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Forschung
Forschung
Ich spazierte ziellos durch die Stadt. Nicht, dass ich nichts zu tun gehabt hätte. Ich musste eine Arbeit erledigen, einen wissenschaftlichen Text schreiben, obwohl ich das eigentlich nicht wissenschaftlich nennen würde.
Wissenschaftliche Forschung war für mich schon immer das, was ich nie verstand und auch nie verstehen würde: biochemische Experimente etwa oder höhere Mathematik.
Ich war schon froh, problemlos an einem Computer arbeiten zu können, auch wenn sich meine Fähigkeiten nur auf das Bedienen einiger Grafik- und Textverarbeitungsprogramme beschränkten.
Auch in meiner wissenschaftlichen Arbeit war ich auf die Forschung, also „richtige“ Wissenschaftler angewiesen. Ohne Geologen, Biologen, Physiker und Chemiker wäre eine Archäologe nichts. Ein Archäologe der Vorgeschichte, also jemand der versucht die Kultur des Vormenschen und des steinzeitlichen Menschen zu rekonstruieren, ist auf die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forscher angewiesen, zum Beispiel auf absolute Datierungsmethoden.
Der Archäologe braucht sich diese Erkenntnisse nur noch anzueignen, um dann eins und eins zusammenzählen zu können.
Darin bestand meine Arbeit. Ich sollte für eine Publikation einer mehrere Jahre betriebenen und nun endlich beendeten Grabung einen Fundkomplex aus eiszeitlichen Tierknochen mit Knochenritzungen aufarbeiten. Dazu musste ich in das Archiv im Archäologischen Institut und alle entsprechenden Knochenfunde dieser Grabung mit diesen ominösen Ritzungen auftreiben, fotografieren, abzeichnen und natürlich genau beschreiben. Eine bessere Buchhaltertätigkeit, mehr nicht.
Obwohl das Institut nur zehn Minuten Fußweg von meiner Wohnung entfernt lag, war ich schon seit Stunden durch die Stadt spaziert. Ich vermied es, in seine Nähe zu geraten.
Selbst die Vorstellung, an das Ende dieser geistlosen Arbeit eine interessante These, also eine eigene, sensationelle Interpretation dieser Ritzungen, die vor über zehntausend Jahren von Menschen auf Tierknochen vorgenommen wurden, anfügen zu können, lockte mich nicht.
Mit etwas Witz und Fantasie kam es schon vor, dass ein Archäologe eine interessante These aufstellte, aber alles was über die mageren Fakten der Wissenschaftler hinausging war Hypothese, also ein reines Fantasieprodukt, das im besten Fall eine gewisse Wahrscheinlichkeit aufwies.
Und ich hatte, wenn ich seriös vorgehen wollte, nach allen Publikationen zu recherchieren, die ähnliche, im europäischen Raum gefundene eiszeitliche Knochenritzungen thematisierten, in allen möglichen Sprachen. Ich müsste dann nach Möglichkeit die dort aufgeführten relevanten Relikte in original begutachten, die über Europa verteilt, in irgendwelchen muffigen Archiven lägen und für jeden Bezug musste ich die literarische Quelle angeben mit entsprechender Seitenzahl und dem Jahr ihres Erscheinens.
Eigentlich keine den Intellekt besonders herausfordernde Arbeit, aber sie war mühselig, versprach langweilige Aufenthalte in staubigen Archiven und Bibliotheken und stundenlanges Sitzen vor dem Rechner.
Der Winter war vorbei, aber es war noch kein richtiger Frühling geworden. Seit Tagen kam es zu orkanartigen Stürmen. Die Wolken rasten über den Himmel, so dass sich im Minutentakt strahlender Sonnenschein mit bleiernen Wolkendecken abwechselten. Manchmal fielen noch vereinzelte Schneeflocken vom längst blankgefegten, strahlend blauen Himmel.
Mich erinnerte dieses stürmische Wetter an die See und ich erwartete hinter jeder Häuserecke einen Ausblick auf das Meer. Vergebens.
Plötzlich stand ich vor dem Archäologischen Institut. Gedankenverloren war ich direkt hierher gelaufen. Inzwischen waren wieder schwere Wolken aufgezogen und die Gebäudefassade aus schlichtem Beton bildete zusammen mit dem dunklen Himmel darüber eine überdimensionale graue Wand.
Mich dem Unvermeidlichen fügend, begab ich mich in das Institut, ein unspektakuläres DDR-Plattengebäude.
Ich durchschritt, vorbei an der Pförtnerloge, das lächerlich große Foyer mit dem riesigen melancholischen Wandbild aus roten und braunen Schmuckkacheln und betrat den offenstehenden, mit speckig glänzendem Holzimitat ausgekleideten Aufzug. Ich drückte die große quadratische Plastiktaste mit der NEUN und fuhr in das achte Stockwerk.
In der DDR zählte das Erdgeschoss bereits als die erste Etage und obwohl der Untergang der DDR fast zwanzig Jahre zurücklag, hatte es noch niemand für notwendig befunden, die Beschriftung der Aufzugstasten zu korrigieren. Archäologen waren eben von Natur aus darauf bedacht, Relikte aus längst vergangenen Zeiten zu konservieren.
Der Aufzug stoppte abrupt. Die Aufzugtüren ruckelten auf und ich verließ schnell den noch nachschwingenden Fahrkorb. Die Neonleuchten an der Decke des endlosen Flures schienen genauso alt zu sein wie das Gebäude. Sie brummten und flackerten erst sehr lange bevor sie hell aufleuchteten. Laut hallten meine Schritte über das abgewetzte Linoleum.
Die Etage schien um diese Tageszeit, einem frühen Freitagnachmittag, schon vollständig verlassen. In meinem Arbeitsraum fuhr ich den Rechner hoch und druckte die Liste aus, die die Nummern der Kisten mit den Knochen im Archiv enthielt.
In Zeitlupe schob sich das bedruckte Blatt aus dem Drucker während ich durch das Fenster einen dramatischen Kampf zwischen einem zerrissenem Wolkenfeld und der Sonne beobachtete.
Die Sonne gewann, füllte das staubige Zimmer mit gleißendem Licht und blendete mich. Ich ergriff die ausgedruckte Liste und verließ den Raum. Das Neonlicht im Flur, dass mir eben noch grell vorgekommen war, war jetzt düster und hatte ein giftige Farbe. Im Aufzug war es noch düsterer.
Die Taste mit dem K für Keller ließ sich nicht eindrücken, dafür befand sich neben dem Plastikquadrat ein kleines Zylinderschloss.
Als mir der Hauswart den Aufzugschlüssel für das Archiv übergeben hatte, tat er so, als wäre es der Stein von Rosette, weil er angeblich der letzte war. Zumindest für ihn. Einen musste noch Dr. Temmes haben.
Ich kramte nach dem kleinen messingfarbenen Schlüssel, der den Aufzug in den Keller bringen würde. Ich fand ihn in meiner Hosentasche unter einem zerknülltem Taschentuch und fuhr hinunter.
Dort waren die Kisten mit den Knochen und allen anderen Funden der Grabung und ich konnte nur hoffen, dass sie alle richtig beschriftet waren.
Der Keller war voll mit diesen Kisten. Die Ergebnisse jahrzehntelanger Grabungstätigkeit ruhten dort.
Seit vor etwa zehn Jahren der alte Heizungskeller seine Funktion verloren hatte, wurde der frei gewordene Raum für die Erweiterung des bereits überquellenden Archivs genutzt und zu einem Labyrinth aus provisorisch abgetrennten Raumeinheiten und dazwischen liegenden Gängen ausgebaut, bis dieser unterirdische Irrgarten schließlich als status quo hingenommen wurde.
Und irgendwo da unten hatte Dr. Temmes noch einen Arbeitsraum.
Temmes war über die Experimentelle Archäologie dazu gekommen, die urzeitliche menschliche Psyche zu erforschen. Natürlich war das alles höchst spekulativ. Wie sollte er seine Thesen wissenschaftlich untermauern? Nicht mal ein konkretes Forschungsziel war bekannt.
Der Ausgangspunkt Temmes' Forschungen lag in dem genauen Studium der materiellen Zeugen der untergegangenen Kulturen, also hauptsächlich Keramikscherben, Waffenreste aus Feuerstein, Pfeilspitzen, Steinäxte und als kultisch interpretierbare kleine Plastiken und Darstellungen. Darin unterschied er sich nicht von den anderen Archäologen, nur dass ihn weniger die technologischen oder kultisch interpretierbaren Merkmale als solche interessierten, sondern der Geist, der noch in den Relikten wohnte. Diesen wollte er erspüren und wieder mit Leben erfüllen, wie er sich mir gegenüber einmal ausdrückte.
Ich brauchte jetzt nicht zu befürchten, ihm unten zu begegnen; Temmes war für gewöhnlich schon ab Donnerstagmittag unterwegs nach Pori, zu seinem Landhaus in Finnland. Er lehrte auch in seiner Geburtsstadt Helsinki und manchmal wusste niemand ob er sich nun gerade im Keller des Instituts aufhielt oder in Finnland.
Etwas stotternd kam der Fahrstuhl zum Stehen und ich betrat den Keller. Auch hier der gleiche Flur wie oben, nur kürzer.
Hinter dem Ende des Flurs befanden sich der ehemalige Heizungsraum mit dem ewig provisorisch eingerichteten Archiv und Temmes Forschungsstätte.
An die Flurwände waren Jagdtiere gemalt, wie man sie von eiszeitlichen Höhlenzeichnungen kennt: Wisente, Hirsche, Pferde und dazwischen kleine Menschen mit Speeren.
Wahrscheinlich stammten diese Darstellungen von den Studenten, die bei Temmes Forschungsprojekt mitarbeiteten. Es waren nicht viele, aber sie schienen umso intensiver hier unten daran zu arbeiteten, denn in den oberen Etagen des Instituts bekam man sie kaum mehr zu sehen.
Wie Temmes hatten seine Studenten Erfahrungen in Experimenteller Archäologie. Die Semesterferien würden sie wieder in ihren nachgebauten eiszeitlichen Langhäusern verbringen und Jagdwaffen basteln: Speere, Äxte und Klingen aus Feuerstein.
Auch Temmes Haus in Finnland, nach im Institut aushängenden Fotos zu urteilen, war ein riesiges, den eiszeitlichen Langhäusern nachempfundener Bau aus dicken Baumstämmen und Wänden aus lehmverschmierten Flechtwerk.
Die Tür zum erweiterten Archiv war nur angelehnt. Ich betrat den dahinter liegenden schmalen Flur, der sich jedoch bald verzweigte und nicht durchgehend einsichtig war.
Die Tierzeichnungen setzten sich auch hier fort und wirkten aufeinmal intensiver, echter. Sie waren anscheinend mit echtem Rötel gezeichnet. Unzählige Ansätze von Skizzen, vielfach übereinander gezeichnet, ließen die hartnäckig verfolgte künstlerische Intention erkennen, die Tiere in einem Zug und dabei in höchster Perfektion zu zeichnen. Die teilweise gelungenen und von Verständnis der Tieranatomie zeugenden Werke zogen sich nun dicht über die gesamte Fläche des Flurs und die Decke. Dabei waren anscheinend die Neonröhren an der Decke zu Bruch gegangen, jedenfalls fehlten sie und je weiter ich in den Flur vordrang, desto dunkler wurde es.
Endlich stieß ich auf den Raum mit „meinen“ Knochen.
Der Lagerraum enthielt in mehreren Regalreihen einige hundert graue Pappkistchen. Wenigstens ließ sich hier drin das Licht einschalten.
Meine Kartons fand ich ziemlich schnell, sie waren richtig beschriftet und einsortiert worden. Als ich mit ihnen losgehen wollte, stellte ich fest, dass irgendetwas nicht stimmte.
Ich stellte den Pappkistenstapel ab und öffnete den Deckel der oberen Kiste. Sie war leer. Ich öffnete die anderen und auch sie waren leer!
Ich stieß probehalber gegen eine der vielen anderen Kisten in den Regalen. Sie flog sofort auf den Boden, ohne dass etwas darin klapperte. Der Deckel löste sich und - nichts!
Ich riss nacheinander alle Kisten aus den Regalreihen und überzeugte mich davon, dass alle leer waren.
Für das massenhafte Verschwinden des Fundguts fiel mir kein anderer Grund ein als Temmes merkwürdiges Forschungsprojekt.
Ich watete durch ein Meer von leeren Pappkisten und den Deckeln hinaus auf den Flur in Richtung Temmes' Arbeitsraum, um nachzusehen, ob es dort ein Hinweis auf die Knochen gab.
Durch die fehlenden Neonröhren wurde es immer finsterer. Der Flur machte einen Knick und ich tastete mich an den Flurwänden entlang. Wahrscheinlich verwischte ich jetzt die Tierzeichnungen. Ich fühlte den leicht fettigen, mehligen Schmierfilm des Rötels an meinen Händen.
Hinter mir scharrte ein Pappdeckel über den Boden.
Ich erstarrte sofort und lauschte.
Ich überlegte, ob ich die lähmende Situation auflösen sollte, indem ich irgendetwas rief, etwa 'Hallo?, ist da jemand?' und wenn sich niemand meldete, einfach weiter nach Temmes' Raum zu suchen.
Die Dunkelheit vor mir war so massiv, als wenn ich in einen Schornstein blickte. Ein Luftzug traf mich wie kalter Rauch.
Der Schmierfilm an meinen Händen war kein Rötel, sondern Ruß.
Nicht weit vor mir ertönte plötzlich ein trockenes, mechanisches Husten. Dann leuchtete ein Feuerchen auf. Wie gebannt schaute ich auf die kleine pulsierende Flamme. Lichtreflexe verrieten hinter ihr ein auf mich gerichtetes Augenpaar.
Meine erstarrten Muskeln verkrampften.
Gegen die vernünftige Idee, einfach wegzurennen, sträubte sich mein Instinkt, der mir sagte, dass ich diesem Menschen, wenn es überhaupt einer war, nicht den Rücken zuzuwenden sollte.
Die Flamme erlosch.
Wer es auch war, es sah nicht danach aus, als ob er vorhatte, mit mir ein vernünftiges Gespräch zu führen. Ich beschloss, diesen Keller so schnell wie möglich zu verlassen und rannte los, zurück zum Aufzug.
Hinter der Flurbiegung schrie mich eine nackte Gestalt an. Sie hielt einen Speer auf mich gerichtet, holte unter bestialischem Geschrei und unmenschlichen Verrenkungen nach hinten aus und schleuderte mir das Ding in den Brustkorb.
Die Wucht des Speers warf mich nach hinten und ich prallte gegen die Flurwand. Der Speer war tief in mich eingedrungen und steckengeblieben.
Ungläubig betrachtete ich das aus mir herausragende lange Stück Holz und die Gestalt. Sie starrte unschlüssig zurück. Ihr Leib und der Kopf waren schwarz, die Extremitäten rot gefärbt.
Wenn ich nicht sterben wollte, musste ich hier raus, bevor mir die Schmerzen und der Blutverlust das Bewusstsein raubten.
Schreiend stolperte ich mit dem wie ein riesiger erigierter Holzpenis vor mir her wippenden Stock an der Figur vorbei zum Aufzug.
Die Aufzugtür stand offen, der Schlüssel steckte noch.
Ich schrie auf vor Schmerzen, als sich der verdammte Speer im Aufzug verkeilte. Ich schaffte es noch die Plastiktaste mit der EINS zu drücken und dann wurde mir schwarz vor Augen.
Etwas hatte mich geweckt. Ich sah Katrin. Sie blickte mich aufmunternd an, aber ich sah an ihren Augen, dass sie geweint hatte. Wahrscheinlich bis gerade eben, als ich wach wurde.
Ich hörte das rhythmische Piepsen des EKG und das unregelmäßig stampfende Zischen und Rauschen des Sauerstoffgerätes.
Beim ersten Versuch mich aufzurichten schienen plötzlich tausend Messer in meine Brust zu stechen. Ich stöhnte leise und verzichtete darauf, mich zu bewegen.
Katrin streichelte mein Gesicht, fuhr durch meine Haare und wurschtelte darin herum. Sie wollte etwas sagen, weinte dann aber nur ein wenig.
Dr. Hagenbeck aus dem Archäologischen Institut geriet in mein Blickfeld.
Meine Sauerstoffmaske hielt ihn aber davon ab, mich auszufragen.
Er erklärte mir, dass das Archiv von mehreren, höchst aggressiven Wilden bewohnt worden war, die erst nach zähem Widerstand durch das SEK der Polizei aus dem Labyrinth herausgeholt werden konnten.
Manche waren völlig nackt, alle wiesen Körperbemalungen auf und waren mit Speeren, Bogen und Pfeilen bewaffnet.
Es waren ausnahmslos Studenten von Dr. Temmes.
Temmes ließ mir durch Hagenbeck ausrichten, das ihm das alles sehr, sehr leid täte. Er wäre entsetzt über den Vorfall.
Temmes wäre in diesem Moment auf dem Weg von Finnland hierher.
Er wollte mir und Hagenbeck alles erklären und ausführlich seine Forschungsmethoden darlegen.
Mich interessierten Temmes' Forschungen nicht.
Wissenschaftliche Forschung war für mich schon immer das, was ich nie verstand und auch nie verstehen würde.
Katrins Hand fuhr mit unendlicher Zärtlichkeit an der Seite meines Kopfes entlang. Ich war glücklich und schlief ein.