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Frei wie der Wind
Das leise Knarren der Fensterläden, das unheimliche Heulen des Windes, das ferne Rauschen der stürmischen See… Lilian saß in der Dunkelheit auf dem Sofa und konnte alles deutlich hören. Es war ca. 3 Uhr nachts; sie stand am Fenster, das Mondlicht fiel ins Zimmer und erhellte ihr tränennasses Gesicht.
Seltsamerweise tröstete sie der Anblick des Vollmondes, hob sie für Momente in den stürmischen Nachthimmel empor – weg aus der Wirklichkeit, weg von unserem Planeten und hinauf zu den glänzenden Sternen; weg von diesem Haus, diesem Leben… weg von ihm.
Sie konnte ihn hören. Nein, vielmehr spürte sie seine Anwesenheit; auch, wenn er ein Stockwerk über ihr im Bett lag und schlief - schnarchend und nach stark Alkohol stinkend. Er war schon betrunken, als er nach Hause kam. Als sie gewagt hatte, ihn zu fragen, wo er solange gewesen war. Als sie gewagt hatte, ihn zu fragen, wie lange er sie schon mit Pendra, seiner Kollegin, betrog.
Nicht, daß es sie gestört hätte. Im Gegenteil, sie wünschte sich nichts mehr, als daß er sich endlich einer anderen Frau (einem anderen Opfer) zuwenden würde. Vielleicht hätte er sie dann von sich aus verlassen und sie wäre frei gewesen. Aus dieser Hoffnung heraus war sie unvorsichtig gewesen und hatte ihn danach gefragt. Was hatte sie als Antwort erwartet? Hatte sie wirklich gehofft, er würde sie gehen lassen, sie aus seinen brutalen Klauen entlassen? War sie tatsächlich so naiv gewesen? Seine Antwort war kurz und deutlich: Ein Schlag ins Gesicht, gefolgt von einem kräftigen Tritt in den Bauch, als sie, hart von der Ohrfeige getroffen, zu Boden gegangen war. Während er weiter auf sie einschlug und sie anbrüllte, war es wieder passiert: Sie spürte, wie sich ihr Geist von ihrem Körper löste und auf Reisen ging. Sie konnte sich sehen, wie sie am Boden lag und von seinen Fäusten bearbeitet wurde. Sie sah das alles von oben, aber die Szene wurde immer kleiner und unwichtiger. Sie schwebte davon, angezogen von einer bestimmte Richtung, denn sie spürte bereits ihre Anwesenheit. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, wie immer, wenn Tiffany in ihrer Nähe war. Sie spürte ihre Gedanken; sie waren beruhigend und tröstend. Sie vermittelten ihr die Hoffnung, daß alles wieder gut würde und gaben ihr Kraft, wieder zurückzufinden in ihren gepeinigten Körper und die Wirklichkeit – zurück in ein Leben an seiner Seite…
Als sie die Augen öffnete, lag sie noch immer auf dem Fußboden. Aber sie war allein, er war verschwunden und hatte sie liegen lassen. Es war bereits dunkel; sie hatte keine Ahnung, wie lange sie „weg“ gewesen war. Nun mag der Eindruck entstehen, es wäre ihm egal, ob sie dort schwer verletzt krepieren würde. Aber er wusste genau, wie weit er gehen konnte. Er war Arzt und konnte einschätzen, was er ihr und ihrem Körper zumuten konnte. Nur einmal war er zu weit gegangen – er hatte ihr die Rippen gebrochen und eine hatte ihre Lunge verletzt. Im Krankenhaus waren alle der Meinung, man hätte sie überfallen und brutal zusammengeschlagen. Er hatte sich rührend um sie gekümmert, täglich ein paar Mal besucht, sie mit Blumen und Geschenken überhäuft und ihr jedes Mal, wenn er mit ihr allein im Zimmer war, eingeschärft, den Mund zu halten. Und sie hatte den Mund gehalten - aus Angst, er würde ihr etwas antun; ihrem kleinen wehrlosen Liebling.
Sie richtete sich auf – ihr Magen rebellierte und starke Schwindelgefühle überkamen sie. Sie schleppte ihren schmerzenden Körper zu dem schönen roten Sofa, auf dem sie oft las und aus dem Fenster sah. Sie lag lange dort, ohne jedes Zeitgefühl – irgendwann hatten die Nacht und der Mond sich zu ihr gesellt. Die Tränen stahlen sich aus ihren Augen, ohne ein Schluchzen oder Wimmern; sie hatte schon vor langem gelernt, lautlos zu weinen. Ihre Gedanken wanderten; hinauf in das Dachgeschoß ihres Hauses – dorthin, wo sie die meiste Zeit ihres Tages verbrachte: zu Tiffany.
Ihre 5 Jahre alte Tochter lag dort in einer Art Dämmerschlaf, der sie von allen weltlichen Dingen trennte. Sie war verkrüppelt zur Welt gekommen, stark geistig behindert und die meiste Zeit nicht ansprechbar. Manchmal hatte sie ein paar „lichte“ Momente, in denen sie Lilian ansah und lächelte – mit einer inneren Zufriedenheit und einem Leuchten auf dem Gesicht, wie man es nicht beschreiben konnte. Für diese Momente lebte Lilian. Und wegen dieser Momente konnte sie dieses Haus nicht verlassen. Tiffi’s Pflege war schwierig und kostspielig und war nur mit Hilfe einer Tagesschwester zu bewältgen – aber er zahlte alles stillschweigend. Er ging nie nach oben, kam nicht mal in die Nähe von Tiffany. Er sprach nicht über sie und wollte nichts von ihr hören. Er verließ Hals über Kopf das Haus, wenn sie einen ihrer Anfälle hatte und ihre Schreie im ganzen Haus hörbar waren… fast so, als hätte er Angst vor ihr.
Nur wenige wussten von Tiffany; sie war so etwas wie eine Niederlage, seine einzige, fleischgewordene Niederlage, die er vor der Welt verbergen wollte. Denn er hatte ihre Geburt nicht verhindern können, auch wenn er es versucht hatte. Aber all die Schläge und Grausamkeiten während der Schwangerschaft hatten dieses kleine Leben nicht vernichten können. Nein, Tiffany wollte leben – um jeden Preis. Als Lilian’s Zustand nicht mehr zu übersehen war und ihre Mutter davon erfuhr, begann für Lilian eine kurze Zeit voller Glück und Ruhe. Mutter zog in eine kleine Wohnung in der Nähe und war jeden Tag für sie da. In dieser Zeit hatte er sich zurückgehalten, damit ihre Mutter keinen Verdacht schöpfte. Und als Tiffany geboren wurde, war Lilian das erste Mal seit langer Zeit glücklich. Tiffany’s Zustand hatten ihre Mutter und die Ärzte sehr erschreckt; manch einer mag die Wahrheit geahnt haben. Aber Lilian war das alles egal; für sie war Tiffany vollkommen und das schönste Baby, das die Welt je gesehen hatte. Und vor allem war sie eines: der Grund, warum sie, Lilian, existierte – der Sinn ihres Lebens. Lilian’s Mutter starb kurz nach Tiffi’s Geburt und dieses kleine Wesen war nun alles für sie. Sie brauchte sie, um weiterleben zu können. Und manchmal, wenn sie träumte oder wenn sie sich in diesem Zustand des körperlosen Schwebens befand, konnte sie Tiffany’s Geist spüren… sie wusste dann, daß Tiffany da war; ihre Worte hörte und verstand; daß sie nicht nur dieser schwache und verkrüppelte Körper war, der oben unter dem Dach lag.
Sie war da, spürte ihr Leid und ihre Liebe zu ihr und Lilian wusste in diesen Momenten, daß Tiffany ihre Mami liebte, auch wenn ihr Körper das nie würde zeigen können. Trotz ihrer Schmerzen und ihrer Verzweiflung musste Lilian lächeln – sie lächelte den Mond an und dankte ihm, daß er ihr Tiffany geschickt hatte. Sie war ihr Mondenkind – dieser Name war aus Ende’s „Die unendliche Geschichte“, die sie Tiffi oft vorgelesen hatte, und manchmal strahlte ihr Gesichtchen dabei, als würde sie alles verstehen. Und ihre Augen glänzten – wie das dunkle Gold in den Augen der Kindlichen Kaiserin…
Ein plötzlicher Schrei aus dem oberen Stock schreckte Lilian auf. Im ersten Moment dachte sie, Tiffi wäre wach und würde schreien. Aber dann erkannte sie, daß er es war. Hatte er einen Albtraum? Sie hatte nicht das Bedürfnis, sich in seine Nähe zu begeben und bewegte sich nicht. Da - er schrie schon wieder; diesmal aber klang es schrill und hysterisch... als hätte er Angst. Er hatte nie vor etwas Angst! Jetzt wurde Lilian das ganze doch unheimlich – sie stand auf und hinkte zur Treppe. Sie war gerade am Fuß der Treppe angekommen, als sie seine Stimme hörte; er sprach mit irgend jemanden bzw. er schrie jemanden an! Sie konnte die Worte nicht richtig verstehen und humpelte, so schnell ihr lädierter Körper es zuließ, die Treppe hinauf und Richtung Schlafzimmer. Jetzt konnte sie ihn verstehen; er schrie immer noch. „Was willst Du? Scheiße, wie bist Du hier runtergekommen? Verschwinde, verdammt noch mal, laß mich in Ruhe!!!“ Jetzt rief er ihren Namen und sie blieb unwillkürlich stehen. „Lilian! Verdammt noch mal, wo bist Du? Lilian! Sie soll verschwinden; mach, daß sie verschwindet! Herrgott, hol sie endlich weg! Nein, bitte… LILIAAAN!!!“
Der letzte Schrei war begleitet von einem ohrenbetäubenden Krachen – es klang wie splitterndes Glas. Lilian rannte die letzten Schritte ins Schlafzimmer und sah gerade noch, wie er schreiend durch die große Scheibe des Fensters brach, fiel und in der Dunkelheit verschwand. Fassungslos starrte Lilian in das gähnende schwarze Nichts, das in der Wand klaffte. Der Wind drang eiskalt ins Zimmer und fauchte wütend durchs Haus. Nach Atem ringend und völlig verstört drehte sie sich zum Bett – und dort saß sie. In leuchtendes Mondlicht getaucht, lächelte Tiffany sie an. Das ganze Zimmer war mit einem Mal erfüllt von ihrem Glanz und und auch der Sturm, der draußen tobte, schien für einen Moment inne zu halten, um diesen Augenblick nicht zu stören. Lilian war wie verzaubert; sie starrte auf ihre wunderschöne kleine Tochter, die da aufrecht vor ihr saß wie ein kleiner Engel; mit geraden Gliedern und umgeben von diesem wundervollen Licht.
Sie öffnete ihren Mund und zum ersten Mal hörte sie sie sprechen, durfte ihrer hellen, klaren Stimme lauschen; sie hatte nie etwas schöneres gehört. „Hallo Mami. Ich geh jetzt nach Hause. Du musst keine Angst haben, mir geht’s gut. Er sagt, Du bist jetzt frei und daß Du nun endlich anfangen sollst, zu leben. Und er sagt, ich soll mich jetzt von Dir verabschieden. Mach’s gut, Mami.“ Sie hob ihre kleine Hand und winkte ihr zu. Überwältigt von ihren Gefühlen und unfähig, sich auch nur zu bewegen, rief Lilian mit tränenerstickter Stimme: „ Tiffi, wohin geht’s Du? Wer ist ER, zu wem gehst Du?“ Tiffi sagte nichts, sie lächelte nur und zeigte mit ihrer kleinen Hand nach oben. Lilian wandte ihren Kopf… und da war er; der strahlend helle Vollmond. Lilian spürte, wie ihre Erstarrung sich langsam löste, drehte sich zurück zum Bett und wollte auf ihre Tiffi zulaufen, sie in die Arme nehmen.
Doch sie war weg – das Zimmer war wieder kalt und dunkel; nichts erinnerte mehr an die Herrlichkeit, die diesen Raum noch vor Sekunden erfüllt hatte. Lilian war wie vom Donner gerührt – das konnte doch nicht sein! Hatte sie sich das gerade eingebildet? War ihr Kopf doch stärker verletzt als sie gedacht hatte? Während sie mit der Hand ihre Stirn befühlte, drang das Stürmen und Heulen des Windes wieder in ihr Bewusstsein und sie fühlte die eisige Kälte, die durch das zerbrochene Fenster drang. Sie zog ihre Jacke enger um den Körper, trat ans Fenster und sah hinunter in den Garten.
Sein Körper sah seltsam verdreht aus; er lag auf dem Rücken und seine toten Augen starrten zu ihr hoch. Die Scherben umgaben ihn wie ein leuchtender Kranz; sie reflektierten das Mondlicht und gaben der ganzen Szene etwas merkwürdig zauberhaftes. Sie betrachtete ihn und versuchte, etwas zu fühlen. Aber da war nichts – keine Trauer, kein Entsetzen, kein Mitleid, keine Angst. Völlig emotionslos blickte sie auf den Mann, der sie so viele Jahre ihres Lebens gepeinigt hatte. Sie dachte an den Tag nach ihrer Hochzeit, als er sie hierher brachte und die Tür ihres künftigen Gefängnisses hinter ihr schloß… sie wusste noch, wie enthusiastisch sie ihrer gemeinsamen Zukunft entgegen gesehen hatte, wie viele Träume sie hatte. Dieser Tag schien vor einer Ewigkeit gewesen zu sein – die Jahre dazwischen bis zum heutigen Tag verbargen sich hinter einem Schleier von Angst, Schmerz und unendlicher Verzweiflung. Das einzige, was ihr aus dieser Zeit in Erinnerung blieb, war Tiffany.
Tiffany… oh Gott, wo hatte sie nur ihre Gedanken? Sie schrie auf, fuhr herum und rannte wie eine Verrückte los. Sie stürmte die Treppen zum Dachgeschoß hinauf, riß die Tür zu Tiffi’s Zimmer auf und stand atemlos im Zimmer. Tiffany lag bewegungslos und mit geöffneten Augen im Bett – das war ganz normal, es sah alles aus wie immer. Lilian näherte sich leise ihrem Bett, setzte sich und nahm vorsichtig ihre kleine Hand. Sie war eiskalt. Lilian hielt den Atem an, beugte sich über ihr schmales Gesichtchen und legte die andere Hand auf ihren Brustkorb. Da war nichts; kein Atmen, kein Herzklopfen, keine Bewegung… ihr kleiner Engel war tot. Lilian starrte minutenlang auf den kleinen Körper, den sie sooft berührt, gewaschen, angezogen, gestreichelt und betrachtet hatte. Er hatte aufgehört zu kämpfen, hatte diese Welt verlassen... sie war nach Hause gegangen.
Seltsamerweise hatte Lilian nicht das Gefühl, daß Tiffany weg war – ihre Anwesenheit war fast greifbar. Lilian drehte sich um und sah direkt in das Antlitz des Mondes. Er stand genau in der Mitte des Fensters und schien auf Lilian herab. Und plötzlich begann Lilian zu weinen,
wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte. Sie schluchzte laut auf, sie wimmerte wie ein Kind, sie schrie all ihren Schmerz, aber auch so etwas wie Freude und Erleichterung aus ihrem tiefsten Innern heraus. Sie weinte lange, sie sank auf den Boden und ließ alles heraus, was sie so lange unterdrückt hatte, all ihre Wut und Angst, ihren Schmerz, ihre Liebe, einfach alles. Und währenddessen hielt sie ihre Hand, diese kleine Hand, die sich nie auch nur einmal hatte bewegen dürfen…
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Die Wellen schlugen leise an den Schiffsrumpf, das beruhigende Gluckern des Wassers und die salzige, frische Seeluft waren wie Balsam für ihre Seele. Die letzten Tage waren sehr aufreibend gewesen; der ganze Behördenkram hatte sie wirklich fast den letzten Nerv gekostet. Auch seine Beerdigung war nicht einfach für sie gewesen; sie hatte ihn im
Familiengrab seiner Eltern bestatten lassen – so hätte er es bestimmt gewollt. Sie hatte das Haus verkauft und alle Brücken zu ihrem alten Leben abgebrochen. Nun war sie an Deck eines kleinen Kutters, der zweimal im Monat ein paar Passagiere von der Insel auf’s Festland brachte. Es war gegen Mitternacht, der Mond hatte sich in eine Sichel verwandelt und stand anmutig am Himmel. Es war, als lächelte er Lilian zu, die an der Reeling stand und das Meer betrachtete. Sie sah sich um, um festzustellen, ob sie auch wirklich allein an Deck war. Sie atmete tief durch und öffnete die Urne, die sie in ihren Händen hielt. „Leb wohl, mein Mondenkind. Ich liebe Dich.“ Mit diesem Worten übergab sie Tiffi’s Asche dem Meer. Der Mond würde das Meer für alle Zeiten zum Glitzern bringen, solange es Mond und Meer gab, bis ans Ende aller Tage. Dies war der richtige Ort für Tiffi’s irdische Hülle.
Lilian verstaute die leere Urne in ihrer Tasche, hob ihren Blick zum Himmel, spürte den Wind in ihrem Haar und lächelte. Sie dachte an die Nacht, die ihr ganzes Leben verändert hatte. Sie fragte sich nicht mehr, was in dieser Nacht passiert war oder was sie gesehen hatte... es war unwichtig. Wichtig war nur, daß es passiert war und welchen Sinn es hatte.
Sie blickte direkt in das Licht der Mondsichel und bedankte sich zum tausendsten Mal; für all die Erfahrungen, die nötig waren, damit sie heute hier stehen konnte; für Tiffany; für ihr neues Leben und für ihre Freiheit. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie wirklich frei… frei wie der Wind.