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Flucht
Na also, das war ein Ausbruch der Sonderklasse. Wie gern würde er ihre Gesichter sehen, wenn ihnen auffällt, dass er verschwunden war. Endlich wieder frei. Auf diesen Augenblick hat er so lange gewartet. Genüsslich zieht er die frische Luft in seine Lungen und atmet sie langsam wieder aus. „Ich darf jetzt keine Zeit verlieren. Als erstes muss ich raus aus der Stadt, denn hier bin ich auf keinen Fall sicher.“ Mit diesen Gedanken setzt er sich in Bewegung. Er spürt seinen hämmernden, immer schneller werdenden Puls. „Lange werde ich dieses Tempo nicht durchhalten können“, denkt er sich und überquert die nächste Straßenkreuzung. Dass die Ampel rot zeigt, interessiert ihn nicht. Er biegt um die nächste Straßenecke und dann noch zweimal ab. Er kennt sich in der Stadt zwar nicht aus, aber seine Orientierung funktioniert noch so gut wie vor acht Jahren.
„Acht Jahre, mein Gott, acht verlorene Jahre“, geht es ihm durch den Kopf, „die besten Jahre meines Lebens verschwendet.“ Dabei kann er sich nicht einmal mehr erinnern, weshalb er eingesperrt wurde. Aber wie er von Anfang an gelitten hat, spürt er noch genau. Das Schlimmste war für ihn die nicht enden wollende, quälende Langeweile. Der Blick durch die Gitterstäbe zeigte immer die gleichen Bilder, immer die gleiche Trostlosigkeit. Dazu kam das Gefühl der Enge, das ihm täglich wie ein Biedermeier-Korsett die Brust zuschnürte. Kein Entkommen, kein Entrinnen und keine Hoffnung. Es gab Tage, an denen er sich den Tod herbeisehnte. Lieber tot, als weiter gedemütigt und eingesperrt.
Aber gestern Abend, nach acht unerträglichen Jahren, ergab sich eine unerwartete Gelegenheit. Die nur nachlässig verschlossene Tür gab auf Druck nach und ließ sich dann problemlos öffnen. Anschließend lief alles reibungslos.
„Wahrscheinlich suchen sie mich bereits. Ich muss unbedingt weiter.“ Nervös schaut er sich nach allen Seiten um. In einiger Entfernung kann er einen großen, nicht sehr belebten Park erkennen. „Wenn ich es bis dahin schaffe, kann ich mich verstecken und ein wenig ausruhen. Wann habe ich eigentlich zuletzt etwas zu mir genommen? Egal“, denkt er, schüttelt sich und setzt sich mit den letzten Kräften in Bewegung. Er erreicht den kleinen See am Rande des Parks und lässt sich hinter dem Gebüsch nieder. „Geschafft!“ - dann wird es dunkel.
Er spürt, dass man ihm etwas über den Kopf geworfen hat, eine Decke, vielleicht aber auch ein Jacke. Er hört Stimmen. „Mutti, Mutti, sieh mal was ich gefangen habe. Darf ich den behalten?“ „Ja, meinetwegen, ich glaube, wir haben noch einen alten Käfig auf dem Speicher. Pass aber auf, dass er nicht wegfliegt - in Freiheit ist er doch verloren…“