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Freispruch
Als ich mich hinknie spüre ich die klamme Feuchtigkeit durch meine Hose dringen. Der Frühling ist ja gerade erst dabei die Erde aufzutauen, ist erst ein paar Wochen alt.
Der milde Wind – angenehm, ich habe ihn vermisst. Der Winter ist lang gewesen.
Ich richte einen umgekippten Blumentopf wieder auf.
Wie die Blumen in ihm heißen weiß ich nicht, sie sind gelb und haben einen markanten Geruch. Nicht aufdringlich und auch nicht zu süß. Irgendein gnädiger Gärtner hat sie hierhin gestellt. Nicht der Alte, der die Kieswege harkte und das Unkraut wegbrannte, der ist schon seit einem halben Jahr nicht mehr gekommen. Vielleicht in Pension. Vielleicht gestorben.
Schritte auf dem Kies, ich erkenne sie sofort. So lange habe ich auf sie gewartet.
Nichts an ihr verrät ihre Absicht. Das Schwarz hat sie längst abgelegt.
Sie geht ebenfalls in die Knie.
Ich berühre ihre Schulter, ein leises Schaudern läuft an ihr herab auf die ordentlich geharkte Erde.
Sie fängt an zu erzählen, von ihrem Tag, ihrer Woche, ihrem Monat. Ein Jahr ist es noch nicht geworden.
Keine Ausflüchte, keine Gründe und doch jedes Wort eine stille Entschuldigung für ihr langes Fortbleiben, jede Träne ein Selbstvorwurf, jeder unsichere Augenaufschlag eine Bitte um Verzeihung.
Ich höre ihr schweigend zu. Langsam versiegt ihr Redefluss. Die Worte tropfen nur noch spärlich, die Tränen dafür zahlreicher.
Ich lege den Arm um sie, streichle ihr Haar. Mein Mund ganz nah an ihrem Ohr. „Ist schon gut. Ich bin dir nicht böse.“
Ihr Körper zuckt unter einem letzten Schluchzen, dann hebt sie den Kopf. Verwundert, doch mit einem Blick, der um vieles leichter ist, als der mit dem sie sich vor dem Viereck aus dunkler Erde niedergekniet hatte.
„Ich liebe dich.“ Sie flüstert es nur. Reibt die helle Stelle an ihrem Ringfinger.
„Ich weiß.“ Endlich bricht sich ein Lächeln bahn. Sie steht auf. Scheint nun gerader zu stehen, aufrechter. Sie steht noch etwas so, doch nicht allzu lang.
Sie hat bekommen, weshalb sie hier war. Auch wenn sie nicht weiß woher dieses plötzliche Gefühl der Erleichterung kommt, sie hat es gesucht und nun gefunden. An dem Ort, an den sie nie zurückkehren wollte.
Das hat sie sich geschworen, ich weiß es. Sie hat es sich geschworen an dem Tag vor fast einem Jahr, als sie das erste Mal hier war. An dem Tag, an dem so viele Tränen auf dieses Stück Erde gefallen sind.
Nun sind es nur noch ihre, die auf die Blätter der einsamen Blume tropfen und schließlich mit deren Geruch vermischt von der auftauenden Erde aufgesogen werden.
Sie wendet sich ab, verlässt mich wieder. Diesmal endgültig,
alles ist gesagt.
Und auch ich verlasse sie endgültig, kann es nun endlich tun. Nun, da ich sie freigesprochen habe, da ich ihrer Selbstquälerei ein Ende gesetzt habe durch meine Vergebung.
Und so stehe ich auf, genieße zum letzten mal ihren Anblick, fühle Wehmut in mir aufkommen; ich liebe sie auch. Doch es ist entschieden.
Ich rieche zum letzten Mal den Frühling, als ich mich umdrehe und das Grab hinter mir lasse auf dem mein Name steht.