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Fremde Haut
Fabian war immer ein aufgewecktes Kind gewesen. Gewöhnlich wurde er schon vor seinen Eltern wach, spielte in seinem Zimmer, tollte im Haus herum und kam in deren Schlafzimmer, um mit ihnen zu kuscheln, bevor es Zeit für das Frühstück wurde.
Nicht so an diesem Morgen: Der Wecker auf dem kleinen Sideboard klingelte, und die Tatsache, dass Fabian nicht wie sonst zu ihnen gekommen war, ließ bei der Mutter ein ungutes Gefühl aufkommen. Sie stand auf und lief zu seinem Zimmer, öffnete die Tür. Da saß er in seinem Bett, wach, aber mit einem völlig verschreckten Blick. Als er sie sah, wurde er sogar noch ängstlicher, fast panisch. Sie fragte ihn, was denn passiert sei, ob er schlecht geträumt habe, aber er starrte sie nur mit aufgerissenen Augen an und gab keinen Laut von sich.
Die Eltern reagierten hilflos. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, was mit ihm geschehen war. Keine ungewöhnlichen Kontakte am Vortag, nichts, was auf eine Krankheit hingewiesen hätte. Er fixierte die Eltern ängstlich, als würde er sie nicht wieder erkennen. Oft hatten sie den Eindruck, er begriff nicht einmal, was sie zu ihm sagten. Dann wieder gab es Momente, in denen aus einer mimischen Reaktion geschlossen werden konnte, dass er sie sehr wohl verstanden hatte. Nicht einen einzigen Laut hörten sie ihn an diesem Vormittag äußern. Und obgleich seine Augen eine Verzweiflung verrieten, die sie nicht nachvollziehen konnten, weinte er kein einziges Mal. Er wirkte wie versteinert vor Schreck, wirkte desorientiert. Als wäre er aus bizarren Traumwelten wieder ins Bewusstsein aufgestiegen und hätte jegliche Orientierung eingebüßt.
Der Vater rief seine Arbeitsstelle an und ließ sich für den Tag entschuldigen. Kurz darauf saß die Familie im Wartezimmer des Kinderarztes, der Fabian seit dessen Geburt betreut hatte. Auch diesen schien das Kind nicht zu erkennen, und auch hier sagte es keinen Ton. Der Arzt versuchte die Eltern zu beruhigen, aber es war offensichtlich, dass auch er ratlos war. Er rief einen befreundeten Experten in der Kinderpsychiatrie an und bat mit Nachdruck um einen Termin noch am selben Nachmittag.
Die Eltern machten sich mit ihrem Sohn direkt auf den Weg. Mittlerweile hatten sie es aufgegeben, Fabian zum Sprechen zu animieren. Sie verbrachten die halbstündige Fahrt in angespanntem Schweigen. Die Gedanken der Mutter rotierten, es war, als erfasste sie ein Schwindel, als suchten ihre Gedanken nach einem Halt und fanden keinen. Sie versuchte sich gegen dieses aufkeimende Gefühl zu wehren, aber tief drinnen spürte sie, dass sie ihr Kind für immer verloren hatte.
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"Ich würde gern für einen Moment mit Fabian einige spielerische Tests durchführen - wären Sie damit einverstanden, einen Moment draußen zu warten?"
Die Eltern verließen das Zimmer. Farbenfrohe Kinderzeichnungen säumten die Wände, aber sie konnten nicht verdrängen, dass sie hier mit ihrem Sohn in einer psychiatrischen Klinik waren. Bedrückt nahmen sie in dem als Wartezimmer dienenden Flur Platz.
Im Behandlungszimmer bat der Arzt den Jungen, sich auf einen der roten Kinderstühle zu setzen. Dann setzte er sich schräg neben ihn und sortierte seine Unterlagen auf dem kleinen Tisch. Fabian schluckte und schaute auf den Boden. Dann blickte er den Arzt an. Sein Blick war nicht beiläufig, sondern fest und fixierend, als wolle er sichergehen, dass er dessen uneingeschränkte Aufmerksamkeit genoss.
Er öffnete den Mund, und der Arzt hörte zum ersten Mal Fabians Stimme. Sie war kindlich weich, dem vierjährigen Jungen angemessen. Seine Sprechweise jedoch wirkte viel weniger impulsiv, als er erwartet hatte. Jedes Wort schien wohl überlegt zu sein. Völlig aus der Fassung brachte ihn, dass der Junge ihn auf Englisch ansprach.
"The heart of the matter is", begann er, nur um sich sofort wieder zu unterbrechen. Für einen Moment verlor sein Gesicht jede Farbe. "May I assume you do speak english?" versicherte er sich ängstlich.
Der Arzt starrte das Kind mit aufgerissenen Augen an und nickte automatisch. Sein Mund stand offen.
"Die Sache ist, dass ich mich an nichts erinnern kann, was vor dem heutigen Morgen passiert ist. An gar nichts. Ich bin aufgewacht, in einem mir fremden Zimmer, umgeben von diesen besorgten Menschen, die ich nicht kenne und die auf Französisch auf mich einreden. Ich habe keine Ahnung, was davor war, da sind keine Erinnerungen. An rein gar nichts!"
Er ließ den Blick wieder nach unten sinken, wendete sich dann erneut dem Arzt zu. "Wer bin ich? Was soll jetzt werden?"
Der Arzt stand auf und starrte auf das Kind vor ihm. Es war totenstill im Raum. Dann stellte er einige Fragen, flüchtete sich in seine erlernten Gesprächstechniken. Die Nacht war jedoch wie eine Mauer, hinter die der Junge nicht zu schauen im Stande war. Unruhig wanderte der Arzt in der Praxis herum, schaute immer wieder auf den Jungen auf dem roten Stuhl, fuhr sich geistesabwesend mit der Hand über die Schläfe. Er schüttelte den Kopf, als sei er mit sich selbst im Gespräch, als ginge er alle möglichen Erklärungen durch, nur um sie wieder verwerfen zu müssen.
Schließlich trat er wieder zu dem Jungen und beugte sich zu ihm. "Ich glaube, es ist in aller Interesse, wenn wir so diskret wie nur irgend möglich verfahren."
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Gegenüber den Eltern erklärte der Psychiater, Fabian habe eine spontane sprachliche Amnesie erlitten. Ein extrem seltenes Störungsbild; mit Spätfolgen sei aber wohl nicht zu rechnen. Es sei jedoch sehr wichtig, den Jungen für eine Übergangszeit im geschützten und betreuten Rahmen der Einrichtung zu behalten.
Widerstrebend stimmten die Eltern zu. Sie konnten Fabian am Wochenende besuchen, und obgleich er immer noch nicht sprechen konnte, sahen sie doch, dass es ihm besser ging. Er wirkte entspannter und war den Eltern gegenüber weniger ängstlich.
Als er nach sechs Wochen wieder nach Hause kam, konnte er bereits wieder einige Wörter und einfache Sätze sprechen. Eines jedoch erschien ihnen merkwürdig und fremd: Seine Sprechweise hatte sich verändert. In der Klinik war ihnen erklärt worden, dass er den Sprechrhythmus wieder ganz von vorn lernen musste.
Die Eltern taten alles, um den Genesungsprozess zu unterstützen. Aber die natürliche Vertrautheit zu Fabian war zumindest der Mutter verloren gegangen. Sie hatte darauf keinen bewussten Einfluss, ein unsichtbares Band war entzweigegangen. Sie tat alles Notwendige, aber sie tat es bewusst; es war nicht mehr ihren natürlichen Mutterimpulsen geschuldet, sondern basierte auf vernünftigen Überlegungen und bewusstem Handeln.
Sie fand keine Erklärung dafür, dachte am Anfang, dass es wirklich an der anderen Sprechweise lag, dass sich das im Laufe der Monate wieder geben würde. Tatsächlich wurde der Kontakt nach einigen Monaten wieder herzlicher. Aber es blieb das Gefühl eines Bruchs, der Eindruck, man habe sich lediglich an eine neue Situation gewöhnt. Sie sprach dieses Thema nie gegenüber ihrem Mann an. Ein Unbehagen begleitete sie wie eine kalte Unterströmung im Meer.
An der Oberfläche jedoch zeigte sie sich beruhigt und glücklich, dass Fabian seine Sprechblockade überwunden hatte. Und verblüffend schnell holte er die verlorenen Jahre wieder nach: Schon nach wenigen Monaten hatte er sein früheres Sprachniveau wieder erreicht, und bei der Einschulung war er seinen Klassenkameraden bereits weit voraus.
Bald offenbarte sich, dass er hochbegabt war: In der Schule übersprang er einige Klassen, und auf der Universität schien er sein Potenzial gänzlich zu entfalten. Mit Mitte zwanzig war er auf dem besten Wege, Professor der Atomphysik zu werden - gerade in diesem Fach schien ihm alles zuzufallen. Als die Eltern auf einem Umtrunk in der Universität seinen Doktorvater kennen lernten, erzählte der schmunzelnd und beinahe ehrfürchtig, dass Fabian sich mehr an Inhalte zu erinnern schien, als dass er sie neu lernen müsse.
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Die Stimmung im Verteidigungsministerium war schlecht an jenem Morgen. Ein Krisenstab löste den nächsten ab.
Es war inmitten des Kalten Krieges. Die Blockmächte leiteten groteske Summen in die Rüstungsforschung. Auf amerikanischer Seite wurden große Hoffnungen in eines der unterirdischen Laboratorien in der Wüste Arizonas gesetzt. Hier wurde erforscht, was die Welt zusammenhielt - und wie man diesen Kitt zum Kollabieren bringen konnte.
Man hatte geglaubt, kurz vor einem Durchbruch zu stehen, einem gewaltigen Sprung nach vorn, der das Gleichgewicht der Kräfte auf lange Zeit hin zu Gunsten der Vereinigten Staaten verschieben sollte. Doch dann, aus heiterem Himmel, wurde gerade jener Forscher, in den diese Hoffnungen verankert waren, zum plötzlichen Pflegefall.
Er wachte an jenem Tag morgens auf und schien einer spontanen und vollständigen Amnesie zum Opfer gefallen zu sein. Er wirkte verängstigt und konnte sich nicht verbal verständigen. Bei den Sprachfetzen, die er verwendete, handelte es sich offensichtlich um Französisch - ein Französisch, dass dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes entsprach.
Fachärzte wurden herangezogen und Untersuchungen vorgenommen, doch es konnte nicht erklärt werden, was zu diesem Zusammenbruch geführt hatte.
Sehr langsam nur lernte er sich wieder zu verständigen. Seine Erinnerungen jedoch blieben ausgelöscht.
Er fühlte sich, als sei er in das Leben eines anderen hinein geworfen worden. Und er fühlte sich sehr fremd darin.