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Freddy Holzmann - Eine ungewollte Freundschaft
Freddy Holzmann – Eine ungewollte Freundschaft
Teil 1: Der Retter
Ich war zwölf als ich Freddy zum ersten mal traf. Er war neu in unserer Stadt und er wurde am ersten Schultag der Klasse vorgestellt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als er zusammen mit Herrn Kohlmann, so war der Name unseres damaligen Direktors, das Klassenzimmer betrat.
Wir hatten gerade Geschichte und sein Auftritt war uns eine willkommene Abwechslung vom trockenen Unterrichtsstoff. Sein langes, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar und sein blasser Gesichtsausdruck zogen sofort die Blicke unserer Klasse auf sich. Auf seiner rechten Gesichtshälfte war eine Narbe erkennbar, die stark an die Verletzung mit einem Messer hindeutete. Sein Gang war leicht nach vorne gebeugt, seine Ausstrahlung verhieß nichts Gutes.
Mit lauter Stimme brachte der Direktor die Klasse zum schweigen:
„Liebe Schüler der Klasse 9 C. Heute zum Schuljahresanfang möchte ich euch nicht nur sehr herzlich im neuen Schuljahr willkommen heißen, ich möchte euch auch zugleich euren neuen Mitschüler vorstelle. Sein Name ist Freddy, Freddy Holzmann und ich habe ihn eurer Klasse zugeteilt, weil ich eurer Klassengemeinschaft mehr vertraue als der der Parallelklasse. Er wird sich selbst mit ein paar Worten vorstellen und ich appelliere an euren Charakter, ihn herzlich in eurer Mitte aufzunehmen. Bitte stell dich jetzt vor, Freddy!“
Gespannt richteten sich unsere Gesichter auf die Gestalt neben Herrn Kohlmann. Die Gesichtszüge Freddys begannen sich zu bewegen. Wir lauschten gespannt. Leise begann Freddy zu sprechen.
„Hallo, ich bin Freddy Holzmann“.
Zögerlich fuhr er fort.
„Ich komme aus Zwiesel im Bayerischen Wald. Das ist in der Nähe zu Tschechischen Republik. Ich wohne seit zwei Wochen in eurer Stadt.“
Der letzte Satz war kaum zu verstehen, weil seine Stimme undeutlicher wurde. Nervös versteckte er seine Hände hinter seinem Rücken und er blickte ängstlich zum Direktor neben sich hoch.
Nach einem räuspern ergriff dieser wieder das Wort.
„Ich hoffe ihr werdet euch bald mit Freddy anfreunden. Ich verlasse euch jetzt und wünsche euch noch viel Spaß im Unterricht.“
Mit einem Wink zu unserem Lehrer verließ er das Klassenzimmer und unsere Blicke wanderten zurück auf die Person vor uns, die uns befremdlich uns abweisend erschien. Der Klassenlehrer ergriff die Initiative, zeigte auf den leeren Stuhl neben mir und bat Freddy auf dem freien Platz zu meiner rechten Platz zu nehmen. In mir grollte es. „Ich will diese Person nicht neben mir haben“, dachte ich und konnte meinen Widerwillen nur schwer verbergen. Doch alles grollen half nichts und Freddy war von nun an mein neuer Tischnachbar.
Ich verstand mich überhaupt nicht mit ihm. Er erschien mir so befremdlich und verschlossen, so dass ich die ersten zwei Wochen kaum ein Wort mit ihm sprach. Auch die anderen in unserer Klasse mieden ihn und machten einen weiten Bogen um ihn. Wurde er von einem Lehrer aufgerufen, so gab er nur kurze, gebrochene Sätze von sich und ein heftiges Lachen der Klasse war vorprogrammiert.
Er wäre mir wohl immer ein Fremder geblieben, wären nicht die wundersamen Begebenheiten am Tag unseres Schulfestes gewesen. Seit Wochen wurde die Schule auf diesen Tag geschmückt und herausgeputzt. Die Schüler der einzelnen Klassen probten Theaterstücke, das Schulorchester traf sich mehrmals in der Woche und den Lehrern war die Vorfreude auf dieses Ereignis anzumerken.
Außen vor bei diesem hektischen Treiben blieb eigentlich nur Freddy, weil er keiner Schulvereinigung angehörte und unsere Klasse ihn bei unserem Theaterstück nicht dabei haben wollte. Bei unseren Proben stand er immer an der Wand, leicht nach vorne gebeugt, mit traurigen Augen in seinem entstellten Gesicht. Keiner interessierte sich für ihn und jeder war froh, nichts mit ihm zu tun zu haben. Dabei wäre es wohl auch geblieben, wenn, ja wenn nicht dieser sonderbare Vorfall beim Schulfest gewesen wäre.
Wir waren gerade in der Aula unseres Schulhauses damit beschäftigt, das Bühnenbild für unser Theaterstück aufzubauen, als Freddy mit hochrotem Kopf und wilden Körperbewegungen auf die Bühne zulief und kaum verständliche Laute von sich gab. Im vorbeilaufen zerstörte er ein Mikrophon und Teil des Bühnenaufbaus stürzten ein. Wir dachten erst er sei durchgedreht, bis wir seine Laute richtig verstehen konnten.
„Hilfe!, Hilfe!, Hilfe!“
Immer wieder schrie er dieses Wort und wir wunderten uns, was es bedeuten soll. Dann kam er auf mich zugestürzt und packte mich an meinem Hemd, er zerrte geradezu daran und wollte mich irgendwo hinziehen. Ich wehrte mich und schrie ihn wütend an, was der ganze Aufruhr denn solle. Hilflos wie ein kleines Kind blickte er mich an und fing an zu stottern.
„Hi- lfe, das Sch- Sch- ul- haus b- b- b- brennt! K- K- Komm mit!“
Er zog mich hinter sich her, die Treppe hinauf, Richtung Lehrerzimmer, welches im Altbau des Gebäudes im Westabschnitt untergebracht war. Als wir das Treppenhaus verließen, bemerkte ich einen beißenden Geruch in der Luft und der langgezogene Korridor vor mir war von Rauch verdunkelt. Dem Ziehen Freddys jetzt hilflos ausgesetzt drangen wir weiter in den stickigen Gang vor. Es schein, als würde der Rauch direkt aus dem Lehrerzimmer am Ende des Flures herführen, aber man konnte kaum noch etwas erkennen. Hustend und mit weit aufgerissenen Augen zeigte Freddy auf die Türe vor uns – auf die Türe des Lehrerzimmers. Die verqualmte Luft setzte jetzt auch mir zu und ich hatte Probleme mit dem Atmen. Ernst sah mir Freddy ins Gesicht.
„Hör! Hör!“
Ich verstand ihn anfangs nicht, begriff aber was er mir sagen wollte. Schwach waren Hilferufe aus dem Lehrerzimmer zu vernehmen. Mit einem leichten Hieb auf meine rechte Schulter deutete mir Freddy an, meinen Blick auf den Feuerlöscher im Treppenhaus zu richten Ich erkannte sofort die Situation und lief so schnell wie ich konnte ins Treppenhaus, um den Feuerlöscher zu holen. Er war durch einen Draht zusätzlich gesichert, weshalb ich ihn nur unter größter Mühe von der Wand losmachen konnte.
Mit aller Kraft stießen wir mit den Füßen die geschwärzte Tür auf und ich drückte mit aller Kraft den Auslöserknopf des Feuerlöschers. Binnen fünf Minuten löschte ich den Brand. Es war Frau Steinböck, die im hinteren Ende des Lehrerzimmers von den Flammen eingeschlossen war. Der weiße Löschstaub legte sich langsam und verwandelte den ausgebrannten Raum in eine bizarre Szenerie. Der Rauch verflüchtigte sich langsam aus den
zerbrochenen Fenstern und das stöhnen unserer Englisch-Lehrerin durchdrang den gesamten Raum. Sie weinte, als sie sich ihrer Rettung bewusst wurde. Ihre schulterlangen Haare waren zur Hälfte versengt und die einst blonde Farbe ihrer verbliebenen Haarpracht war von Ruß geschwärzt. Langsam kam sie zur Besinnung.
Freddy und ich standen abwesend bei der Tür und ich realisierte nur langsam, dass wir gerade einem Menschen das Leben gerettet hatten. Mit offenem Mund und durchnässt von Schweiß lies ich mich auf den Boden fallen. Draußen vor der Tür hörte ich andere Schüler, die vom Rauch und den wilden Geräuschen des Feuers angelockt worden waren. Dann viel ich in Ohnmacht.
Tags darauf erwachte ich in einer mir unbekannten Umgebung. Nur langsam erkannte ich die Umrisse eines Krankenhauszimmers. Über mir schwebte ein Galgen, an dem ich mich in die Höhe hätte ziehen können. Ich konnte es nicht.
Ich war zu schwach und zu müde. Ich erkannte das helle Leuchten einer Neonlampe in der Mitte des Zimmers und wandte meinen Blick davon ab, als mir das helle Leuchten in die Augen stach. Ich drehte meinen Kopf nach links, dann nach rechts. Verschwommen nahm ich eine Person wahr, die neben meinem Bett Platz genommen hatte. Mein Blick wurde klarer. Nach einem langen blinzeln erkannte ich Freddy auf dem Stuhl neben mir. Er murmelte etwas was ich nicht verstehen konnte. Als er bemerkte, dass ich aufgewacht war, richtete er seinen Blick direkt auf mich. Ich erschrak, als ich erneut seine abweisende Gestalt wahr nam. Er flüsterte leise in meine Richtung.
„Es ist alles in Ordnung! Du hast etwas zu viel Rauch abgekriegt und bist deshalb in Ohnmacht gefallen!“
Schwach versuchte ich zu reden. Leise Laute verließen meinen Mund.
„Warum bist du hier? Wo sind meine Eltern?“
„Sie sind in der Arbeit und kommen später! Ich möchte mich nur von dir verabschieden. Ich ziehe morgen wieder nach Zwiesel, in meine Heimat. Du hast gestern Großartiges geleistet. Du hast der Steinböck das Leben gerettet! Gratulation!“
Verwirrt nahm ich die Worte Freddys in mir auf. Ich wusste, dass eigentlich er die Katastrophe durch sein Auftreten verhindert hatte.
„Du bist der Held!“, sagte ich kaum hörbar.
Daraufhin sah ich ihn zum ersten mal seit ich ihn kannte über das ganze Gesicht lächeln.
„Nein, ich habe nur meine Pflicht getan! Versprich mir, dass du niemandem erzählst, was ich getan habe. Ich will nicht im Mittelpunkt stehen. Ich habe viel zu viel Angst vor so was! Versprich es mir!“
„OK“, sage ich verwirrt und von Müdigkeit übermannt.
Dann fiel ich wieder in Ohnmacht. Seit diesem Tage hatte ich nie wieder etwas von Freddy gehört.
Sechs Wochen später erhielt ich die Lebensrettungsmedaille des Ministerpräsidenten. Er kam nur wegen mir in unsere Bildungsanstalt und die ganze Schule war in unserer Sporthalle versammelt. Ich wurde zum Helden bei meinen Mitschülern und die Mädchen überhäuften mich mit Zuneigung.
Keinem Menschen hatte ich seither von Freddys Beitrag in dieser Geschichte etwas erzählt. Ich genoss viel zu sehr meinen Ruhm und vergaß bald, dass ich ohne ihn nie zu dieser Anerkennung gelangt wäre. Auch meine Freunde verschwendeten keinen Gedanken mehr an unseren ungeliebten Ex-Mitschüler. Bis zum Ende meiner Schulzeit profitierte ich von dem Ereignis, welchem ein großer Teil gar nicht mir selbst zuzuschreiben war.
Teil 2: Freddy Holzmann – eine böse Geschichte
Er war sieben, als ihn sein Vater zum ersten mal schlug. Er war neun, als er an einer Messerstecherei teilnahm und er war 21, als er zum ersten mal ins Gefängnis musste. Mit 37 Jahren will er Gerechtigkeit.
Wäre es nur seine miese Kindheit, er hätte schon genügend Gründe, durchzudrehen oder sich das leben zu nehmen. Doch es war vor allem die Ausweglosigkeit in der er sich ich befand. Von seinen Mit-Menschen gemieden und verspottet war er von Anfang an auf sich allein gestellt. Er lebte bis vor wenigen Jahren bei seiner Mutter in einer schäbigen Drei-Zimmerwohnung in Zwiesel, einem Kurort im Bayerischen Wald, nahe der Grenze zur tschechischen Republik. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich damals mit kleineren Schmuggel- und Hehlergeschäften. Manchmal verhalf er Bürgern aus dem Nachbarland zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland, wofür er fürstlich entlohnt wurde. Das Risiko an den deutschen Grenzwächtern vorbei zu kommen, war riesig, aber irgendwie schaffte er es, nicht erwischt zu werden. Die Schule hat ihn nie richtig interessiert, weshalb er sie auch mit 16 Jahren ohne Abschluss verließ. Der kurze Abstecher nach München in seiner Kindheit war ein Horror. Seine Mutter arbeitete damals kurze Zeit in einer Anwaltskanzlei, wurde aber bereits nach der sechs wöchigen Probezeit wieder entlassen. Sie zogen zurück nach Zwiesel zu seinem Vater, dem das heruntergekommene Haus gehörte.
Mit 27 Jahren zog es ihn selbst in die Stadt, fand jedoch keine Arbeit und musste geraume Zeit sogar unter Brücken leben. Aus dieser Zeit stammt auch sein ausgeprägter Alkoholismus, der ihn bereits zweimal in der Notaufnahme des Krankenhauses den Morgen erblicken ließ. Freunde hat er keine und er hat auch noch nie welche gehabt. Immer wurde er nur gehänselt, verspottet und gemieden. Doch er kannte einen Menschen, der ihm einen Gefallen schuldete. Er hatte dieser Person zu Ruhm und Ehre verholfen. Nebenbei war es auch eine Bekanntschaft, zu der er überhaupt jemals ein engeres Verhältnis pflegt. Er besuchte diese Person im Hospital. Er konnte sich sogar noch an den Namen erinnern. Jon Geyer. Er lernte ihn damals in München kennen, als seine Mutter dort arbeitete. Es war sicherlich keine Freundschaft, die ihn damals mit dieser Person verband. Aber er war kurze Zeit sein Banknachbar in der Schule und er fand ihn in Ordnung. Besser gesagt war Geyer keiner von denen, die ihn fertiggemacht hatten. Außerdem verhalf er ihm ja zu Ruhm und Ehre. Er beschloss Geyer aufzusuchen.
Teil 3: Der Aufbruch
Er nimmt die leere Bierdose in seine rechte Hand und wirft sie mit einem weiten Bogen in den angrenzenden Fluss. Er will aufbrechen und Geyer suchen. Zu lange hatte er in seinem Leben dahin vegetiert und zu viele Schläge musste er bereits einstecken. Keine Macht der Welt konnte ihn jetzt noch von seinem Aufbruch abhalten. Er packt die restlichen Bierflaschen in eine Tüte und sucht sich seine übrigen Habseligkeiten zusammen. Eine alte Wolldecke, die er damals einem betrunkenen Penner abgenommen hatte, eine noch gut gefüllte Zigarettenschachtel und ein Einwegfeuerzeug, welches er vor kurzem in einem Gemischtwarenladen mitgehen ließ. Die alte Zeitung, die ihm als Unterlage auf der harten Parkbank behilflich war, zündet er an und betrachtet wie von Sinnen das hell aufflackernde Feuer. Dann bricht er auf.
Er hat keine Vorstellung, was er zu Geyer sagen wird, wenn er ihn antrifft. Zu verschwommen sind seine Gedanken. Der Alkohol tut sein übriges. Aber er ist zum ersten Mal in seinem Leben davon überzeugt, das Richtige zu tun. Er will sich seinen gerechten Lohn dafür abholen, jemandem zu Ehre und Ansehen verholfen zu haben. Er träumt von Geld und Luxus, von gutem Essen und endlich mal wieder einer heißen Dusche.
„Sicherlich ist Geyer sehr reich und angesehen“, denkt er und beginnt zu laufen. Nicht gerade und aufrecht, sondern gebückt und in Schlangenlinien. Er erreicht die Hauptsraße, als ihn ein Gedanke nicht mehr los lässt.
„Ich weiß ja gar nicht wo ich Geyer suchen soll!“
Wie von bösen Geistern getrieben hetzt er umher und stolpert beinahe über den Randstein der Straße. Im letzten Moment kann er sich an einem Bushaltestellenschild festklammern und verhindert dadurch einen Sturz. Sein Magen beginnt zu rebellieren. Der Alkohol fordert seinen Tribut und er übergibt sich kräftig.
Teil 4: Abschied
Ich habe nie wieder etwas von Freddy gehört, seit dem Vorfall damals in der Schule. Manchmal denke ich noch an ihn, wenn ich die eingerahmte Lebensrettermedaille auf dem Ehrenplatz über meinem Kamin betrachte. Für meine drei Töchter bin ich ein Held, ich muss ihnen häufig davon erzählen, was sich damals vor 20 Jahren in unserem Schulhaus abspielte. Aus Scham und aus der Angst heraus, meine Kinder zu enttäuschen., habe ich nie jemanden davon erzählt, dass ich alles nur Freddy und einem dummen Zufall verdanke. Aber manchmal in einsamen Stunden denke ich dennoch an Freddy und frage mich, was wohl aus ihm geworden ist.
Ende
Erdacht und geschrieben von Florian Brunner von 1999 bis Dez. 2003;
Geschichte ist frei erfunden und hat keinen Bezug zu lebenden Personen
oder wahren Begebenheiten