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Fremder
Die Nägel an ihrer linken Hand waren praktisch nicht mehr vorhanden - sie hatte schon immer nur an der linken gekaut. Keine Ahnung, warum. Als sie acht Jahre alt gewesen war, war ihr immer auf die Hand geschlagen worden, wenn die Finger unterbewusst zwischen die Zähne gewandert waren. Und diese unappetitliche Angewohntheit, die Unbehagen und Nervosität zum Ausdruck brachte, hatte sie sich bis heute nicht abgewöhnen können.
Sie saß kerzengerade im Zugabteil und starrte auf die heruntergekommenen Gebäude, die das Industriegebiet der nun folgenden Stadt bildeten. Obwohl sie erst Anfang zwanzig war, wirkte sie durch ihr Auftreten um einiges älter: die Haare waren zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden, auf der Nase saß eine zweifellos stilvolle Brille ohne Rand und ihr schlanker Körper (sie achtete sehr auf gesunde Ernährung) war in ein geschmackvolles, bestimmt nicht preiswertes, Kostüm gekleidet.
Das genaue Gegenteil schien die ihr gegenübersitzende Frau zu sein. Sabine, 31 (wie sich nach zehn Minuten schweigender Fahrt herausgestellt hatte), hatte gerade eine grauenvolle Trennung mit dem neun Jahre älteren und bereits zwei Mal geschiedenen Peter hinter sich, der ganz im Gegensat zu Sabine, keine Kinder mehr wollte, da er schon jeweils zwei aus jeder Ehe hatte. Sie versuchte gerade 10kg abzuspecken, um wie Lisa aus der Marketingabteilung, mehr Eindruck in der Firma zu hinterlassen...
Gut erzogen, wie sie war, lächelte sie höflich, jedoch verhalten, zeigte die notwendige Anteilnahme, blieb dabei aber sehr reserviert und sehnte sich nach Ruhe und Einsamkeit, um ihre Gedanken zu ordnen.
Diese hatte sie nun gefunden, da Sabine, 31, in den Speisewagen gegangen war, um "Frustessen" zu betreiben. Sie war höchst verwirrt, dass sie sich jetzt auf dem Weg nach München befand, verwirrt und mit Sicherheit auch ängstlich. Was, oder vielmehr wer würde sie erwarten? Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Er war ein vollkommen Fremder für sie. Sie musste zugeben, dass sie erleichtert war, als sie aussteigen musste, bevor Sabine, 31, fertig geschlemmt hatte.
Sie nahm ihre Handtasche und stieg aus. Sie brauchte keinen Stadtplan, um das Café "La Senorita" wiederzufinden. Ein Mann, Ende vierzig, stand ebenso kerzengerade wie sie vor dem Café. "Hallo" - "GutenTag". Sie blieb reserviert. Vorsichtig umarmte er sie. "Hattest du eine angenehme Fahrt? Wie geht es dir?" - "Ja. Danke, gut."
Sie setzten sich und bestellten zwei Kaffee. Nach dem Austausch gewöhnlicher Floskeln war ihr Vorrat an Gesprächsstoff auch schon erschöpft. Zunehmend nervöser starrte sie auf ihren Kaffee, er in die Luft. "Nun, das Haus steht noch?", fragte sie. "Jaja, gerade noch so.", folgte. Und in der nun peinlichen Stille besiegte ihr unterbewusstes Verlangen ihren wohlerzogenen Verstand und sie begann, an ihren Nägeln zu kauen. Er schlug ihr auf die Hand. "Hör auf, das hast du als Achtjährige schon immer getan. Das tut man nicht!" "Entschuldige bitte, Vater." Und ihre Hand glitt zurück in ihren Schoß.