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Freiheit
Jedes Mal, wenn sie diesen Ort aufgesucht hatte war es aus Verzweiflung geschehen. Obwohl nichts darauf hindeutete verband sie den Teil ihrer Stadt mit Angst, Wut, Verzweiflung und Hass. Es war - und ist immer noch – ein Weg zwischen Wiesen, der zu einem hellen Wald hinführt und durch ihn hindurch zu weiteren Wiesen. Für jeden anderen Menschen ein idyllischer Ort um spazieren zu gehen und sich wohl zu fühlen. Wohl fühlt sie sich hier auch, wenn die Dunkelheit sie umschließt und ganz in ihre Welt entflohen ist. Ja, Flucht beschreibt es passend. Ein Zufluchtsort bei jedem Wetter, wenn sie von zu Hause wieder weg musste um nicht zu zerbrechen. Dann kommt sie hierhin, am liebsten bei Nebel. Sie kann sich in ihre Welt zurückziehen und all die Magie, die der Ort für sie ausstrahlt in sich aufnehmen und neue Kraft schöpfen. Aus den dunklen Schatten, die ihr Angst einjagten, aber trotzdem Trost waren. Trost, wenn die Welt um sie herum in Tränen versank. Tränen immer wieder Tränen. Doch dann läuft sie los, weg von zu Hause und die weite Strecke bis hierhin. Wenn sie dann die Bank erblickt ist ihr Ziel erreicht. So auch heute.
Tränen, die sie nicht einmal mehr bemerkt, laufen ihre Wangen hinab und sie denkt über alles was in ihrem Leben war und ist nach. Niemand würde verstehen, warum sie weint, ganz genau weiß sie es selber nicht. Hass auf ihre Mutter erfüllt sie und eine tiefe Trauer, dass sie nie so sein darf, wie sie ist. Sie will nicht mehr so sein, wie alle sie haben wollen. Unkompliziert, immer lieb und nett, verantwortungsvoll, gut in der Schule und der ganze Stolz der Eltern.
Stolz der Eltern, ein bitteres Lachen verlässt ihre Lippen, als ihr das in den Sinn kommt, ja vielleicht nach außen hin. Doch was bringt es, wenn die Eltern stolz erzählen, wie toll ihre Tochter ist, aber zu Hause nur Vorwürfe auf sie warten. „Unsere Tochter ist ja so verantwortungsbewusst“ Und dann die Regeln, Verbote. Einschränkungen für ihre Freiheit. Das schlimmste was man ihr antun kann. Sie will fliehen. Weg von allem bekannten, irgendwo hin, etwas neues kennenlernen. Das Gefühl von Freiheit selbst zu entscheiden. Zu wählen, was sie will. Welchen Weg sie geht, mit wem und wie lange.
Sie stellt sich das Leben zu leicht vor – auch einer der Vorwürfe die sie immer wieder zu hören bekommt. Doch das Leben ist leicht für sie. Sie denkt nicht an alle Konsequenzen die ihr Handeln mit sich bringen könnten. Konsequenzen sind ihrer Meinung nach sowieso nicht berechenbar. Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Das hat sie schon früh lernen müssen und danach handelt sie auch. Bis vor einiger Zeit, war das Leben leicht und schön. Es hat sie nie gekümmert was ihr gesagt wurde. Auch nicht was andere über sie sagten. Sie war einfach das Idealbild, was sie sein sollte und es gab keine Probleme. Doch es gab niemanden, der ihr nahe stand oder den sie liebte, der sie nicht irgendwann sehr verletzt hat. All die Enttäuschungen von Menschen, die so vertraut waren, haben sie geprägt. Sie begann einen eigenen Charakter zu bilden. Persönlichkeit, die unerwünscht war, weil sie nicht mehr so offen und lieb war. Die Zeit in der sie alles so geschluckt hat und sich nie wehrte, gegen alles und doch beliebt war, weil sie so war, war vorbei. Innen drin, war sie wie vorher, doch Mauern verbargen den so leicht verletzbaren Kern. Jetzt kann ihr keiner mehr so leicht wehtun, doch manchmal bricht hier alles raus. Alles was an den Mauern abgeprallt ist, aber trotzdem daran nagt.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie zusammenbricht, das weiß sie selbst. Doch bevor sie das zulässt, taucht sie lieber ganz in ihre Welt ein. In das Unbekannte, von dem niemand erzählen kann. Sie hat so oft darüber nachgedacht und hat nach dem letzten großen Streit den festen Entschluss gefasst. Sie braucht ihre Freiheit, es ist wie eine Droge für sie und sie kann ohne das nicht leben. Von niemandem lässt sie sich ihre Freiheit nehmen. Es ist ein schöner Frühlingstag, als sie zum ersten Mal tagsüber an ihren Lieblingsort kommt. Die ersten Blumen blühen und ein angenehm blumiger Duft liegt in der Luft. Die Bank beachtet sie dieses Mal nicht. Sie weiß ,dass es für sie nur einen Weg in die Freiheit gibt. Sie stellt sich mitten auf die Wiese und lässt den Blick schweifen...
Eine wunderschöne Aussicht, die sie zum ersten Mal sieht. Das Messer blinkt im Sonnenlicht, als sie sich hinsetzt und es ausklappt. Ihr Blick gleitet bewundernd über die Schneide. Das Jagdmesser ihres Vaters, das sie nie in die Hand nehmen durfte. Sie setzt das Messer knapp unter dem Handgelenk an und zieht einen graden Schnitt davon weg. Direkt durch die Ader. Es tut kaum weh und kurz ist es auch nur ein Schnitt, bis bei dem nächsten Herzschlag das Blut rausströmt. Am anderen Handgelenk führt sie dasselbe durch und lässt sich nach hinten fallen in die Blumen. Der Boden wird von ihrem Blut getränkt, als langsam das Leben aus ihr rausfließt.
Sie verliert sich in Phantasien, doch als ihr kalt wird bekommt die zum ersten Mal Zweifel. Wird das, was kommen wird, wirklich die Freiheit sein, die sie sich erträumt hat? Sie vertraut darauf, ändern kann sie es mittlerweile schon nicht mehr. Die Kälte breitet sich in ihrem Körper aus und obwohl sie friert, beginnt sie den Frieden zu finden, den sie gesucht hat. Sie hat zum ersten Mal eine freie Entscheidung treffen können, die ihr Leben bestimmt, ohne dass jemand es ändern kann. Sie lächelt sanft und ihr Leben versiegt, während sie träumt.