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Fremder Freund
Es kommt mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Päckchen in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur. Es unterscheidet sich in nichts von den Tausenden anderer Pakete, wie sie die Postboten tagtäglich austragen. Mit diesem aber hat es eine besondere Bewandtnis – eine ganz besondere.
Gegen meine Angewohnheit, habe ich die Post vor dem Frühstück hereingeholt. Ich überlege, ob ich mir wirklich den Morgen mit den schlechten Neuigkeiten aus aller Welt vermiesen soll, als mein Blick auf das flache Päckchen fällt. Der Absender fehlt. Neugierig mache ich mich daran, die Schnur und das Papier zu entfernen und halte schließlich eine schlichte, dunkelblaue Schatulle in Händen. Als ich sie öffne, blicke ich auf eine CD und ein sorgfältig gefaltetes Stück Papier. Leicht irritiert entfalte ich es. Ich lese die Worte zwar, nehme sie aber nicht wirklich wahr, denn meine Gedanken bahnen sich ihren Weg, durch den wabernden Nebel meiner Erinnerungen.
Wien, November 2001 - Ich war vierundzwanzig und mein Arbeitgeber hatte mich zu einer Weiterbildung geschickt. Es war das erste Mal für mich, für zwei Monate weit weg von Zuhause zu sein. Ich kam mir etwas verloren vor in dieser großen Stadt. Kannte keine Menschenseele. Meine Mitstreiter waren aus dem ganzen Land angereist und das „Internat“ des betriebseigenen Schulungszentrums sollte für die nächsten Wochen mein Zuhause werden.
Trotz meiner anfänglichen Schüchternheit Fremden gegenüber machte ich mich am Abend des ersten Kurstages auf den
Weg in den Gemeinschaftsraum. Gutmütige braune Augen und ein strahlendes Lächeln auf einem markanten, männlichen Gesicht waren das Erste, das ich sah, als ich den Raum betrat. Ich war sofort verloren…
Stefan… unsere erste Begegnung… Ich dachte, die Zeit hätte dein Bild für immer zu undeutlichen Schatten verwischt. Aber nun sehe ich dich so deutlich vor mir wie damals.
Von Anfang an gab es dieses Band zwischen uns. Dieses unerklärliche Gefühl, in einem Fremden einen alten Freund wieder gefunden zu haben. Wir hatten uns immer etwas zu sagen und verloren uns oft in stundenlangen Diskussionen über Vieles und Nichts.
Die Wochen vergingen viel zu schnell. Ich verbrachte viel Zeit mit dir und wir wurden Freunde. Dann dieser Abend, Mitte Dezember… Wieder einmal hatten wir uns die halbe Nacht unterhalten und auf den Fluren war es längst still und dunkel geworden. Wir saßen uns gegenüber und waren gemeinsam in Schweigen versunken, nur das Radio spielte leise im Hintergrund. Plötzlich hast du mir deine Hand gereicht und gesagt: „Du hast noch nie mit mir getanzt.“
Langsam bewegten wir uns zur Musik … Maybe I didn't hold you, all those lonely, lonely times. And I guess I never told you, I'm so happy that you're mine… Du hast mich so sicher in deinen Armen gehalten. In ungewohnter Nähe, die doch vertraut war. Deine Wange an meiner, der Duft deines Rasierwassers und das leise Wispern deiner Stimme dicht an meinem Ohr … Little things I should have said and done, I just never took the time. You are always on my mind. You are always on my mind… Als die Melodie verklungen war, hielten wir uns noch für lange Zeit fest im Arm. Unsere Lippen trafen sich - zu diesem einen ersten Kuss, der immer der süßeste ist.
Ja, du würdest immer einen Platz in meinen Gedanken haben, aber was war mit dir? Würdest du mich irgendwann vergessen?
Wir bauten uns unsere eigene kleine Welt, in der es kein Morgen gab. In der nur der Augenblick zählte. Aber auch dieser Dezember neigte sich irgendwann seinem Ende zu und mit ihm kam der Abschied. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich dich nie wieder sehen würde. Es war vorbei.
Wieder zu Hause, dachte ich oft an die Zeit in Wien zurück. Ich habe dich vermisst. Unsere Gespräche, unser Zusammensein, die Art, mit der du mich angesehen hast. Und obwohl wir hin und wieder telefonierten, war der Zauber unserer Begegnung irgendwann verschwunden. Schließlich brach der Kontakt ganz ab und die Jahre vergingen. Nur noch manchmal dachte ich an die Zeit in Wien zurück. An dich, mein fremder Freund. Alles, was mir geblieben war, waren schöne Erinnerungen an eine Liebe im Dezember...
Mühsam kämpfe ich mich wieder ins Hier und Jetzt. Betrachte nachdenklich das Kästchen, das vor mir liegt und streiche sanft über die glatte Oberfläche der CD. Ich kann die leichten Erhebungen der Beschriftung unter meinen Fingerkuppen spüren. Lächelnd, nehme ich das Stück Papier und lese die Worte, deren Bedeutung erst jetzt langsam in mein Bewusstsein gedrungen ist:
„Ich habe dich nie vergessen. Stefan”
Leise vor mich hin summend blicke ich aus dem Fenster. You were always on my mind…