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Frühstück mit einem Zombie

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20.02.2005
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Frühstück mit einem Zombie

Ein Zombie...er ist ein Zombie! Ich kann nicht mehr genau sagen wann es angefangen hat. Mir will auch kein Auslöser einfallen. Jedenfalls kein einmaliges, plötzliches Ereignis. Ich weiß nur das Eine, er ist nicht mehr da! Abgeritten. Zu seinen Ahnen. Nur noch eine Hülle aus Fleisch und Blut. Und ich sitze dieser Hülle gegenüber. Jeden Morgen. Schon seit ein paar Wochen. Nur mein teilweise morbider Humor lassen mich die Situation einigermaßen ertragen.

Die Hülle frühstückt. Zumindest versucht sie etwas zu essen. Die Marmelade will einfach nicht auf dem Brötchen bleiben. Wie auch, wenn man es zuerst ungeschickt mit einem Löffel überlädt und anschließend alles so oft durchschneidet, dass es zwangsläufig Matschwürfel werden. „Wie spät ist es“ werde ich etwas undeutlich gefragt. „ Halb Zehn!“ antworte ich. „Geht die Uhr richtig?“. „Ja, die Uhr geht richtig. Wir haben halb Zehn vormittags und draußen ist es hell!“ antworte ich mit warmer Stimme.

Ich sehe weiter zu, beobachte ihn. Ruhig und mit leerem Blick, versunken im stillen Kampf mit den Objekten, sitzt er dort. In mir zieht sich alles zusammen. Der Löffel, noch voller Marmelade, rührt nun den Kaffe um. Ekel steigt in mir auf. Ich sehe an die Pinnwand. Direkt über dem Küchentisch. Durchbohre das Bild aus besseren Tagen förmlich. Es zeigt ein kleines Mädchen mit ihren sichtlich stolzen Großeltern.

Ich blicke zurück auf mein Brötchen. Es lächelt mich mit genauso wenig Begeisterung an verspeist zu werden, wie ich sie verspüre, mich darüber hinwegzusetzen. Aber ich zwinge mich dazu. Schließlich wird es wohl wieder ein anstrengender Tag werden. Waschen, bügeln, einkaufen, Bett machen, von Inkontinenz gezeichnetes Badezimmer putzen, spazieren gehen. Kauend zwing ich mich in die Ecke des Gartens zu sehen. Dieselbe Ecke den die Hülle immer anstarrt. Wenn sie nicht gerade isst.

Was war dieser Garten einst lebendig. Ein Collie, der um lachende Kinder läuft und bellt. Eine Frau, die wachsam nebenbei Wäsche aufhängt und ein voll Energie geladener, lebenslustiger Mann an einem Gartentisch. Der Mann, ein Koch. Nicht nur von Beruf, sondern mit Leib und Seele. Unfähig einen Nagel in die Wand zu schlagen, aber geschickt und fantasievoll um aus Fleisch und Gemüse, Obst, Kräutern und sonstigem Allerlei eine Weide für Augen und Magen zu zaubern. Tausende Menschen musste er in Verzückung gesetzt haben. Auf Zügen, Schiffen oder später im eigenen kleinen Hotel mit Bürgersaal. Keiner der ihn nicht kennt. Mit anderen Männern immer zu Scherzen aufgelegt, zu Frauen stets charmant. Das Leben, als stetige Party mit vielen Gästen. Damals.

Man kann nicht sein Leben lang rund um die Uhr arbeiten, so ging das Hotel. Dann die Kinder ins Leben. Kaum im eigenen Spätherbst angelangt, ging die Frau. Nicht in das Leben. Was hält einen aufrecht? Nach vierzig Jahren Ehe plötzlich allein in einem großen Haus? Ich finde keine Antwort. Vielleicht ist das die Antwort. Vielleicht fühlt sich so der Winter an.

„Geht die Uhr richtig?“ werde ich erneut gefragt. „Ja, es ist viertel vor Zehn!“ entgegne ich mechanisch und decke den Tisch ab. Ich erinnere mich an den letzten Arztbesuch. „Wann haben sie Geburtstag?“ wurde er gefragt. Schweigen. „Sie feiern doch irgendwann Geburtstag?“ kommt es bohrender. Schweigen. „Wissen Sie an welchem Tag Sie geboren sind?“ fragt er noch konkreter. Schweigen. Dann, nach einer Weile, vernehmen wir ein zögerliches „Nein!“ Der Blick des Arztes triff mich – direkt in mein Herz. Demenz, wird mir später mitgeteilt und etwas von reduzierter Gehirnmasse erklärt der Arzt. Alzheimer Stufe eins bis zwei. Drei gäbe es...die Stimme des Arztes entfernte sich...ich hörte nicht mehr hin.

Den Mann, an den Armen untergehakt, schlurften wir, zwangsweise gemeinsam, Schrittchen für Schrittchen zurück zu meinem Auto. „ Ich mag den Kerl nicht, er ist hartnäckig“ kommt es leise. Ich konnte ein kurzes Lachen nicht unterdrücken, doch eigentlich war mir nach weinen zumute.


Ich bemerke wieder sein sinnloses, ungeschicktes sortieren von Gegenständen. Kontrollieren von Taschen. Die Hände hospitalistisch wie der auf- und ablaufende Löwe im Zoo. Die Schachtel Zigaretten wandert von der Hemdtasche in die Hosentasche, auf den Tisch und zurück in das Hemd. Von dort erneut auf den Tisch. Bis irgendwann schließlich eine einzelne Zigarette brennt und er sich zurecht rückt, in den Garten starrt.

Ich sitze ihm wieder gegenüber und sehe ihn an, folge seinem leeren Blick. Stunden, Tage, Wochen sitzt er schon so da. Was denkt er. Was kann er noch denken? Wie nimmt er sich und seine Umwelt war? Wie mag es sich anfühlen, wenn die Persönlichkeit vor dem Körper stirbt? Wir starren beide. Ich gedankenverloren, er mit verlorenen Gedanken. Manchmal sagt er Dinge wie: „ Ich weiß ich bin nicht mehr ganz echt“ oder „ Ich weiß ich kann dies und jenes nicht mehr“. Das sind die schlimmste Momente für mich. Man kann es sich nicht ausreden, er bekommt es mit. Was immer „es“ ist! Ich sehe ihn an und höre seinen stummen Schrei. Den Schrei nach der Vergangenheit, seiner Frau, die Rheumakrank seine letzte große Aufgabe war, nach seinem Leben. Nach seinem ICH. Doch ich sitze nur hilflos da, und höre den stummen Schrei in mir.

Geschrien haben wir beide oft. Im letzten Sommer. In den Monaten bevor er operiert wurde. Man hatte neben dem unveränderlichen Verfall eine Ansammlung von Gehirnflüssigkeit festgestellt. Es wurde ein Schlauch im Körper verlegt und vieles ist wieder besser geworden. Aus dem Zustand eines dreijährigen Kindes, mit unsicherem Gang, ungeschickter Feinmotorik und benebeltem Geist eines alten Mannes, ist ein vielleicht 10 Jähriger geworden. Er wird nie wieder ganz der Alte sein, der Verfall ist nicht aufzuhalten. Aber ein paar Jahre lebenswertes Leben hat er sich zurück geholt. Oder nur die Sehnsucht der Erlösung näher zu kommen wieder hinten angestellt?

Vor ein paar Tagen war ich ihn besuchen. Ich bin nicht oft da, es war zuviel für mich, habe es nicht ertragen. Anderen überlassen. Ich glaube er weiß nicht mehr viel von dem letzten Sommer - als sein Geist schlief. Und auch nicht mehr wie ich ihn versorgte. Es ist wie es immer war. Wir hatten nie ein besonders enges Verhältnis, vielleicht sind wir uns in Einigem zu ähnlich, in Anderem zu verschieden. Aber er hat mich eingeladen, mich gebeten ein paar Getränke einzukaufen, für diesen Sonntag.

Ich freue mich auf den Sonntag, den wiedergefundenen Geburtstag - meines Vaters.

 

Anmerkung

Nach meiner Erstveröffentlichung hier, frei erfunden und sicherlich amüsanter,
nun der Versuch erlebtes, ernstes, einmal schriftlich umzusetzen. Gedanken und Gefühle, meine Stimmung und Situation, anhand eines Ausschnittes aus dieser Zeit, zu transportieren. Ich habe mich gefragt ob ich es überhaupt schaffe diese, in dem Erlebten noch komplexere Thematik, in Wort und Schrift einzufangen. Nebst dem Sprachlichen und Strukturellen einer KG bin ich also daran interessiert ob mir dies, wenigstens Ansatzweise, gelungen ist.
Ich freue mich auf euer feedback. :)
Lieben Gruß
Micha

 

ich bin beeindruckt. ich bin zwar wahrscheinlich nicht alzu schwer zu beeindrucken :) aber doch, ich fand sie echt gut. ich bin eigentlich mehr in der sf ecke, daher n bisschen ungewohnt. ich habe wirklich drauf gewartet, was der letzte satz ist, denn dass da ein pointensatz kommt, war zu erwarten - dass es um den vater ging, hätte ich echt nicht gedacht. ich bin in hinsicht sprachlicher verbesserungen leider nicht so gut, ich lese mir das meistens eher auf den inhalt so durch, und so kleine fehler beachte ich dann eher gar nicht, da lass dich besser mal von anderen wie mir korrigieren. aber mir hat sie jedenfalls gefallen, die geschichte.

 

Hallo Zimmerpanther.

Eine schöne (kann man hier von "schön" reden?) Geschichte. Besonders gut gefällt mir die am Anfang sehr trockene Art des Erzählers.

"Die Hülle frühstückt." Mein absoluter Lieblingssatz. Zuerst wusste ich nicht recht was ich von alledem halten soll, doch dann erfährt man von der Krankheit, es wird alles etwas einfühlsamer beschrieben - so kommt es mir vor.
Vor allem die ganzen Fragen, die sich der Sohn stellt, was seinen kranken Vater betrifft.
Ich dachte die ganze Zeit es erzählt irgendein Pfleger von der Person, weil man wirklich nicht den Eindruck bekommt, dass sich die beiden Personen sehr nahe stehen.
Als man es am Ende weiß und gleichzeitig erfährt, dass die beiden ein schlechtes Verhältnis zueinander haben, glaubt man das auch sofort. Das ist durch die trockene Art gut rüber gekommen.

Mehr habe ich dazu erstmal nicht zu sagen.

Liebe Grüße
kleine Nacht

 

@ jonny m: Nunja, wenn sf Dein Ding ist freut es mich schon sehr Dich beeindruckt zu haben - ist ja nu mehr als ein anderes Extrem.

@kleine Nacht: Natürlich kann man sie nicht wirklich schön finden.
Ein "schlechtes" Verhältnis war und ist es nicht, nur halt nicht so innig.
Und wenn einem dann der eigene Vater aufgrund einer solchen Krankheit wirklich fremd wird...und man in seinem Denken und Handeln auch nicht mehr wiederkennt-dann entsteht in der Tat diese Diskrepanz. Gut zu hören, dass ich diesen Punkt vermitteln konnte.
@ Christine: Vielen lieben Dank für Dein Kommentar. Die Fehler hab ich verbessert.
Reingesaugt und berührt geht natürlich runter wie Öl. Ich hoffe das bald mit Angenehmerem wiederholen zu können.

Vielen Dank euch allen!!!! :)

 

Hallo Zimmerpanther,

ich muß schon sagen, ich finde die Geschichte erschütternd. Meine Eltern sind körperlich und geistig noch gut drauf, aber es ist meine größte Angst, daß es irgendwann nicht mehr so sein könnte und die wird durch Deine sehr anschauliche Schilderung noch unterstrichen.
Bemerkenswert fand auch ich die Veränderung, die im Text vonstatten geht. Erst die Distanz, aus welcher heraus erzählt wird, und dann die stärker werdende Nähe.
Ansonsten kann ich mich den anderen nur anschließen.

Ein Satz fiel mir als unvollständig auf: "Dann die Kinder ins Leben." Müßte es nicht heißen, "Dann kamen die Kinder in sein Leben."?

Liebe Grüße,

Kätzchen

 

Hallo Kätzchen,
vielen Dank für Deine Kritik. Ich wünsche es keinem so etwas zu erleben und Worte können auch nur schwer die gesamten Emfindungen aller Beteiligten beschreiben.
Aber immerhin scheint es mir ein Stück weit gelungen...
Ich habe mich auf einen "Ausschnitt" konzentriert, denn in der Praxis ist die erste Veränderung die Entfremdung, wenn man plötzlich den eigenen Vater nicht wiedererkennt und er mitunter, wortwörtlich, die eigenen Kinder nicht mehr. Wie gesagt, hier nur ein Auschnitt, der eigentlich um der Realtität zu entsprechen schon mittendrin anfängt und die Wiederannäherung beschreibt, nicht nur weil man lernt damit (so gut es geht) damit klar zu kommen, sich mit der Krankheit (Demenz, Alzheimer) auseinandersetzt, sondern weil in diesem speziellen Fall eine Teilgenesung dies zuließ.
Zu dem Satz. Achte auf den Kontext:

Man kann nicht sein Leben lang rund um die Uhr arbeiten, so ging das Hotel. Dann die Kinder ins Leben. Kaum im eigenen Spätherbst angelangt, ging die Frau. Nicht in das Leben. Was hält einen aufrecht? Nach vierzig Jahren Ehe plötzlich allein in einem großen Haus?
Ein Hotel "geht" auch nicht...er hat es aufgegeben. der Folgesatz ist die unausgesprochene Verlängerung. Die Kinder gingen ins Leben - meint sie zogen nach und nach aus um ihr eigenes Leben zu leben. Die Frau... Nicht in das Leben - also in den Tod. Was durch...allein im Haus nochmal klarer zum Ausdruck kommt.
So wie Du ihn intepretierst, klingt es als wären sie geboren worden oder einmal weg gewesen aus seinem Leben. Ist dann aber, da er ein alter Mann ist falsch bzw. faktisch nicht korrekt. Ich möchte ihn so stehen lassen, da ich auch keine gramatikalische Lösung finde die mir gefällt (Komma, Gedankenstrich, etc.)

Nochmal Vielen Dank
Liebe Grüsse
Micha

 

Hallo Zimmerpanther,

ich habe leider ein wenig unaufmerksam gelesen, wie es scheint. Jetzt verstehe ich, wie Du den Satz gemeint hast. Ich finde auch nicht, daß Du ihn ändern solltest.

Bevor mein Großvater starb, hat er uns, seine Familie, auch nicht mehr erkannt und uns als Fremde lautstark aus dem Krankenzimmer geworfen. An anderen Tagen war er wieder vollkommen klar, man wußte nie, was einem begegnet, wenn wir ihn besucht haben. Ich kann in etwa nachvollziehen, wie schwer es ist, für so eine Begebenheit die richtigen Sätze zu finden. Insgesamt ist es Dir wirklich gut gelungen, die Atmosphäre und Deine Gefühle dazu einzufangen. Wie gesagt, ich war richtig erschüttert, als ich die Geschichte las.

Liebe Grüße,

Kätzchen

 

Hallo Zimmerpanther,

post mortem (du warst schon mehrere Jahre nicht mehr aktiv hier) halte ich dennoch diese Geschichte für Wert, mal wieder ausgegraben zu werden.

Liebe Grüße,

AE

 

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