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Flugshow

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21.01.2009
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Flugshow

„Meine Fresse, dass dem gar nicht schwindelig wird.“
Wir stehen in der Menschenmenge hinter einem Absperrband aus Plastik und sehen zum Dach eines vierstöckigen Hauses hinauf. Da oben steht ein Mann.
„Naja, vielleicht ist er schwindelfrei“, sagt Hajo. „Wie diese Indianer, die in den Staaten die Wolkenkratzer bauen.“
„Mohawks“, sage ich.
„Mohawks?“
„So heißen die Indianer, die in den Staaten die Wolkenkratzer bauen.“
„Sicher?“
„Jep.“
„Nicht Sioux?“
„Nee, Mohawks.“
Wir blicken wieder zu dem Mann hinauf. Die Feuerwehr hat eine Drehleiter mit Rettungskorb ausgefahren, von dem aus andere Männer mit dem Mann auf dem Dach reden.
„Ich würd kotzen, wenn ich da oben am Rand stehen müsste“, sagt Hajo, „und der macht das freiwillig.“
Vor dem Gebäude haben sich sechs Feuerwehrmänner mit einem Sprungtuch positioniert. Rechts von dem Mann auf dem Dach tauchen jetzt Polizisten auf, bleiben aber auf Abstand.
„Manchmal glaube ich, dass du dir das nur ausdenkst“, sagt Hajo und zündet sich eine Zigarette an.
„Was ausdenkst?“
„Naja, mit diesen Indianern, die die Wolkenkratzer in den Staaten bauen.“
„Häh?“
„Dass die Mohawks heißen und nicht Sioux oder Apachen. Woher willst du das so genau wissen?“
„Ich hab das gelesen“, sage ich.
„Entschuldigen Sie, würden Sie bitte die Zigarette ausmachen.“ Es ist eine kleine Halbglatze mit Brille, die das gesagt hat. Typ Archivar oder Beamter bei der Berufsgenossenschaft.
Hajo starrt ihn an.
„Der Qualm ist doch sehr lästig“, lächelt die Halbglatze, nun ein wenig verunsichert.
„Ich glaub es hackt.“ Hajo beginnt sich aufzuregen. „Wir stehen hier unter freiem Himmel an der frischen Luft und du kleine Postbeamtenscheißhausschwuchtel willst mir das rauchen verbieten?!“
Die Postbeamtenscheißhausschwuchtel wirft mir einen hilfesuchenden Blick zu – und lächelt angestrengt.
„Da oben auf dem Dach steht dieses bemitleidenswerte Arschloch, das seinem sinnlosen Leben ein Ende setzen will, weil seine Frau mit einem Jüngeren durchgebrannt ist, weil man ihm den Job gekündigt hat und er die Raten fürs Haus und die Autos und den Swimming-Pool nicht mehr bezahlen kann, weil man Prostatakrebs bei ihm diagnostiziert hat, weil er seine Kinder mit einer Axt erschlagen hat, nachdem sich sein einziger Sohn als Schwuler geoutet hat, und du willst mir das rauchen einer Zigarette verbieten?!“
„Hören Sie, ich habe es Ihnen nicht verboten, ich habe Sie lediglich …“
„Verdammt, was sind Sie nur für eine Nazi-Sau …“
„Also ich muss doch wirklich …“
„Faschisten-Sau.“
„Also das muss ich mir von Ihnen nicht …“
„Despoten-Sau.“
Die Postbeamtenscheißhausschwuchtel wendet sich empört ab und drängelt sich durch die Menge davon. Man wirft Hajo verstohlene Blicke zu. Niemand sagt etwas.
Die Polizisten und die Männer im Rettungskorb an der Drehleiter halten nach wie vor respektvollen Abstand. Der Kerl da oben scheint es ernst zu meinen.
„Ich habe noch nie etwas von den Mohawks gehört“, sagt Hajo.
„Die Mohawks sind Indianer aus dem Kahnawake-Reservat“, kläre ich ihn auf. „Es gibt sogar ein speziell auf sie zugeschnittenes Trainingsprogramm, bei dem sie sich in einem vierzehnwöchigen Kurs auf die Kletterarbeit vorbereiten können.“
„Und das weißt du einfach so?“
„Jep.“
Der Mann springt. Sein Körper saust vier Stockwerke hinab. Erdanziehungskraft, denke ich. Zwei Sekunden, dann klatscht der Körper enttäuschend unspektakulär und nahezu geräuschlos neben dem Sprungtuch auf den Gehweg. Kollektives Entsetzen. Schreie. Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter eilen herbei. Allgemeine Aufregung. Neben mir bricht eine Frau in Tränen aus. Ich frage mich, warum sie es sich anschaut, wo sie doch so schwache Nerven hat?
Hajo lässt seine Kippe fallen und tritt sie aus. „Erinnert mich an den elften September.“
Wir drängeln uns aus der Menge und gehen rüber ins LUDWIGS. Es ist ein herrlicher Frühlingstag. Sie haben die Tische rausgestellt.

 

Halloa machaczek,
erster Eindruck, unmittelbar nach dem Lesen: Wow, Luftschnapp, Schluck Wasser trinken, zurücklehnen und dann überlegen. Also: Unverhältnismäßigkeit als Stilmittel schockt zunächst, Hajo regt sich über den Glatzenmann auf, zollt dem Selbstmord aber kaum Beachtung, nach dem 11. September schockt einen nix mehr, oder was soll es heißen? Die Abgebrühtheit und Abgestumpftheit die sich durch die Geschichte ziehen, (auch das lakonische Gespräch über die Indianer gehört dazu), gipfeln am Ende im Sonnenschein bei einem Bierchen, vermute ich mal. Da fragt man sich: Rührt die Typen überhaupt noch was an; oder: Ist es wirklich so anders, wenn ich abends die Tagesschau sehe und anschließend einen Pilcherfilm?? Fazit: Die Lacher stecken schon mal im Hals fest, die Geschichte macht ein nervöses Gefühl, Unbehagen vielleicht? Das ist gut so. Allerdings zeiht sich dieses Stilmittel durch alle deine Geschichten. Falls du mal einen Storyband herausgeben willst, könnte das hinderlich sein! Gerne gelesen.
LG,
Jutta

 

Hallo machaczek,

eine äußerst lakonische Geschichte mit einer exzellenten Dialogführung. Du beherrscht die Kunst, durch das Gesagte und das nicht Gesagte die eigentlichen Schwerpunkte der Story zu thematisieren, das ist gut gemacht. Also: das, was gesagt wird, wie es gesagt wird, und das, was nicht gesagt wird, sind die drei tragenden Säulen der Story.

Ich mag reine Dialoggeschichten eigentlich nicht so gern, weil ich die Feststellung gemacht habe, dass häufig eher weniger geübte Autoren meinen, eine Geschichte über Dialoge einfacher, schneller, lustiger, dynamischer und unterhaltsamer gestalten zu können. Eher das Gegenteil ist der Fall. Bei einer Dialoggeschichte muss man mit äußerster Präzision vorgehen.

Dir ist das gelungen, keine Frage. Gutes Teil.

Rick

 

Hallo machaczek,

das, was du hier auftischst, kannst du wirklich sehr gut. Insbesondere dieses Stück finde ich in sich gut ausbalanciert.
Letztlich ähneln sich deine Texte jedoch sehr. Solange sie gut sind, ist das ja im Prinzip auch in Ordnung, aber als Leser weiß man halt irgendwann was einen erwartet, wenn man einen Tet von dir anklickt.

Schade, dass du dich so wenig ins Forum einbringst und es eher darauf abgesehen hast, uns hier mit deinen Geschichten zu überschwemmen, anstatt selbst auch etwas aktiver dem Prinzip Geben und Nehmen die Hand zu reichen.

so oder so noch weiterhin viel Spaß hier auf kg.de :)

grüßlichst
weltenläufer

 

@ Rick
Vielen Dank für die Blumen. Geht runter wie Öl. Ich bin ein absoluter Dialog-Fan, umso mehr freut es mich, dass ich das zum Ausdruck bringen konnte, was ich wollte.
@ Jutta
Auch dir ein großes Dankeschön. Ja, und du hast Recht, sollte das ganze mal in einem Kurzgeschichten-Band bei bod.de münden, könnte es langweilig werden, da sich die Stories ähneln.
@weltenläufer
Ich danke auch dir für das Lob und die Kritik. Du siehst es ja ähnlich wie Jutta. Man weiß irgendwann, was einen erwartet. Darüber denke ich nun nach, und ich will mal gucken, ob ich euch überraschen kann.
Du hast mir vor einiger Zeit schon einmal "vorgeworfen", dass ich mich zu wenig ins Forum einbringe und selbiges mit meinen Geschichten "überschwemmen" würde. Ich sehe das nicht ganz so eng, da ich in Abständen Beiträge zu anderen Geschichten schreibe, halt so, wie es mir meine eh schon begrenzte Zeit erlaubt.
Gruß machaczek

 
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Hallo machaczek

... zackig, unterhaltsam und trocken. Adverben sind was für Turnschuhträger. Klare Linie und 100% Alltag, auch wenn eine Atombombe neben ihnen einschlüge, bliebe Hajo cool wie Kamelscheiße. Den Beamten so anzubrüllen könnte mitunter ins Auge gehen, aber dieses Modell kniff und das war gut so. Wer weiß, was Hajo noch geliefert hätte. Diese Verknüpfung der Charaktere über den 11. Sept. und die Indianer war äußerst gelungen.
Liebe Grüße
Detlev

 

Hi machaczek,

Schock-Schwerenot, das war wieder mal was.

Ich habe mir zwar schon gedacht, dass der arme Mensch vom Dach springen wird, aber die Reaktion der Prots ist schon der Hammer. Hoffentlich hat das Bierchen geschmeckt, oder der Kaffee?

Das Lachen bleibt einem jedenfalls fast im Hals stecken, aber das war ja Deine Absicht.

Immer wieder gerne gelesen.

LG
Giraffe.

 

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