Flucht
Die Meter werden zu Kilometer, die sich immer weiter aneinander reihen und sie immer mehr von allem trennen. Das atmen fällt leichter. Gedankengänge erscheinen ihr nicht mehr ganz so verworren, wie noch vor wenigen Stunden. Alles erscheint klar und irgendwie logisch. Aber vor allem ganz weit weg, so weit, dass es sie fast gar nicht mehr interessiert. Fast. Ganz wäre gelogen. Sie lügt sich nicht an. Das hat sie oft versucht und nun fast vollständig aufgegeben. Mit einer Hand am Lenkrand schaut sie aus dem Fenster, stellt fest, dass sie diese Straße nicht kennt, nicht weiß, wo sie hinführt. Sie wird Probleme haben zurück zu finden. Schnell schiebt sie den Gedanken davon, konzentriert sich auf die Straße und verfolgt die Mittelstreifen der Fahrbahn, die vor ihrem Wagen verschieden und ihr zeigen, dass sie sich fortbewegt, dass sie keine Rückschritte macht. Eine kleine Lüge, die sie sich da vorgibt, eine, die zu verzeihen ist. Sie macht Fortschritte. Wenn sie das nicht mehr glaubt, was soll sie dann noch tun. Diese Unwahrheit ist wichtig und gestattet, in ihrer Welt.
An einer kleinen Raststätte stoppt sie das Auto und setzt sich an einen Tisch am Fenster, bestellt nur etwas zu trinken, nichts zu essen. Sie hat keinen Hunger, hat den Appetit schon lange verloren. Nahrung ist nur ein Mittel um den Tag zu überleben, mehr nicht. Sie isst, wenn sie hungrig ist. Trinken ist wichtig. Die Bedienung, ein junger Mann Anfang Zwanzig lächelt sie nett an. Er hält sie für älter, würde nie darauf kommen, dass sie erst Achtzehn geworden ist, vor wenigen Monaten. Sie gibt ihm ein Nicken zurück, kann sich kein Lächeln abringen. Vielleicht hat sie schon zu lang das Schauspiel durchgehalten. Die Maske gewahrt um es jetzt noch tun zu können. Der Kellner sagt nichts, fragt nicht, ob es ihr gut geht. Warum auch? Jeder ist für sein Schicksal verantwortlich. Während sie abwesend aus dem Fenster blickt trinkt sie das Glas Cola aus und ist sich nicht sicher, ob sie nicht besser nach Hause fahren sollte. Noch hat ihr Verschwinden bestimmt noch keiner bemerkt. Noch könnte sie sich in ihr Bett verkriechen, um dort die Nacht zu verschlafen und sich so vor der Welt verstecken. Entschlossen steht sie auf, lässt genug Geld auf dem Tisch liegen und fährt weiter.
Die Nacht breitet sich über sie aus, zieht eine dicke, warme Decke über sie und wiegt sie seicht in den Schlaf. Bevor sie die Müdigkeit übermannt hält sie an einem Motel und mietet eins der Zimmer. Es ist kühl und als sie sich in die Laken einhüllt kehrt der Schlaf nur Schrittchenweise zurück, entzieht sich ihr immer und immer wieder, bis sie es fast aufgibt und sich erst dann die Erschöpfung des Tages verbreitet und sie ins Reich der Träume entlässt. Am nächsten Morgen wacht sie zerwühlt auf, hat nicht gut geschlafen, kann sich zwar an keinen Traum erinnern, weiß aber, dass sie vorhanden und nicht von der schönen Sorte waren.
Stunden auf der Straße, knüpfen an weitere an und sie hat das Gefühl, dass die Last auf ihr wieder größer wird. Irgendwann fährt sie auf einen Parkplatz in irgendeiner Stadt und sitzt dort im Kofferraum ihres Autos, unschlüssig, was nun geschehen soll.
Fast zwei Tage ist ihre Flucht her. Ihre Eltern machen sich sicher Sorgen, so wie sie es immer tun. Die Schule hat sie auch versäumt und die Party zum Geburtstag einer ihrer Freundinnen. Kann sie denn überhaupt wieder zurück? Wäre es nicht besser, wenn sie einfach weiterfahren würde und nie wieder kehrte? Sie weiß, dass sie bald den Weg Heim antreten wird, dass diese Gedanken nette Hirngespinste sind, mehr aber nicht. Sie kann nicht bleiben, nicht einfach das Weite suchen. Sie trägt Verantwortung, mehr als sie sich eingestehen will, mehr als gut ist. Sie kann nicht fliehen. Ist gefangen und glücklich darüber. Jeder braucht einen Platz, an den er gehört und die Verantwortung gibt ihr das Gefühl, als gehörte sie dort hin. Auch eine kleine Lüge, die ebenfalls gestatt ist, die ihr ebenfalls nicht schaden wird, sondern sie davon abhält verrückt zu werden. Zu verzweifeln und aufzugeben.
Schließlich setzt sie sich wieder hinters Steuer und fährt los, das Ziel ist klar. Nicht so wie zuvor. Heimat wird es genannt. Blind findet sie ihren Weg, spürt die Schwere noch drückender als vor ihrem kleinen Ausflug. Kurz denkt sie daran wieder zu fliehen, so schnell wie möglich weg von hier zu kommen. Sie will sich noch einmal so leicht fühlen, weiß, dass sie selbst, wenn sie jetzt wieder fahren würde ein solches Gefühl nicht zurückbekäme. Sie wird hier gebraucht. Der Motor heult noch einmal auf bevor sie ihn ausstellt und aussteigt. Der Mond scheint auf sie herunter, tausende Sterne leuchten und erhellen ihr den Weg die kleine Auffahrt hoch. Unentschlossen bleibt sie vor der Tür stehen, lässt sich die Alternativen durch den Kopf gehen und ist ehrlich. Es gibt keine. Sie klingelt, hat einen Schlüssel, traut sich nicht ihn zu benutzen, fühlt sich nicht zu Hause.
Ihre Mutter öffnet und winkt sie herein, lächelt und sagt nur, dass sie rechtzeitig zum Essen kommt. Ihr Vater sitzt am Tisch und lächelt ebenfalls. Sie lächelt nicht, setzt sich an den großen Holztisch und schaut auf das Essen herab, dass ihre Mutter auf ihren Teller schaufelt. Sie hat immer noch keinen Hunger, ist sich nicht sicher, ob sie je wieder Hunger haben wird. Ihre Eltern reden über den Tag, fragen sie wie die Schule war, sehen die Tränen nicht, die ihrer Tochter über die Wangen rollen, wissen nicht, dass sie zwei Tage weg war, sehen nur sich. Sie lächelt, reiht sich in den Kreis ihrer Lieben ein, isst und gestattet sich noch einen kleinen weiteren Betrug an sich selbst: Es ist okay.