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Formschön vollendet
Die Leinwand war leer. Ebenso das Zimmer. Der Gang. Der Kühlschrank. Der Brotkasten. Es gab nur eine Sache, die nicht ins Konzept passte: das Gesicht des Mannes, der vor der Leinwand stand. Wut, Hass, Zorn über die eigene Unfähigkeit verzerrten seine Züge zu einer hässlichen Grimasse, wie man sie sonst nur von Theatermasken kennt. Er hielt den Pinsel und die Farbpalette bereit, doch kein Muskel regte sich. Sein Gehirn arbeitete krampfhaft, doch kein Gedanke löste sich um seiner Produktivität und Kreativität einen Anstoß zu geben. Seine ganzen Hoffnungen waren verflogen, hatten sich in Luft aufgelöst. Die Überzeugung, genug Talent zu besitzen, um Neues zu schaffen, Menschen in ihrem Innersten zu berühren, hatte ihn verlassen.
Der Künstler ließ seine Utensilien sinken. Der Pinsel rutschte aus seiner verkrampften Hand und fiel zu Boden. Ein kleiner Farbklecks bildete sich auf dem weißen Teppich. Unkontrolliert begannen alle Körperteile des Mannes zu zucken. Er hob die Palette in die Höhe und warf sie mit einem Schrei gegen die Wand, von der sie herabrutschte und eine bunte Spur hinterließ. Sie sah aus wie ein Regenbogen. Ein Regenbogen ohne Biegung ... ein gerader Regenbogen, der sich vor einem schneeweißen Himmel entfaltete ... unter ihm lag ein Land voller ... Im entscheidenden Augenblick wurde der Gedankengang des Künstlers, auf den dieser so lange gewartet hatte, unterbrochen. Ein Hämmern im Nebenzimmer. Mit einem weiteren Schrei sank der Künstler neben den Pinsel. Er stieß ein mitleiderregendes Wimmern aus. In diesem unglaublich kurzen Moment der Ablenkung hatte er die Idee vergessen.
Auf der Suche nach einer neuen Quelle streifte der Künstler ziellos durch seine Wohnung, wurde jedoch aufgrund der Leere nicht fündig. Er setzte sich auf die weiße Couch und starrte auf seinen einzigen erwähnenswerten Besitz, der das Zimmer schmückte: Ein extrabreites Filmplakat eines Film Noir Streifens aus den Dreißigern. Er hatte es zum Vorteilspreis bekommen, da sich an der Stelle, an der Kopf des Hauptdarstellers zu sehen sein sollte, sowohl ein Druckfehler als auch ein Kaffeefleck befanden. Das Zusammenspiel dieser beiden Mächte, die um das Recht kämpften, den Schauspieler zu einem Namenszug ohne Gesicht degradieren zu dürfen, war ihm vorher nie in diesem Maße aufgefallen. Es war, als würde das Braun des Kaffees versuchen, das Chaos des Druckfehlers zu umgehen. Zu hintergehen. Um sich Schicht für Schicht näher an die Identitätslücke des anonymen Menschen vorzukämpfen. Sie lag irgendwo unter diesem Farbeiwirbel, irgendwo ... Ein leises Rattern, dann durchbrach die Spitze einer Bohrmaschine den betreffenden Punkt. Sowohl im Plakat als auch in der Idee des Künstlers.
Mit rudernden Armen brach ein Mann durch die Wand und fiel der Länge nach hin. Er trug Latzhosen und Turnschuhe. Mit ihm schoss eine weiße Staubwolke ins Zimmer, einem Geist gleich, der den Einfall des Künstlers zerriss und in alle vier Windrichtungen verstreute.
Der Eindringling richtete sich auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose.
„Verdammt“, murmelte er verdrießlich und wollte durch das Loch in der Wand verschwinden. Als er jedoch nicht das kleinste Anzeichen einer Reaktion von seinem Nachbarn erhielt, drehte er sich wieder um und versuchte den von abgrundtiefem Hass nur so brodelnden Blick des Künstlers zu erwidern.
„Was is’?“, keifte er und fügte mit einem Finger in Richtung Mauerdurchbruch deutend hinzu: „Keine Angst, das mach’ ich wieder zu.“
Der Künstler schwieg.
„Willst du jetzt von mir hörn, dass es mir leidtut, he?“ Keine Antwort. „Tut’s aber nich’.“
Endlich rang sich der Künstler zu einem Kommentar durch. „Du eingebildeter, selbstverliebter Narr. Dir ist es nicht einmal bewusst, was du soeben zerstört hast. Vielleicht war das meine letzte Inspiration, vielleicht sind jetzt wegen deiner unfassbaren Inkompetenz meine Tage als Künstler gezählt,“ zischte er zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Die Wut in seinen Augen loderte nun richtig auf, ein wahres Fegefeuer. „Verschwinde und lass dein abscheuliches Antlitz nicht noch einmal in meinen vier Wänden sehen!“
„Alter,“ begehrte der Latzhosenträger auf und stellte sich so nah vor den Künstler, dass seine Nase fast dessen Stirn berührte. „Pass ja auf, was du sagst!“
Er zog einen kurzen Revolver aus einer der geräumigen Hosentaschen. Drohend schwenkte er ihn durch die Luft. Von links nach rechts, von rechts nach links.
Schweigend ergriff der Künstler die Waffe und richtete sie auf sein Gegenüber.
Ein kleines Loch bildete sich auf dessen Stirn, doch sein Hinterkopf schien förmlich zu explodieren. Ein riesiger Blutspritzer entfaltete sich wie eine Schwalbe, die sich aus ihrem Nest löst und flog durch die Luft. Begleitet von einer Unzahl Einzeltropfen schlug er auf der weißen Leinwand auf und verwandelte sie in etwas noch nie da Gewesenes. Etwas Neues.
Eine Fachzeitschrift beschrieb das Entstandene wie folgt: „Ein geniales Werk, voller Ironie über das Streben und Leiden der heutigen Gesellschaft. Die Spuren der einzelnen Tropfen scheinen, wie Hunderte dünner Finger, den großen Fleck in ihrer Mitte zu halten und zu beschützen, wie die Hand einer Mutter, die sich sorgend um ihr Kind legt. Das Loch in dem Gewebe zeugt jedoch davon, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen war. So berührt das Werk im tiefsten Inneren der Seele und lässt dem Betrachter doch viel Interpretationsspielraum.“