Fotosession
„Ich hätte gerne ein paar schöne Aktfotos von mir.“, sagte die alte Dame.
Yvonne blickte in die stahlgrauen Augen der Kundin und versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Äh, ja, sicher“, stotterte sie und spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Der Grund dafür waren nicht die Aktfotos, schließlich war sie eine professionelle Fotografin und hatte schon viele Körper nackt abgelichtet, völlig gleich, ob männlich oder weiblich, jung oder alt. Allerdings hatte die Altersgrenze ihrer Kunden noch nicht jenseits der Fünfzig gelegen. Erneut ließ sie ihren Blick über den Körper der Frau in dem Rollstuhl schweifen, um eine Partie zu finden, die sie fotografisch hervorheben könnte. Doch das Einzige, was sie sah, war eine Körper von etwa achtzig Jahren mit schütterem weißen Haar, das sich an einigen Stellen bereits lichtete, ungesund wirkender Haut, mit dem Aussehen eines zerknüllten Blatt Papiers, und einem Blick, der selbst die Hölle zufrieren lassen gekonnt hätte. Sie würde sich wohl auf die Augen konzentrieren müssen.
„Oder bin ich ihnen nicht hübsch genug?“, fragte die Kundin mit zitternder Stimme, während sie Anstalten machte, sich aus dem Rollstuhl zu erheben.
„Nein, ich meine, doch.“, Yvonne fand einfach nicht die richtigen Worte, obwohl sie solche peinlichen Situationen immer wieder vor ihrem geistigem Auge durchgespielt hatte. „Wissen sie, an jedem Körper lässt sich irgendetwas finden, das man fotografieren kann.“
„Sicher.“, entgegnete die alte Dame. Sie hatte es geschafft, sich aus dem Rollstuhl zu erheben und stand nun vor Yvonne. „Nenn mich bitte Clarissa, während du Bilder von mir machst.“, bat sie mit einem Lächeln, bei dem selbst der Dalai Lama neidisch geworden wäre.
Mit einem flauen Gefühl im Magen registrierte Yvonne, wie Clarissa sich auszog. Sie konnte den Anblick nicht ertragen. Die dezent geschminkten Augen und die sorgfältig gekämmten Haare vermittelten ihr das Gefühl, dass ihre Kundin es sehr wohl verstand, ihren Körper trotz des Alters noch zu pflegen, aber damit allein konnte man die grauen Zeichen ihres Lebensabends, vielleicht sogar des herannahenden Todes, nicht übermalen.
Sie riss sich zusammen und bat Clarissa, ihre Kleider über eine Stuhllehne außerhalb des Kamerabereichs zu legen und auf auf der Decke Platz zu nehmen, die bei richtiger Beleuchtung einem Waldboden glich.
Während Clarissa von Kleidungsstück zu Kleidungsstück mehr Haut preisgab, machte sich Yvonne daran, die Einstellungen ihrer Kamera und der Blitzanlage zu überprüfen. Es tat ihr gut, sich hinter der Maschinerie aus moderner Technik verstecken zu können, hinter Geräten, die, im Gegensatz zu ihrer Kundin, jung, dynamisch und kraftvoll wirkten.
„Wie soll ich mich hinlegen?“, fragte Clarissa, und Yvonne blickte erschreckt auf.
„Am besten gar nicht.“, antwortete sie, bemerkte im gleichen Augenblick, dass sie ihre Gedanken tatsächlich laut ausgesprochen hatte und versuchte die Situation mit Posieranweisungen zu retten. „Ich meine,... Liegen ist nicht gut. Setzen sie, ich meine, setz dich hin, die Beine halb angewinkelt und zur linken Seite gestreckt. Und stütz dich auf deinen rechten Arm, während du die linke Hand auf den Oberschenkel legst.“
„So?“, fragte Clarissa.
„Ja, genau, super. Und nun schau nicht in die Kamera. Fixier eine Stelle an der Decke.“
Langsam kam Yvonnes Professionalität wieder zum Vorschein. Sie bemerkte die glänzenden Stellen auf Clarissas Stirn, die das Licht der Studiobeleuchtung reflektierten. Mit einem Schlag fielen ihr all die Fehler auf, die sie gemacht hatte, weil sie sich zu sehr vom Alter ihrer Kundin hatte ablenken lassen. Während die Blitzanlage sich noch auflud, huschte sie zu Clarissa und trug ein wenig Puder auf ihre Stirn und Wangenknochen auf, um die hässlichen Reflexionen zu unterbinden.
„Okay.“, sagte sie zufrieden, als sie die Szene aus zwei Metern Entfernung betrachtete, „Das sieht doch gar nicht so schlecht aus.“
„Allgemein?“, fragte Clarissa mit einem tadelndem Blick, „Oder meinst du damit, nicht schlecht für eine zweiundachtzigjährige Frau?“
„Papperlapapp. Lass uns anfangen. Leg den Kopf weiter in den Nacken.“
Yvonne begab sich hinter die Kamera und fühlte sich wesentlich wohler als in direktem Angesicht zu Clarissa. Sie begann abwechselnd Fotos zu schießen und Anweisungen für Posen zu geben. Mittlerweile machte ihr das Ganze schon fast Spaß. Mit jedem Bild, das sie schoss, fühlte sie sich sicherer, und jedes Foto von Clarissa wurde besser und erotischer. Zu Beginn zögerte ihr Modell noch, ihre Mimik spielen zu lassen. Zwanzig Fotos später, hätte selbst einem Profimodell vor Verwunderung der Mund offen gestanden. Clarissa gab Alles. Ihre Haut sah durch die sanfte Hintergrundbeleuchtung glatter aus und ihr Haar wirkte voluminöser. Es war zwar immer noch weiß, aber gerade das gab den Fotos einen ganz besonderen Touch.
Yvonne fotografierte wie besessen. Vierzig Fotos. Fünfzig Fotos. Und es schien kein Ende zu nehmen, da jedes Foto, das sie machte, dynamischer aussah und mehr Jungendlichkeit ausstrahlte als das Vorhergehende. Clarissa blühte auf, wie eine Rose aus Jericho, die man in eine Schale mit Wasser geworfen hatte, während sich Yvonne mehr und mehr in einen Rausch hineinsteigerte.
Sie wusste nicht mehr, wie lange sie fotografiert hatte. Vielleicht war es eine Stunde, vielleicht auch zwei oder drei. Auf jeden Fall hatte sie nach der Fotosession knapp vierhundert Fotos auf den Speicherchip der Kamera gebannt. Während sie für Clarissa den Abholschein ausfüllte, bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten. Die Aufregung ergriff immer noch ihren ganzen Körper.
Auch als die Kundin den Laden verlassen hatte, kam Yvonne nicht zur Ruhe, sondern war aufgewühlt wie nach einem Bungee-Sprung.
Sie suchte die Tasse Kaffee, die sie sich eingegossen hatte, als Clarissa den Laden betreten hatte und musste feststellen, dass sie inzwischen eiskalt geworden war. Es war ihr egal. Mit der Tasse in der Hand, schlurfte sie erschöpft in das Studio und ließ sich auf dem Rollstuhl nieder, den Clarissa vergessen hatte.
Rollstuhl? Verdammt, sie hatte ihn tatsächlich vergessen und sich zu Fuß aus dem Laden gemacht. Yvonne wollte aufspringen und der alten Dame hinterher laufen, aber sie fühlte sich zu schwach. Die Session hatte lange gedauert, und sowohl das Stehen als auch die psychische Anspannung hatten sie so aufgewühlt, dass sie einfach nur sitzen wollte, um ihre Tasse Kaffee zu geniesen. Clarissa würde wiederkommen.
Mit einer zittrigen Hand führte sie die Tasse zu ihrem Mund und verkleckerte dabei etwas Kaffee, der auf ihrem Handrücken landete und den sie ableckte. Irgendetwas war komisch. Die Haut fühlte sich an wie Leder. Sie betrachtete die Ober- und Unterseite. In dem schummrigen Licht des Studios sah sie alt aus. Fast so alt wie die Hände von Clarissa, als sie das Geschäft betreten hatte.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Mit dem Gefühl aufsteigender Panik stellte Yvonne die Kaffeetasse auf den Boden und fuhr durch ihr Gesicht. Auch hier fühlte sie ledrige Haut, nicht mehr das straff gespannte Gewebe, das sie kannte. Als ihre Hände am Haaransatz ankamen, stoppte sie schockiert. Alles war anders. Ihr glattes, dunkles Haar fühlte sich kraus an. Außerdem schien es lichter geworden zu sein.
Für einen kurzen Augenblick setzte Yvonnes Herz aus. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden.
Panik – Traum – Panik – Traum.
Mit einen Ruck sprang sie auf, bemerkte wie ihre gebrechlichen Beine nachgaben, schlug der Länge nach hin und landete mit dem Gesicht nach unten auf der Decke, auf der sich noch vor wenigen Minuten Clarissa in erotischen Posen gerekelt hatte.
Es kostete sie Mühe aufzustehen. Sie hatte jegliche Kontrolle über ihre Muskeln verloren, schaffte es aber dennoch sich an dem Stativ der Kamera hochzuziehen und mit klopfendem Herzen ins Badezimmer zu stolpern.
Als die Neonröhren an der Decke ihren Dienst aufnahmen und den Raum in ein gleisend weißes Licht tauchten, erblickte Yvonne ihr Spiegelbild und erstarrte. Ihr war klar, dass Clarissa nicht wiederkommen würde. Mit Entsetzen versuchte sie sich selbst in dem Spiegel zu erkennen, aber das Einzige, was sie sah, waren die greisenhafte Züge Clarissas.