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Flucht
Der Nachtbus ist bis auf die drei Jungs und mich leer. Meine Freundin habe ich in der Bar gelassen und sie dem hübschen Typen mit der Brille zurückgelassen. Eigentlich hatte sie mich zu einem netten gemeinsamen Abend eingeladen, weil wir lange schon nichts mehr unternommen hatten. Ich solle mich wieder einmal unter Menschen wagen, hatte sie mir halb im Scherz gesagt, ich würde mich zu sehr für meine Arbeit aufopfern. Wir hatten Spaghetti Bolognese gekocht, wobei sie mir das Zwiebelschneiden überlassen hatte. Wir kochen immer Spaghetti Bolognese, ich kann mich nicht erinnern, etwas anderes zusammen gekocht zu haben, und ich muss die Zwiebeln schneiden. Wie früher musste ich lachen vor lauter Tränen, so heftig, dass wir beide lachend am Boden lagen. Dann sind wir ausgegangen und durch die Stadt gezogen, bis wir diesen Typen angetroffen haben. Aus dem netten Abend ist dann nichts geworden, als gute Freundin habe ich mich diskret zurückgezogen. Sie war auf den ersten Blick verknallt, und er wahrscheinlich auch. Mir passiert nie so etwas. Nur den anderen. Das letzte Mal als... ach was. Ich wüsste nicht, ob ich es ertragen könnte, ob ich glücklich sein könnte, ohne ständig an ihn denken zu müssen. Nein, wahrscheinlich könnte ich es nicht, ich will es auch nicht.
Einer der drei Jungs, der mit dem bescheuerten Baseballcap, hockt breitbeinig da, grinst zu mir herüber und macht eine obszöne Geste. Seine Freunde lachen blöde. Ich versuche selbstsicher zu bleiben und ignoriere sie. Halbstarke, pubertierende Jungs, rede ich mir ein. Ganz überzeugt bin ich nicht, sie scheinen es zu merken und lachen. An der nächsten Haltestelle steige ich aus. Sie fahren weiter.
Erleichtert spanne ich den Schirm auf, der mich jedoch nicht gänzlich vor dem feinen Nieselregen schützt. Es ist nicht sehr weit, ich biege in die nächste Nebenstrasse ein. Jedes Mal, wenn ich mich einem dunklen Hauseingang nähere, den das fahle Licht der Strassenlaternen nicht zu erhellen vermag, beschleunige ich meinen Schritt. Endlich vor der Haustüre angelangt, schüttle ich das Wasser vom Schirm, trete ein, steige die Treppe in den ersten Stock hinauf, öffne die Wohnungstür und schliesse diese zuletzt erleichtert ab. Den Schlüssel lasse ich stecken.
Ich habe zwar keinen richtigen Hunger, aber trotzdem Lust auf etwas Süsses. Schokolade. Schokolade macht glücklich. Ich schaue nach, finde aber nur noch ein letztes kleines Stück, den Rest der Tafel muss ich in einer Fressattacke gegessen haben. Also gehe ich zum Kühlschrank, der, wie ich feststellen muss, nur noch ein angeschimmeltes Sandwich, eine Karotte und ein wenig Käse enthält.
Trotzdem versuche ich, es hinauszuzögern und schalte den Fernseher ein, aber wie erwartet laufen jetzt nur noch nicht ganz jugendfreie Programme. Ich drücke den roten Knopf und schaue auf die Uhr. Halb drei. Gut, ich trotte widerwillig ins Bad und putze die Zähne, lasse mir dabei aber Zeit. Meine Augen brennen bereits vor Müdigkeit, aber ich will nicht schlafen. Nur ungern erinnere ich mich daran. Die Träume. Jede Nacht.
Vor mir eine zugemauerte Wand. Der Mörtel ist noch frisch. Ich entferne die Ziegelsteine und erschrecke, kann aber nicht schreien. Ein lebloser Körper hängt vor mir, in blutige Leintücher gewickelt. Baumelt mit einem Strick um den Hals vor meinen Augen. Es ist ein Kind. Ich kann mich nicht bewegen, will fliehen, davon rennen, bleibe jedoch wie angewurzelt stehen. Dahinter quellen jetzt noch mehr solcher Körper hervor, allesamt Tote, verdeckt durch weisse Tücher, ohne Identität. Endlich kann ich laufen. Ich renne weg, versuche mich vor meinen Verfolgern zu verstecken. Vielleicht finden sie mich nicht, wenn ich durch den Fluss schwimme...
Das Bild habe ich noch vor mir, ich muss dazu nur die Augen schliessen. Dankbar, aufgewacht zu sein, habe ich mir heute Morgen, nach der täglichen eiskalten Dusche, einen Kaffee gemacht und Radio gehört. Radio bringt mich wieder in diese Welt. Doch das schreckliche Bild ist geblieben, so wie das ständige Gefühl, verfolgt zu werden.
Ich bin Frühaufsteher. Manchmal bin ich schon um vier Uhr Morgens wach, danach schlafe ich nicht wieder ein, weil ich Angst davor habe. Aber man kann es drehen wie man will, Abends bin ich erschöpft und falle nach einem langen Tag ins Bett. Vor zwei Tagen, nach der Rückfahrt von der Büchermesse, bin ich sofort eingeschlafen, ohne die Kleider gewechselt zu haben.
In meiner Hand spüre ich das kalte Eisen, es verleiht mir ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Es ist noch still, ich sitze in einer Ecke und warte. Der fensterlose Raum ist kahl. Sie werden kommen. Unten höre ich schon das rhythmische Stampfen. Sie rennen gegen die Burg an. Verzweifelt blicke ich zur Bodenluke. Man kann sie nicht schliessen. Ein gewaltiges Krachen, sie haben das Tor gesprengt. Jetzt höre ich, wie sie sich nähern. Ich versuche mit allen Mitteln, die Luke zu versperren, aber das Holz ist zu schwach. Von unten stürmen sie herauf, kalter Schweiss rinnt an meinem Körper herab. Die Wände rücken näher zusammen, verziehen sich, wie wenn ich Fieber hätte und sich alles um mich dreht. Meine Kehle schnürt sich zu.
Meine Hände fahren über die vernarbte Stelle. Die Naht ist verheilt, doch ich habe das Gefühl, immer noch zu bluten. Ich kann immer noch nicht begreifen, wie ein einziger Moment ein Leben auslöschen kann. Nein, zwei Leben. Das Kind.
Sie verfolgen mich, diese grellen Scheinwerfer des Lasters, der auf uns zurast. Ich weiss nicht, wieso ich es überlebt habe, ich wünschte, ich wäre auch gestorben mit denen, die ich liebe, wünschte, jetzt mit ihnen im Paradies zu sein. Aber wenn es kein Paradies gibt?
Die verrauchten Kleider werfe ich in den Wäschekorb und ziehe meinen Pyjama an. Da fällt mir ein, dass im Vorratsschrank doch noch eine Packung Kekse sein muss... Mist. Habe die Zähne schon geputzt.
Zähne, grosse, weisse, scharfe Zähne schnappen nach mir. Die Nazis in ihren braunen Uniformen haben Hunde auf mich gehetzt. Ich versuche, über den Maschendrahtzaun zu klettern, aber ich schaffe es nicht. Die anderen sind drüben. Noch einmal sammle ich alle Kraft, aber ich komme nicht los. Wieder schnappen die Zähne nach meinen Beinen, erwischen nur Luft. Aber es wird knapp, meine Füsse finden keinen Halt. In der Ferne noch mehr bellende Hunde, alle hinter mir her. Der dünne Draht schneidet immer tiefer in meine blutigen Hände, die sich nicht länger halten können. Ich falle.
Es gibt Momente, da öffnet sich vor uns der Abgrund unserer Seele. Plötzlich stehen wir davor und blicken hinab, erstaunt und erschrocken zugleich. Eigentlich ist der Abgrund schon immer da gewesen, er wird auch immer da bleiben, aber uns ist es nicht bewusst, wir übersehen ihn, da er so dunkel ist. Keiner schaut gerne da hinunter, es ist, als öffne sich vor uns die Unterwelt. So hatten sich die alten Griechen vielleicht den Hades vorgestellt. Genau weiss ich es nicht.
In eben diesen Momenten fällt ein Lichtstrahl in den Abgrund und erleuchtet ihn, doch man wünscht sich lieber die Finsternis herbei. Denn das, was sich unseren Augen darbietet, erschüttert uns zutiefst. Menschen, die keinen festen Stand haben, schwanken, versuchen das Gleichgewicht zu halten. Vergebens. Sie stürzen hinunter, können sich vielleicht noch an einem Ast halten – nicht lange, denn diese dünnen Äste vermögen das schwere Gewicht nicht zu halten, sie brechen unter der Last. Und während dem Fall entfernt sich der Lichtstrahl immer mehr bis er verschwindet. Darauf schliesst sich der Abgrund.
Ein kaltes Bett erwartet mich. Ich wünschte, er wäre hier, wünschte, seine Wärme zu spüren, um nicht in die endlose Schwärze zu fallen. Wenn ich alleine im Bett liege, muss ich unwillkürlich ans Krankenhaus denken, an das einsame Zimmer. Danach habe ich alle weisse Bettwäsche entsorgt und mir bunte Sachen gekauft. Ein bisschen geholfen hat es.
Vielleicht hilft es mir jetzt, im Buch weiter zu lesen. Terry Pratchett heitert mich sonst immer auf, aber ich kann meine Augen kaum mehr offen halten, die Buchstaben vor mir verschwimmen und fangen an zu flimmern. Ich lösche das Licht, aber gleichzeitig versuche ich, es wieder zu finden. Langsam taste ich mich weiter, doch die scharfen Felskanten zerkratzen meine Hände. Ich sehne mich nach dem Lichtstrahl, der mir eines Tages den Weg nach oben zeigt.