Fokus auf: Blätter, die die Welt bedeuten
Die Sonne ruft und zerrt an mir, und ich, ich sitze in meinem Zimmer und verschlaue, ich muss.
Das kann nicht gesund sein, ich solle mich schonen, hat meine Mutter mir geraten. Wenigstens habe ich meine heutigen Stunden schon hinter mir und kann den Rest des Tages etwas menschenwürdiger verbringen.
Ich verlasse mein Zimmer, gehe in die Innenstadt und hole mir im dortigen Lidl etwas zu trinken. Diesen Apfelschorle zahle ich mit Geld und Seele. Es scheint, als ob dieser Laden nur Henkersmahlzeiten führt.
Ein Klassenkamerad begegnet mir, er ist offensichtlich peinlich berührt davon, hier mit seiner Mutti gesehen zu werden.
"Das bleibt unter uns...", rufe ich ihm vertraulich zu. Er schüttelt nur den Kopf.
Versteckt sich da hinter seiner säuerlichen Miene nicht ein wenig Erleichterung?
Ich trete aus dem Laden, nehme einen Schluck, blinzle in die Sonne und gehe weiter.
Erste Kopfschmerzen machen sich bemerkbar.
Stress? Nervosität?
Endlich in der Stadt angekommen, treffe ich meine geheime Freundin, die wegen ihres Geheimnisstatus noch viel unnahbarer und attraktiver auftritt.
Wir sind allein im Kino, der Film ist langweilig, wir fallen also übereinander her, das ist verboten, das ziemt sich nicht, aber da der Eismann schon da war...
Ein schelmisches Grinsen huscht über ihr Gesicht, als wir die Räumlichkeiten verlassen. Mich beschleicht der Eindruck ihr Interesse für Königspinguine hält sich ohnehin in Grenzen.
Den Stadtpark vor, das Kino hinter uns, frage ich spontan: "Hast du Lust was zu trinken? Ich spendier uns ´n Rotwein."
Ihre Mimik antwortet vor ihrer Zunge, "Sorry, aber du weißt doch selber, wie stressig grade alles ist. Ich hab echt keine Zeit.", zerknirscht und irgendwie auch ekelhaft tadelnd. Als ob ich mehr Zeit hätte.
Über ihre Absage sowohl enttäuscht als auch erleichtert, kehre ich wieder nach Hause zurück. Den Wein habe ich trotzdem gekauft.
Das wird die erste nicht schlaflose Nacht seit langem.
Insomnia ad absurdum?
Ich versuche zu schlafen, kann es nicht, das beschissene Bett dreht sich und will ums verrecken nicht damit aufhören. Dabei muss ich morgen doch fit, ausgeschlafen sein.
Morgen.
Der große Tag, lang ersehnt und lang gefürchtet. Was kläfft denn jetzt der beschissene Hund von den Nachbarn rum, kaum, dass das Bett still steht. Ich konnte das Vieh noch nie leiden. Ständig am Knurren und verteidigen.
Egal, egal, es ist nur ein Hund, er weiß es nicht besser. Nur ein Hund, nur...
"Kläff!"
Meine Augen förmlich aufgerissen, beginnt mir der Schweiß langsam den Rücken hinab zu laufen. Ich versuche mich abzulenken, an etwas anderes zu denken, drehe mich zur Seite. Der Kinofilm heute, da hätte ich gut schlafen können, der war richtig beruhigend, mit dem ganzen Eis und den watschelnden Gestalten, Donald Duck watschelt, vielleicht sollte ich Duck Tales oder ein lustiges Taschenbuch
"KLÄFF! KLÄFF! KLÄFF!"
Die Haustür leise hinter mir geschlossen, gehe ich an den Zwinger des vermaledeiten Hundes. Er knurrt, will bellen. Doch wie er das Fleisch, welches ich ihm aus der Küche mitgebracht habe wahrnimmt, fängt er sogar an zu schwänzeln.
"Jetzt plötzlich bist du ganz lieb und brav? Ganz leise sogar?", ich achte auf eine freundliche Tonart, rede ihm gut zu, bis er schließlich den Kopf zwischen den Gitterstäben hindurchzwängt.
Die Weinflasche schnellt herab, trifft ihn mit voller Wucht, ein Jaulen durchschneidet die Nacht. Ein zweiter Schlag, das Tier wimmert.
"Bist du jetzt ruhig? Lässt du mich jetzt schlafen?", schnaufe ich, bevor die Flasche ein drittes Mal auf ihn herniederfährt.
Sie zerbricht, ich blute, eile ins Haus zurück.
Außer dem weichenden Gras unter meinen Füßen, herrscht völlige Stille.
Ich schleppe mich die Treppe hoch ins Badezimmer und wasche mir das warme Blut und die Haare von der Haut, mein Atem geht schwer, ich bin erschöpft.
Ein Handyklingeln weckt mich, mein Wecker. Beim zweiten Versuch aufzustehen, ist mir das Waschbecken nicht mehr im Weg. Ich mache zwei Schritte und lasse kaltes Wasser auf mich prasseln, solange bis ich nicht mehr unterscheiden kann, ob es kalt oder heiß ist.
Zitternd steige ich aus der Dusche, gehe in mein Zimmer und ziehe mir etwas an, es ist kalt, aber mein Verstand ist klar, reingewaschen.
Danach versuche ich den ekligen Geschmack aus meinem Mund heraus zu frühstücken, aber nicht einmal die Zahnbürste hilft.
Während ich den Schlüssel reinstecke und möglichst jeden Blick zu den Nachbarn vermeide, kommen meine Kopfschmerzen von gestern wieder und sie haben Verstärkung mitgebracht.
Wenig später komme ich am Ort der heutigen Geschehnisse an, ich bin spät dran, muss also illegal parken, um nicht zu spät dran zu sein.
Ich spute mich, komme noch rechtzeitig, ganz vorne ist noch ein Platz frei, ich setze mich. Sowohl meine Freundin als auch meine geheime Freundin mustern mich fragend.
Dafür ist jetzt keine Zeit, ich nehme mein Mäppchen aus der Tasche, platziere es vor mir.
Nun endlich liegen sie vor mir: Die Blätter, die die Welt bedeuten.
"Und denkt bitte dran, bewahrt einen kühlen Kopf, stellt euch einfach vor, das wäre eine der Klausuren die ihr schon geschrieben habt, es gibt keinen Grund sich jetzt noch verrückt zu machen."