahrnehmung noch immer verschwommen, doch konnte sehen, das lauter schwarze Kabel aus seinem Körper kamen. Aus Anschlüssen vielleicht. Alles was er anhatte, war eine kurze Hose aus High-Tech-Fasern. Langsam erwachte sein Tastsinn. Er spürte, dass ihm etwas in der Kehle steckte. Etwas, dass auf seinem ganzen Mund quoll und von dem ein Schlauch irgendwohin nach oben führte. Es befähigte ihn zu atmen, dass fiel ihm erst jetzt auf.
Wo bin ich?
Er streckte seinen Arm aus, wollte sich bewegen. Doch nach wenigen Zentimetern stießen seine Finger gegen eine Scheibe aus Plexiglas. Seine Finger fuhren die Scheibe entlang. Sie war gekrümmt.
Mit einem Mal setzte ein lautes Gurgeln und Schlürfen ein. Ein Sog zerrte an den Kabeln, die Stellen, wo sie in die Haut gingen, taten weh, die Flüssigkeit strudelte nach unten. Die sinkende Wasseroberfläche strich an ihm vorbei, sank weiter ab. Er blinzelte. Endlich konnte er klar sehen. Die wässrige Flüssigkeit gurgelte und sickerte durch ein Lochblech, um dann zu verschwinden. Leise zischend verschwand die nasse Plexiglasröhre nach oben.
Im wurde bewusst, dass er in einer Art Tragegurt hing. Über seinem Kopf türmte sich eine unübersichtliche Apparatur, in der die Kabel verschwanden. Als er sich umschaute, fand er sich in einer Art Labor wieder. Es war düster. Nur eine Handvoll Kaltlichtlampen und Hologramme mit schematischen Darstellungen spendeten ein diffuses, fahles Licht.
Es war niemand da.
Leise klickend lösten sich plötzlich die Kabel und Schläuche an seinen Gliedmaßen. Nur das Mundstück steckte noch in seiner Kehle. Wasser tropfte an ihm herab. Ihm war kalt. Behutsam legte er die Hände an das Mundstück und begann daran zu ziehen. Langsam und vorsichtig.
Doch wie das Ende des Schlauches über seinen Rachen strich, löste es einen unbeherrschbaren Würgereiz aus. Röchelnd und keuchend hielt er inne. So ging es nicht.
Er holte tief Atem, sog die kühle Luft ein. Dann packte er das Mundstück und riss es mit einem Ruck aus seiner Kehle. Sofort löste sich der Tragegurt und er klatschte würgend und hustend auf das perforierten Metallblech, welches den Boden seines Tanks bildete. Zitternd vor Kälte richtete er sich langsam auf, war noch etwas wackelig auf den Beinen. Wenn hier doch nur ein Handtuch irgendwo zu finden wäre.
Aber nichts dergleichen. Nur matt glänzende, unübersichtlich komplizierte Labortechnik. Nicht weit von ihm machte er eine Tür aus. Sie war allerdings nur mit einer nichtsagenden Nummer in Schablonenlettern beschriftet.
Wie bin ich hierher gekommen? Was soll ich hier?
Dann versuchte er sich zu erinnern. An das was war. Die Finger gegen die Schläfen gepresst, kauerte er sich neben den Sockel seines Tanks und ging in sich. Wurde dabei immer panischer. Kämpfte gegen die Leere an, die Dunkelheit, das Nichts in seinem Kopf. Ein Monster formte sich in seinem Bauch. Ein zuckendes, schwarzes Monster aus Panik und unendlicher Verlorenheit; tiefer, dunkler Verzweiflung.
Er konnte sich an nichts mehr erinnern.
Nichts.
Nicht einmal seinen Namen.
Das Monster in seinem Inneren wütete, raste aus der Tiefe seines Inneren empor. Wurde zu einem Schrei, der gen Himmel fahren wollte. Ein Schrei aus der Tiefe.
"WER BIN ICH?"
*
"Ihnen war schon klar, das er durch diesen Eingriff sein gesamtes biographisches Gedächtnis verlieren würde, oder?"
Dr. Klein stand auf, durchquerte das Labor und füllte seine Kaffeetasse an der bereitstehenden Kaffeemaschine.
Der große, hagere Mann im anthrazitgrauen Anzug, der sich Dr. Klein als Ryo, Zuständiger vom Sicherheitsdienst vorgestellt hatte, nickte bloß. "Soweit ich informiert bin" sagte er schließlich "ist das nicht irreversibel, da bei dem Eingriff ja nur die entscheidenen neuronalen Strukturen aus seinem Gehirn entnommen wurden. Es ist also nicht so, als ob die Neuronen seines Langzeitgedächtnisses isoliert wären."
Dr. Klein setzte sich wieder auf seinen Sessel und drehte sich den holographischen Monitoren zu, die Bilder und Daten von allen wichtigen Stationen des Labortraktes zeigten. Ein paar holographisch in der Luft schwebene Quader zeigten aber auch Bilder aus einem Zimmer, das nicht zum Labortrakt gehörte. Es war geschmackvoll eingerichtet. Ein Mann saß dort an einem Schreibtisch und besah sich gerade mit neugierigem Interesse eine antike Uhr. Ein paar andere Sachen, die er, bevor er aufgegriffen wurde, bei sich gehabt hatte, lagen auf dem Bett hinter ihm.
"Mein Gott, muss das schrecklich für ihn gewesen sein." seufzte Dr. Klein. "Stellen Sie sich das mal vor: ihr Gedächtnis, komplett ausradiert. "
Ryo nickte nur. Dr. Klein nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
"Sicher muss es schrecklich für ihn gewesen sein." sagte Ryo schließlich. "Aber wenn Sie wüssten, was ich weiß und was dieser Mann gewusst hat, hätten sie genauso gehandelt. Ich kann Ihnen nur sagen: er war eine Gefahr. Was er wusste, muss auf jeden Fall geheim bleiben, das ist für den Konzern von fundamentaler Bedeutung." Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Dr. Klein.
"Verdammtes Pech ist nur, das er zu früh aufgewacht ist." antwortete Dr. Klein etwas wehleidig. "Wir hätten uns genau überlegen sollen, wann und wie er aufwacht."
"Wie auch immer. Ich hab jedenfalls ein Psychologenteam damit beauftragt, sein biographisches Gedächtnis assoziativ zu reaktivieren. Wenigstens konnten wir ihn beruhigen und nach einer Nacht in einem noblen Zimmer haben wir ihm seine Sachen gebracht. Wir haben übrigens seine Freundin, Anna Webknecht aufgespürt. Sobald er glaubt, das ihm die Sachen mal gehört haben, lassen wir sie zu ihm. "
Dr. Klein nickte und nahm noch einen Schluck Kaffee. Lautlos blinkten die sich ab und zu verändernen Schemen, Diagramme, Graphen und Listen, die der Computer anzeigte. Als Neurobiologe wusste Dr. Klein, worauf Ryo hinauswollte. Durch gezieltes Ansprechen von Erinnerungen sollte das Gedächtnis dieses Mannes, der zuviel wusste, rekonstruiert werden. Jetzt, nachdem der Eingriff vorgenommen war, und die neuronalen Strukturen, die dieses fatale Wissen codiert hatten, entfernt waren, konnte die Rekonstruktion gefahrlos vorgenommen werden. Das war das Problem. Das Gedächtnis des Menschen war nun einmal eine viel zu komplexe Sache, als das man einfach nur eine bestimmte Information entfernen konnte, ohne dabei unweigerlich Einfluss auf das Gesamtsystem zu nehmen. Und niemand wusste bisher genau, wie sich so ein Eingriff langfristig auf das Gehirn und die Psyche auswirken konnte.
"Eins interessiert mich aber schon. Was um alles in der Welt ist das nur, was er nicht wissen durfte? Und was ist das für ein gefährliches Wissen, das diesen Eingriff rechtfertigt?" wollte Dr. Klein wissen.
Ryo sah ihn finster an.
"Das wollen Sie nicht wirklich wissen. Nicht in seiner vollen Dimension."
"Ich habe Sicherheitsstufe B." merkte Dr. Klein an.
Ryo beugte sich vor. "Dann hören Sie zu. Aber merken Sie sich: Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Denn wenn sie davon irgendeiner Menschenseele erzählen, ist das ihr sicherer Tod. Trotzdem kann ich ihnen nur den Kern der Sache verraten."
Dr. Klein nickte ernst.
Ryo schaute sich um, vergewisserte sich, das die Tür geschlossen und niemand in der Nähe war, der lauschen könnte.
"Es ist nämlich so, das Nantrans einen 'Durchbruch' auf dem Gebiet der intelligenten Aerosole erzielt hat: Ein Aerosol, das dazu verwendet werden kann um ... um ... Menschen zu KONTROLLIEREN. Und KEINER kann es nachweisen!"
Dr. Klein hatte das Gefühl, als hätte jemand einen Eimer Eis in seine Blutbahn geschüttet. Das war ja unfassbar! Das konnte das Ende der Freiheit bedeuten! Er war sprachlos.
"Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Es gibt noch eine ganze Menge übler Geschichten voller Betrug, Verrat, Grausamkeiten und Möglichkeiten, die sich um diese Technologie ranken und er hier " Ryo deutete auf den Holo-Quader der das Zimmer mit dem Mann zeigte. " er hat alles gewusst. Einfach alles. Deswegen mussten wir ihn kriegen. Zum Glück haben wir nur sehr wenig von diesem Aerosol und das ist sicher verwahrt. Denn ich muss ehrlich sagen: mir ist das Ganze auch nicht geheuer."
Dr. Klein sah ihn an. "Aber keine Angst, ich bin nicht so verrückt wie unser Herr Claudius Schmidt." Er deutete auf den Holo-Quader mit dem Zimmer, in dem Claudius Schmidt gerade nachdenklich vor einem PDA aus seinem Besitz saß.