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Flug des Adlers
Der Flug des Adlers
Erschöpft von dem langen Stück, dass er bergauf geradelt war, stieg Jonas von seinem Fahrrad und schob es die letzten Meter. Er warf einen Blick zurück und sah die Kirchtürme, Fabrikschlote und Hochhäuser von Mainz hinter einem Hügelkamm hervorschauen.
Der Achtzehnjährige keuchte, seine einstmals gute Kondition hatte unter dem ständigen Rauchen gelitten und außerdem war es ein erdrückend heißer Tag. Er strich sich eine Strähne seines mittellangen, blonden Haares von seiner schweißnassen Stirn und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Höhe.
Der Himmel über ihm war strahlend blau, und die Sonne stand jetzt am frühen Nachmittag im Zenit. Keine Wolke spendete Schatten. Den einzigen Kontrast zu dem tiefen, reinen Blau des Himmels bildete ein großer Vogel, der weit oben über Jonas seine Kreise zog.
Langsam ging Jonas’ Atem wieder ruhiger, und er genoss wie jedes Mal, wenn er sich auf den Weg zu seinem Lieblingsplatz machte, die Ruhe, die lediglich vom leisen Surren seines Fahrrads unterbrochen wurde. Spatzen riefen einander und tanzten einige Meter über ihm in der Luft. Links vom Fahrradweg sah Jonas einige Kühe, die auf ihrer weide lagen und mit dem Schwanz die Fliegen vertrieben.
Kein Radfahrer und kein Auto störte seine gesuchte Einsamkeit. Am Montagnachmittag hatten die wenigsten seiner Mitmenschen die Muße, sich allein in die Natur zurückzuziehen, für ihn als Schüler dagegen war Freizeit so ziemlich das einzige, was er massenhaft besaß.
Jonas erreichte bald den höchsten Punkt der Anhöhe und er hörte bereits das dumpfe, eintönige Brummen der Autobahn im Tal. Er betrat die Überführungsbrücke, lehnte sein Fahrrad gegen das Geländer und setzte sich selbst auf den Boden des Radweges. Der schwarze Asphalt reflektierte das Sonnenlicht und machte die Hitze fast unerträglich, aber glücklicherweise wehte ein leichter Sommerwind durch das Tal, der sein verschwitztes Gesicht kühlte.
Jonas griff nach seiner Tasche, nahm die Wasserflasche und trank einen großen Schluck. Dann blickte er sich noch einmal um, ob sich nicht wieder Erwarten ein Passant oder Fahrradfahrer nährte, und suchte die verschiedenen Gegenstände heraus, deren Benutzung für ihn mittlerweile ein eingespieltes Ritual darstellte. Die extralangen Blättchen, ein Stück Pappe für den Filter, sein Feuerzeug und die kleine metallische Dose.
Mit geübten Handgriffen formte er das Papier, legte den rasch gebauten Filter am hinteren Ende hinein und hielt sein Werk mit der linken Hand fest, während er mit der rechten seine Dose öffnete. Vorsichtig kippte er sie, bis die Gras-Tabak-Mischung in die konisch geformte Tüte rieselte. Als er genug von dem grob zerkleinerten, grün-braunen Pulver entnommen hatte, schloss er sorgfältig das Metalldöschen mit dem wertvollen Inhalt und widmete sich wieder seinem Joint.
Kaum war dieser fertig, zündete er ihn auch schon an und ließ zunächst das überstehende Papier am vorderen Ende abbrennen, bevor er seinen ersten Zug nahm. Jonas inhalierte tief, behielt die Luft lange in sich und atmete schließlich kontrolliert aus. Der Rauch spielte einige Sekunden vor ihm im Wind, bevor eine Böe ihn davon trieb.
Leicht betäubt vom ersten, tiefen Zug stand Jonas mit langsamen, etwas unsicheren Bewegungen auf und lehnte sich über das Geländer.
Er liebte es, auf die fahrenden Autos herabzublicken und sie zu beobachten. Die Vorstellung faszinierte ihn, dass er die Menschen in den Autos vermutlich zum ersten und zugleich letzten Mal sehen würde. Für einige Sekunden kreuzten sich ihre Lebenswege, die Autofahrer, deren Gesichter er gelegentlich erkennen konnte, wurden für kurze Zeit ein Teil seines Lebens, und wenn sie den Blick etwas nach oben richteten, würden sie auch ihn auf der Autobahnbrücke erblicken und er würde ein Teil ihres Lebens, ihrer Geschichte werden.
Er nahm noch einen tiefen Zug und blickte wieder auf die Autobahn hinab. Ein sehr schneller Sportwagen fiel ihm auf, der schrill pfeifend überholte, sich wieder einordnete und erneut beschleunigte. Der Familienwagen – ein Passat – den er überholt hatte, begann zu blinken, fuhr auf der rechten Seite auf den Abbiegefahrstreifen und verschwand aus Jonas’ Blick.
Wahrscheinlich nörgelten die Kinder weil die Fahrt schon so lange dauerte, hatten das unübersehbare „McDonalds“-Schild am Straßenrand bemerkt und ihren genervten Vater zu einem Zwischenstopp überredet.
Er war ebenso ein Kind gewesen, und hatte es seinen Eltern sicher nicht einfach gemacht. Aber an Geduld und Toleranz waren die beiden, besonders sein Vater, kaum zu übertreffen. Jonas’ Vater war ein friedlicher, leicht übergewichtiger Mitfünfziger mit einem kurzgeschnittenen Vollbart. Man konnte ihn wohl einen „Altachtundsechziger“ nennen. In Jonas’ Heimatdorf, einem Vorort von Mainz mit 1500 Einwohnern war sein Vater, der Gymnasiallehrer Wolfgang Breuer, angesehen und beliebt. Er engagierte sich in der Kirchengemeinde, in diversen Bürgerinitiativen und saß seit fünfzehn Jahren für die SPD im Gemeinderat. An der Universität hatte er neben Marx und Sartre auch Rousseau und Bakunin gelesen, und er hielt große Stücke auf die antiautoritäre Erziehung. Jonas selbst erinnerte sich nur an einen einzigen Fall, indem sein Vater aus der Rolle gefallen war.
Jonas war etwa zwölf Jahre alt gewesen, und hatte zusammen mit zwei Freunden von eben der Brücke, auf der er heute alleine seine Tüte rauchte, Steine auf Autos geworfen.
Es passierte glücklicherweise nichts, aber ein Passant informierte die Polizei, und Jonas wurde von zwei Beamten, die sein Vater persönlich kannte, nach Hause gebracht.
Damals hatte sein Vater ihm die einzige Ohrfeige seines Lebens verpasst.
Noch am selben Abend hatte der Vater sich bei ihm entschuldigt. Damals kam es Jonas komisch vor, dass ein Erwachsener sich bei einem Kind wie ihm entschuldigte, und heute fand Jonas, dass sein Vater völlig richtig gehandelt hatte.
Langsam entfaltete das Gras seine Wirkung. Wenn er rauchte, spürte er wie sich der Rauch samtig an seine Zunge schmiegte, und es kribbelte in ihm, wenn seine Lunge mit diesem herrlichen, weißgrauen Friedensbringer gefüllt war.
Als sein Vater zum Beispiel vor etwa einem Jahr ein Tütchen Gras in Jonas’ Zimmer entdeckt hatte, blieb er vollkommen ruhig. Er erzählte Jonas von einigen seiner ehemaligen WG-Mitbewohner, die auch schwer gekifft hatten und „drauf abgestürzt sind“, wie sein Vater sich ausdrückte. Er sagte Jonas, er solle vorsichtig sein und sich gut überlegen, ob er das Richtige tue. Elternsprüche eben.
Jonas widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr.
Ein LKW mit spanischem Kennzeichen rollte in südlicher Richtung unter ihm entlang. Wahrscheinlich ein Familienvater, der sich nun nach langer, anstrengender Fahrt auf den Weg zu seiner Familie machte. Oder zu seiner hübschen, südländischen Freundin...
Seine Gedanken schweiften ab, und er musste an Nina denken. Für ihn war sie das schönste Mädchen in seinem Schuljahrgang. Er dachte an ihre blonden, spielerisch hochgesteckten Haare, ihre leicht solariumsgebräunte Haut und ihre blaugrünen Augen. Die Mehrzahl seiner männlichen Mitschüler, die in den Mainzer Discotheken ihre Wochenenden verbrachten, hätte an ihr sicher etwas auszusetzen gefunden. Der Busen zu klein, keine perfekte Taille, keine hochhackigen Schuhe, keine bauchfreien Tops.
Aber die hatten sicher noch nie bemerkt, wie süß ihr lautes und ehrliches Lachen klang, wenn Jonas ihren schrägen, cleveren Humor mal wieder voll getroffen hatte. Oder ihren niedlichen Blick, wenn sie sich bei der Beantwortung einer Lehrerfrage nicht ganz sicher war und mit leicht errötetem Gesicht hilfesuchend zu Jonas herüber sah. In solchen Momenten wollte Jonas sie einfach in die Arme schließen und eng an sich drücken.
Ob er verliebt in sie war, wusste Jonas in letzter Zeit selbst nicht. Nina hatte seit Jahren einen festen Freund, und sie hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass zwischen ihr und Jonas eine enge und intime Freundschaft, aber eben nur eine Freundschaft bestand.
In letzter Zeit war Jonas jedoch aufgefallen – zumindest erschien ihm das so – dass sich Ninas Verhalten ihm gegenüber verändert hatte. Wenn sie zusammen am Tisch saßen und ihre Beine oder Hände sich leicht berührten, wich sie dieser Berührung nicht aus. Und manchmal, nur ganz manchmal, glaubte er in ihrem Blick mehr als nur freundschaftliche Gefühle zu erkennen.
Das energische Hupen eines LKW zerriss Jonas’ Gedanken. Er nahm noch ein paar Züge und warf den aufgerauchten Joint auf die Erde. Die Tasche nahm er wieder auf den Rücken, trank noch einen Schluck Wasser und schwang sich wieder aufs Fahrrad. Nun ging es bergab, und Jonas rollte schnell seinem Ziel entgegen. Der Fahrtwind vertrieb die Hitze des Sommertages mit Leichtigkeit.
Nach wenigen Minuten machte er halt, warf sein Fahrrad ins Gebüsch und stieg einen bewachsenen Abhang hinab.
Er stolperte über das vertrocknete Gras und kam schließlich im Tal zum Stehen.
Endlich war er da angekommen, wo er schon so viel Zeit verbracht hatte wie sonst wohl nur in seinem Zimmer zu Hause. Schlechte Klausuren, Ärger mit Lehrern, Streit mit seinen Freunden, alles vergaß er, wenn er sich in dieses Stück unberührter Natur zurückzog.
Vor ihm lag der kleine Weiher, an dessen Ufern alte, schwermütige Eichen standen. Rund um das Gewässer erstreckten sich Schilfhalme, und im tieferen Wasser prägten Seerosen das Bild. Es war wunderbar ruhig, nur entfernt hörte man die Autobahn rauschen. Ein Vogel sang in dem Baum direkt über Jonas, der sich längs auf seinem Stammplatz niedergelassen hatte. Das Moos war etwas feucht, und die großen Bäume spendeten den ersehnten Schatten. Seine Tasche unter seinem Kopf, legte sich Jonas flach auf den Rücken und blickte durch das Geäst in den Himmel, der noch immer so strahlend blau war, dass man sich darin verlieren könnte.
Jonas versuchte, einfach an nichts zu denken, den Kopf frei zu kriegen und sich nur zu entspannen.
Nach einiger Zeit völliger Stille sensibilisierte sich Jonas’ Gehör, und er nahm die zahllosen kleinen Geräusche der Natur wahr.
Über ihm surrte eine Biene oder eine Hummel, die sich langsam entfernte und schließlich verstummte.
Ein leises Plätschern vom Wasser her verriet, dass Fische an der Oberfläche entlang schwammen, und ein Quaken aus einiger Entfernung kündete die Ankunft einer Entenfamilie an. Über sich sah Jonas einen großen Vogel kreisen, die geraden Linien seiner ausgebreiteten Flügel ließen Jonas vermuten, dass es sich um einen Adler handelte. Er erinnerte sich an seine Grundschulzeit, als er verschiedene Vogelarten an ihrem Aussehen zu erkennen gelernt hatte.
Jonas beobachtete den majestätischen Vogel, dessen Kreise langsam enger wurden. Auch verlor er an Höhe, er schien ein Ziel anzuvisieren.
Plötzlich stürzte er sich herab, im Sturzflug näherte der Adler sich der Wasseroberfläche. Jonas richtete sich etwas auf, um das Szenario beobachten zu können. Mit lautem Platschen landete der Adler auf der Wasseroberfläche, und im selben Moment hob er mit schweren Flügelschlägen wieder ab. Wie in Zeitlupe und durch ein Vergrößerungsglas sah Jonas die Wassertropfen von dem Federkleid des Adlers abperlen, er sah den Fisch, in dessen schlanken Körper der Raubvogel seine Krallen geschlagen hatte, wie er um sein Leben zappelte. Dann erstarrte er, erstickt an der Luft, und der Adler stieg bald höher. Jonas’ Augen verfolgten den Vogel mit seinen mächtigen Flügeln weiter.
Er konzentrierte sich so auf den Flug des Adlers, dass er nicht bemerkte, wie ruhig es plötzlich geworden war. Nein, es war nicht totenstill, die Vögel musizierten noch immer. Aber etwas war anders. Da begriff Jonas, was es war: Das Hintergrundgeräusch der Autobahn war verschwunden. Jonas’ Augen schweiften unwillkürlich nach rechts, und glaubten nicht was sie sahen.
Da, wo die Autobahnüberführung hätte sein müssen, war nichts außer dem Tal inmitten der Anhöhen. Jonas wollte aufstehen, um sich zu vergewissern, aber er blieb liegen. Aus irgendeinem Grund konnte er seine Beine nicht zum Aufstehen bewegen. Nun sah er auch, dass die großen Eichen am Weiher verschwunden waren. Wo sie gestanden hatten, wuchsen nur kleine, junge Bäumchen.
Als er die Wasseroberfläche sah, bemerkte er die Silhouetten riesiger Fische mit archaischen Mäulern, die sich gegenseitig im flachen Wasser jagten.
Ein Geräusch, das Jonas noch nie gehört hatte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ein tiefes, grollendes Schreien aus weiter Ferne, ähnlich einem Gewitter. Was für ein Tier machte so ein Geräusch? Jonas wagte nicht, sich umzusehen. Statt dessen blickte er nach oben, wo er den Adler aufsteigen sah. Der Adler war zumindest noch da.
Doch halt, war das überhaupt der Adler? Jonas kniff seine Augen zusammen, sah dadurch jedoch noch weniger. Der Himmel wurde zusehends dunkler, weshalb er den großen Vogel aus dem Blick verlor.
Auch der Weiher verschwamm vor seinen Augen, und es überkam ihn auf einmal das Gefühl, als würde er mit Gewalt aus dieser Welt hinausgerissen. Er hörte nichts mehr, und die letzten Lichtpunkte vor seinen Augen verschwanden in unendlicher Dunkelheit.
Jonas fühlte nicht mehr das Moos, auf dem er saß. Als er auf den Boden gucken wollte, bemerkte er, dass er sich gar nicht mehr bewegen konnte. Es gab kein unten und kein oben. Er konnte nicht mehr denken. Seine Gedanken begannen fortgetragen zu werden, und auf einmal traf ihn wie ein Fausthieb ins Gesicht die Panik vor dem Nichts. Die Angst vor dem Verschwinden. Doch nein, er konnte gar nicht mehr fühlen. Wo seine Gefühle gewesen waren, blieb nur Kälte, Stille, Dunkelheit.
Nichts.
Jonas fühlte nun wieder die Kälte. Es kam ihm vor, als sei er eine Ewigkeit lang fort gewesen. Als habe er nicht existiert. Noch immer schwamm er im endlosen Nichts, und er hatte furchtbare Angst, wieder ganz zu verschwinden.
Die Kälte drang durch all seine Gedanken, und seine Gedanken waren das einzige, was von ihm da war.
Doch es wurde spürbar wärmer.
Die Wärme durchströmte seine Gedanken und vertrieb die Eiseskälte der Ewigkeit. Er sah wieder die Dunkelheit. Das kalte Schwarz des Verschwindens war einem samtweichen, wohligen Schwarz gewichen.
Jonas fühlte sich wohl, er hatte keine Angst mehr. Er fühlte eine unendliche Erleichterung und wusste, dass eine geheimnisvolle, liebende Kraft ihn vor dem Verschwinden bewahrt hatte. Plötzlich konnte er seine Arme und Beine wieder bewegen, und er spürte das Moos, auf dem er lag.
Es durchzuckte Jonas von oben bis unten, und er öffnete die Augen.
Die Vögel sangen fröhlich wie zuvor, und das Wasser lag still dar. Die Bäume raschelten mit ihren Blättern, denn es war ein leichter Wind aufgekommen. Jonas stand auf und rieb sich die Augen. Er musste eingeschlafen sein.
Das ferne Rauschen der Autobahn und die gewohnten Geräusche des Weihers beruhigten sein pochendes Herz. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass er nur wenige Minuten, vielleicht Sekunden geschlafen haben konnte.
Langsam und nachdenklich stieg Jonas zum Fahrradweg hinauf und schwang sich in den Sattel.
Ohne dass er recht wusste, weshalb, überkam ihn eine unsagbare Fröhlichkeit. Er hatte keine Angst mehr vor der Schule, vor der Zukunft, vor den hohen Erwartungen. Er hatte keine Angst mehr vor dem Verschwinden.
Jonas lächelte, als er ein Kaninchen vor ihm den Weg überquerte.
Schon hatte er die Autobahnbrücke erreicht und fuhr betont langsam, um noch einen Blick auf die Autos zu werfen.
Er dachte an Nina, die er morgen in der Schule wiedersehen würde.
Der Himmel war strahlend blau, und weit über ihm zog ein Adler seine Bahnen.
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