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Früher brannten mehr Bäume
Sobald meine Eltern mich für alt genug hielten, die Strecke zu Omi allein zu laufen, hieß es:
„Geh du schon mal vor, wir kommen nach!“ Und für mich war klar, sie würden auch dieses Jahr zu Omis Weihnachtsfeier zu spät kommen.
Den zwanzigminütigen Fußweg zu ihrer großen Altbauwohnung trottete ich stets in einem Zwiespalt. Erschien ich pünktlich, musste ich die inquisitorische Befragung meiner Verwandten ertragen. Kam ich als die Quasi-Vorhut zu spät, wurde ich getadelt, dass man so etwas nicht tue und ob mir solch ein Verhalten etwa meine Eltern beigebracht hätten.
Bange klingelte ich.
„Kommen deine Eltern nicht?“ Meine Tante Thea spähte irritiert an mir vorbei die Treppe runter.
„Die kommen nach.“
„Na, denn frohe Weihnachten, komm rein!“ Die Haustür ließ sie sperrangelweit auf.
„Die kommen später“, klärte ich sie auf und drückte die Tür zu.
„Ach so, wann kommen sie denn? Omi hat gesagt, allerspätestens um sechs.“
Ich zog die Schultern hoch, doch mein unförmiger Wintermantel ließ das nicht erkennen.
„Haben sie dir nicht gesagt, wann sie kommen?“
Ich blickte überrascht meine Tante an. Meine Eltern wären im Leben nie auf die Idee gekommen, ihrem Kind etwas über ihre Pläne mitzuteilen.
Gab es Eltern, die das taten? Oder war das eine Fangfrage? Meine Wangen glühten.
Woher sollte ich wissen, wo sie jetzt waren.
Sie hatten keine Lust auf die Weihnachtsfeier. Das wusste ich.
In meiner Naivität hatte ich das in einem Jahr mal redselig mitgeteilt und durfte mir stellvertretend für meine lustlosen, säumigen Eltern wüste Vorwürfe anhören. Selbst das dümmste Kind tut dies kein zweites Mal. Einen „Du-kannst-nix-für-deine-Eltern-Bonus" gab es bei meinen Verwandten nicht.
Dreist etwas zusammenzulügen, das gelang mir meist schon im Ansatz nicht. Blieb nur zusammengestotterte Flucht nach vorn:
„Ich, äh, finde auch, dass sie nie pünktlich kommen, also, äh, das ist echt unmöglich.“
Der durchdringende Blick meines Onkels Paul ruhte auf mir und besagte:
„Dich durchschau ich. Du bist so durchtrieben wie deine unmöglichen Eltern.“
Ansonsten war nun Ruhe. Nur ich hatte keine, weil jede weitere Minute, in der meine Eltern nicht erschienen, auf mir lastete, als sei ich allein dafür verantwortlich.
Jedes Jahr, das wussten wir alle, trieb meine Omi ihren Schwiegersohn Jochen in den Tannenbaumwahnsinn.
Es musste für ihre Wohnstube mit der hohen stuckverzierten Decke eine meterlange Tanne sein, das brauchte sie nicht zu erwähnen.
Da sie kaum noch laufen konnte, schleppte er ihr mehrere Modelle in die Wohnung, unter denen sie wählen konnte.
„Was soll ich mit dieser Tanne? Geh mir damit weg“, hieß es dann.
„Da sind zu viele Zweige oben herum.“
„Wieso, die ist dadurch schön grün.“
„Wie soll ich denn da die Kugeln reinhängen, die haben ja keinen Platz.“
„Himmel, hast du denn nicht gesehen, wie krumm die gewachsen ist? Da wird man ja seekrank.“
„Das ist Natur.“
„Natur nennst du das? Ach geh, bist du auf dem Land aufgewachsen? Ich weiß, wie ein Tannenbaum auszusehen hat.“
„Hattest du keine Augen im Kopf? Auf diese Fichte passt keine Spitze. Die hättest du gleich dalassen können. Und der Baum nadelt.“
„Herrgott nochmal, ich hatte gesagt, nicht mehr als 15 Mark. Ich zahle keine 16!“
„Dann pack ich die eine Mark obendrauf und gut ist.“
„Untersteh dich. Man kann diese Räuber nicht auch noch unterstützen. Bring die Tanne sofort zurück.“
Am Ende bearbeitete dann mein Onkel den jeweiligen Baum mit Säge und Holzbohrer, um ihn nach den ausgefeilten Wünschen meiner Omi umzugestalten.
„Und? Wie oft ist dein Vater dieses Mal wegen der Tanne losgezogen?“, fragte ich meinen Cousin, der wortwörtlich zu den Leidtragenden gehörte. Meist musste er mit, um den riesigen Tannenbaum zu schleppen.
„Frag nicht! Sechsmal.“
„Konntet ihr denn die Bäume immer wieder umtauschen?“
„Der erste Tannenbaumverkäufer kannte uns schon. Der hat gleich gesagt: ‚Ihr schon wieder, dieses Jahr ist aber beim dritten Baum Schluss mit lustig.‘ Da mussten wir einen Zweiten suchen, aber der war am Ende so grantig, dass er mit der Axt rumgefuchtelt hat.“
„Und mit dem Baum war Omi auch wieder nicht zufrieden oder?“
„Genau, aber dann ist Vati ausgerastet: ‚Du nimmst jetzt den oder keinen, ich geh kein weiteres Mal los. Mir scheißegal, ob du dann Heiligabend einen hast oder nicht!‘
Dann war Omi erst mal mucksch und Vati hat ihn stundenlang umgearbeitet. Er wär schneller fertig gewesen, wenn er nochmals losgezogen wär. Schau: Hier und da und da hat er Zweige rein, ach, hihi und hier.“
„Da sind überall Zweige reingesetzt worden? Was, wenn die mit den brennenden Kerzen wieder rausfallen?“
„Dann ist hier was los“, grinste mein Cousin verschmitzt.
Besorgt blickte ich auf den Baum, sah in meiner Phantasie die ersten Zweige rausrutschen, Kerzen Funken sprühen, Parkett und Gardinen entflammen, auf die Sofakissen übergreifen und eine Feuersbrunst uns den Weg aus dem Wohnzimmer versperren.
„Haste Schiss?“, juxte mein Cousin und drückte einen der Zweige so weit nach unten, dass er wie ein gespannter Bogen beim Loslassen nach oben schnellte. Der Baum wackelte. Die Kerzen schwankten, rotzten heißes Wachs auf Zweige, Lametta rutschte ab und regnete pietätlos auf die Köpfe der Krippenfiguren.
„Was macht ihr da?“, rief meine Tante Thea, „kommt da mal sofort vom Baum weg.“
„Nix“, sagte mein Cousin, „sie wollte nur sehen, wo Vati überall gebohrt hat.“
Wenn endlich meine Eltern eingetroffen waren, saßen neun Erwachsene am Esstisch und weil der nicht ausreichte, quetschten wir fünf Kinder uns an den Katzentisch. Obwohl unsere Teller darauf kaum Platz hatten, waren wir froh, nicht bei den Großen essen zu müssen. Wann immer sie redeten, und das taten sie ununterbrochen, durften wir Kinder nichts dazwischen sagen. Und wir mussten ausgesucht manierlich essen.
„Sag mal, Birgit, wie hältst du denn die Gabel, die nimmt man doch nicht in die Faust. In deinem Alter musst du das aber schon können.“
„Lass sie doch, das wird noch. Ich seh das nicht so eng.“
„Also wirklich, Thea! In diesem Alter müssen beim Kind schon ein paar Dinge abgeschlossen sein. Komm, Birgit, ich zeig dir, wie man die Gabel richtig hält.“
„Ich hab gesagt, lass sie, du verdirbst ihr ja das ganze Essen.“
„Himmel, man wird ja noch ..., ich mein es doch nur gut.“
„Was ist denn mit Peter? Hat der immer noch sein Stottern?“
„Ist das eine Retourkutsche von dir?“
„Wieso? Darf man sich nicht mehr erkundigen?“
„Kinder, Kinder“, meine Omi meinte damit ihre eigenen, „greift tüchtig zu und esst. Und Schluss mit diesem Gerede!“
„Ich möchte darauf aber noch antworten.“
„Reichst du mir mal den Rotkohl?“
„Vor dir steht direkt die Schüssel.“
„Ach, die hab ich komplett übersehen. Wer hat grad die Soße?“
Da waren wir lieber unter uns, kicherten über Omis Essen, das uns zum Teil richtig gut schmeckte. Das gab man der Witzeleien wegen natürlich nicht zu. Und wir erlebten gebannt mit, wie am Nachbartisch Onkel Paul sagte:
„Ich kann keinen Schweinebraten mit Rotkohl mehr sehen. Jedes Jahr dasselbe. Ich ess das nicht mehr.“
Nach diesen Sätzen war es im Wohnzimmer seltsam still geworden, bis auf das feine Knistern der Dochte, wenn wieder am Tannenbaum eine der Wachskerzen seitlich auslief.
„Dann lässt du es“, erwiderte meine Omi und an der Art, wie eisig sie es gesagt und weil sie nur vier Worte benötigt hatte, war jedem klar: Er kann sofort gehen. In den nachfolgenden Jahren aß Onkel Paul weiterhin stoisch Schweinebraten mit Rotkohl und sagte nie wieder etwas dazu.
Während wir Kinder in kichernder Einigkeit an unserem Tisch hockten, schwappten die Satzfetzen der Erwachsenenunterhaltung zu uns rüber. Da wir die Themen kannten, die allweihnachtlich abgehandelt wurden, reichten die wenigen Brocken aus, um zu wissen, um was es gerade ging.
Jedes Jahr wurde zunächst harmlos diskutiert, wer den ersten Kühlschrank in seinem Haushalt hatte, alternativ und zur Abwechslung ging es auch um den ersten Fernseher und später um die erste Waschmaschine.
„Habt ihr schon gehört, dass wir uns einen Kühlschrank mit Eisfach gekauft haben? Einen Bauknecht.“
„Wofür braucht ihr denn ein Eisfach?“
„Bauknecht weiß, was Frauen wünschen.“
„Thea, wir haben keinen Bauknecht.“
„Nein? Was denn? Verwechsel ich das? Dann sag du es, Jochen.“
„Einen von AEG.“
„Alles erlesener Gammel. Prost Weihnachten!“
„Prost, ich dachte, wir hätten einen Bauknecht gekauft.“
„Na ja, AEG ist ja eine gute Marke, unser erster war ein AEG, nich‘, Günther?“
„Ja, wir hatten den Ersten.“
„Das kann nicht sein, ihr seid ja erst 56 in die Wohnung vom Bauverein gezogen, dann hättet ihr ja schon davor in der alten Wohnung einen gehabt. Das geht nicht zusammen.“
„Wir hatten auf jeden Fall den Ersten! Ihr habt ja erst zwei Jahre später ...“
„Nee, den hatten wir, denn wir sind 55 in den Garstedter Weg gezogen.“
„Wer will Weißwein? Keiner? Dann schütt ich mir den Rest ins Glas.“
„Thea, geh bitte in die Speisekammer, da steht rechts unten eine Flasche von der Spätlese.“
„Hast du die nicht gekühlt? So pipiwarm kann man die nicht trinken.“
„Wir haben ja schon 55 ...“
„Wer will Cognac?“
Meist wurde wegen der zunehmenden Erinnerungslücken aus der Diskussion ein Streit. Jeder wollte der Erstbesitzer gewesen sein. Wir Kinder begriffen von diesen heißblütig geführten Diskussionen: Wer den ersten Kühlschrank angeschafft hatte, gehörte zu den Wohlhabenden, die anderen waren arme Schlucker.
Zum Nachtisch gab es meist eine von meiner Tante Thea hergestellte Buttercremetorte. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals davon ein ganzes Stück gegessen zu haben. Erst recht nicht, dass meine Mutter jemals so eine Fettschwerstlast zu Hause auf den Kaffeetisch gebracht hätte. Ich erinnere mich, wie ich einmal eine Gabel von dieser akkurat mit Cremetuffs, Kirschen und Schokoplättchen dekorierten Torte probiert hatte, denn ihr Aussehen war sehr verlockend. Das fettige Gefühl am Gaumen, die sogleich einsetzende Panik, nie wieder den Fettfilm mit der Zunge abgewaschen zu bekommen, blieben mir unvergesslich. Dabei liebte ich schon als Kind Torten, aber weder die Buttercrememodelle, noch das, was meine Mutter fabrizierte.
Wenn es bei uns überhaupt Torte gab, dann handelte es sich um einen Billigbiskuitboden aus dem Laden. Es wurde ein Glas eingemachte, abgetropfte Sauerkirschen aus unserem Schrebergarten drübergekippt und der aus dem aufgefangenen Saft angerührte Tortenguss mit verwegenem Schwung, so heiß, wie er war, drübergeschüttet. Das Ergebnis war eine Torte, die den Namen nicht verdiente. Der heiße Tortenguss grub sich durch den Fabrikbiskuit bis auf den Tortenteller, an den Rändern des Kuchens lagen die Sauerkirschen frei und kullerten nach dem Anschneiden haltlos seitlich fort. Irgendwann wagte ich es, mich darüber zu beklagen.
„Mir schmeckt Muttis Torte“, sagte mein Vater und ließ stets den Kuchenrand auf dem Teller übrig. Und so lief ich mit meiner Beschwerde über das mütterliche Produkt der hohen Tortenkunst auf.
Und mutierte als Folge dieser Geschmacksmisere später zu einem Gast, der sich außerhalb des Elternhauses sehr bereitwillig ein drittes Stück Obsttorte aufnötigen ließ.
Nach dem Abräumen des Geschirrs war dann der Höhepunkt des Abends an der Reihe oder anders gesagt, der alljährliche Beweis dafür, dass ich über kein Schauspieltalent verfügte: die Bescherung der Kinder.
Umringt von allen Verwandten wurde nacheinander immer nur einem Kind ein Geschenk überreicht.
Ich wusste nie, welche Mimik von mir beim Auspacken erwartet wurde. Gleich wird mich jemand schelten, weil ich undankbar blicke, war meine begleitende Angst. Selbst wenn ich gewusst hätte, was sie von mir für eine Miene erwarteten, ich hätte sie nicht ausführen können. Für mein Leben gern hätte ich auf diese Geschenke verzichtet, um sie nicht vor diesen prüfenden Augen auspacken zu müssen. Aber es gab nie ein Entrinnen.
Erst recht nicht, wenn Tante Irma, die gleich nach Kriegsende nach Australien ausgewandert war, ein Weihnachtspaket geschickt hatte. Meist wurde es erst im Beisein aller geöffnet und was dann für uns Kinder zum Vorschein kam, zeugte von der immensen Distanz zwischen Hamburg und Melbourne.
Tante schickte mit einem Jahreskalender bedruckte kreischbunte Handtücher. Was sollten wir Kinder mit Geschirrhandtüchern, deren Anblick einen jahrelang in der Küche verfolgte? Wenn man noch größeres Pech hatte, wickelte man eines ihrer selbstgestrickten Kleidungsstücke aus dem Geschenkpapier, die immer so aussahen, als feierten die Aussis täglich Karneval. Das beschenkte Kind musste unter Ah- und Oh-Beifall der Verwandten das jeweilige Kleidungsstück wie bei einer Modenschau präsentieren.
„Dreh dich noch mal! Doch, es sieht schön aus, dies Jäckchen. Warte, ich zieh am Ärmel, damit er länger wird.“
„Ja, ja, die Irma, die strickt und strickt, wo sie steht und geht. In ihren Luftpostbriefen schreibt sie laufend davon, wem sie grad was handarbeitet. Ich könnt´ das ja nicht, mit so viel Fäden.“
Traf es mich, wurde mir schmerzlich klar, dass in mir null Theaterblut brodelte.
In diesen Momenten, in denen ich am liebsten unsichtbar geworden wäre, war ich wie üblich elternlos. Mag sein, dass sie nicht ahnten, dass ich mich schämte. Mag sein, dass sie befanden, ich sei des Beistandes nicht wert. In meiner kindlichen Verlassenheit wurde mir damals ernüchternd klar, dass es noch viele Momente geben wird, in denen man sich auf die Eltern nicht verlassen konnte.
Nach der Bescherung und bevor alle Erwachsenen wegen des beständig ausgeschenkten Cognacs nicht mehr grade stehen konnten, wurde zum krönenden Abschluss das große Familienfoto gemacht. Mein Onkel Jochen, der der sich mit Omis Tanne rumquälen musste, war dafür zuständig.
Meist dauerte es über eine halbe Stunde, bis alle so zusammenstanden, wie meine Omi es haben wollte.
Dann äugte mein Onkel durch die Kameralinse und brachte wieder alles durcheinander, weil nicht alle in den Bildausschnitt passten.
Wir Kinder standen vorne und blieben dort, während hinter uns die Neuaufstellungen weitergingen. Wir hatten somit genügend Zeit, etwas Ungeheuerliches auszuhecken:
„Wollen wir gleich, wenn es blitzt, die Zunge rausstrecken?“
„Oh ja, hihi, das machen wir.“
„Nein, bist du doof, doch nicht jetzt schon. Erst, wenn er auf den Auslöser drückt.“
„Nein, erst wenn er auf den gedrückt hat und dann zu seinem Platz gerannt ist, sonst sieht er das und wird böse.“
„Abgemacht, hihi, die werden sich wundern. Aber es machen alle mit, klar?“
„Klar.“
So nutzten wir die elende Wartezeit, um diese Verschwörung anzuzetteln. Ich kann mich jedoch an kein Foto erinnern, bei dem eines von uns Kindern die Zunge herausgestreckt hat.