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Flugshow
„Meine Fresse, dass dem gar nicht schwindelig wird.“
Wir stehen in der Menschenmenge hinter einem Absperrband aus Plastik und sehen zum Dach eines vierstöckigen Hauses hinauf. Da oben steht ein Mann.
„Naja, vielleicht ist er schwindelfrei“, sagt Hajo. „Wie diese Indianer, die in den Staaten die Wolkenkratzer bauen.“
„Mohawks“, sage ich.
„Mohawks?“
„So heißen die Indianer, die in den Staaten die Wolkenkratzer bauen.“
„Sicher?“
„Jep.“
„Nicht Sioux?“
„Nee, Mohawks.“
Wir blicken wieder zu dem Mann hinauf. Die Feuerwehr hat eine Drehleiter mit Rettungskorb ausgefahren, von dem aus andere Männer mit dem Mann auf dem Dach reden.
„Ich würd kotzen, wenn ich da oben am Rand stehen müsste“, sagt Hajo, „und der macht das freiwillig.“
Vor dem Gebäude haben sich sechs Feuerwehrmänner mit einem Sprungtuch positioniert. Rechts von dem Mann auf dem Dach tauchen jetzt Polizisten auf, bleiben aber auf Abstand.
„Manchmal glaube ich, dass du dir das nur ausdenkst“, sagt Hajo und zündet sich eine Zigarette an.
„Was ausdenkst?“
„Naja, mit diesen Indianern, die die Wolkenkratzer in den Staaten bauen.“
„Häh?“
„Dass die Mohawks heißen und nicht Sioux oder Apachen. Woher willst du das so genau wissen?“
„Ich hab das gelesen“, sage ich.
„Entschuldigen Sie, würden Sie bitte die Zigarette ausmachen.“ Es ist eine kleine Halbglatze mit Brille, die das gesagt hat. Typ Archivar oder Beamter bei der Berufsgenossenschaft.
Hajo starrt ihn an.
„Der Qualm ist doch sehr lästig“, lächelt die Halbglatze, nun ein wenig verunsichert.
„Ich glaub es hackt.“ Hajo beginnt sich aufzuregen. „Wir stehen hier unter freiem Himmel an der frischen Luft und du kleine Postbeamtenscheißhausschwuchtel willst mir das rauchen verbieten?!“
Die Postbeamtenscheißhausschwuchtel wirft mir einen hilfesuchenden Blick zu – und lächelt angestrengt.
„Da oben auf dem Dach steht dieses bemitleidenswerte Arschloch, das seinem sinnlosen Leben ein Ende setzen will, weil seine Frau mit einem Jüngeren durchgebrannt ist, weil man ihm den Job gekündigt hat und er die Raten fürs Haus und die Autos und den Swimming-Pool nicht mehr bezahlen kann, weil man Prostatakrebs bei ihm diagnostiziert hat, weil er seine Kinder mit einer Axt erschlagen hat, nachdem sich sein einziger Sohn als Schwuler geoutet hat, und du willst mir das rauchen einer Zigarette verbieten?!“
„Hören Sie, ich habe es Ihnen nicht verboten, ich habe Sie lediglich …“
„Verdammt, was sind Sie nur für eine Nazi-Sau …“
„Also ich muss doch wirklich …“
„Faschisten-Sau.“
„Also das muss ich mir von Ihnen nicht …“
„Despoten-Sau.“
Die Postbeamtenscheißhausschwuchtel wendet sich empört ab und drängelt sich durch die Menge davon. Man wirft Hajo verstohlene Blicke zu. Niemand sagt etwas.
Die Polizisten und die Männer im Rettungskorb an der Drehleiter halten nach wie vor respektvollen Abstand. Der Kerl da oben scheint es ernst zu meinen.
„Ich habe noch nie etwas von den Mohawks gehört“, sagt Hajo.
„Die Mohawks sind Indianer aus dem Kahnawake-Reservat“, kläre ich ihn auf. „Es gibt sogar ein speziell auf sie zugeschnittenes Trainingsprogramm, bei dem sie sich in einem vierzehnwöchigen Kurs auf die Kletterarbeit vorbereiten können.“
„Und das weißt du einfach so?“
„Jep.“
Der Mann springt. Sein Körper saust vier Stockwerke hinab. Erdanziehungskraft, denke ich. Zwei Sekunden, dann klatscht der Körper enttäuschend unspektakulär und nahezu geräuschlos neben dem Sprungtuch auf den Gehweg. Kollektives Entsetzen. Schreie. Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter eilen herbei. Allgemeine Aufregung. Neben mir bricht eine Frau in Tränen aus. Ich frage mich, warum sie es sich anschaut, wo sie doch so schwache Nerven hat?
Hajo lässt seine Kippe fallen und tritt sie aus. „Erinnert mich an den elften September.“
Wir drängeln uns aus der Menge und gehen rüber ins LUDWIGS. Es ist ein herrlicher Frühlingstag. Sie haben die Tische rausgestellt.