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- 22.10.2011
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Frieda nimmt sich den Tag
„Frühlingswischwaschi ist das. An so einem Tag.“ Frieda brummte die Worte vor sich hin, immer wieder, während sie die Straße entlanghuschte, hin zu dem Straßencafé auf dem Platz zwischen den Hochhäusern. Sie hielt sich eng an die Gebäude, wandte sich ein- zweimal nach ihrer Wohnung um, ja da war es noch, das zuverlässige Rechteck der braunen Tür mit dem goldenen Knauf.
Frieda setzte sich, wickelte den Riemen ihrer Tasche fest um den Oberschenkel, bestellte Cappuccino und schaute. Sie sah Mädchen, die kurze Kleider ausführten und lange Beine. Bebrillte Männer drängten sich in dem schmalen Sonnenstreifen vor dem Haus, warfen mit der linken Hand Pläne in den Himmel, während die Zigarette in der rechten den Mädchen nachzielte. Sie sah, wie die Sonnenstrahlen allmählich an den Fassaden emporturnten und der verschattete Platz sich zur orangen Heizpilzzone entzündete.
Frieda rückte ihren Stuhl in die Nähe eines Strahlers und wärmte sich die Beine. Außerdem behielt sie auf diese Weise die Straße zu ihrer Wohnung im Blick. Sie legte die Hände in ihren Schoß und schloss die Augen. War das ein Tag zum Feiern? Hastig riss sie die Augen wieder auf und fuhr sich mit einer Hand an die Brust. Wohl nicht, dachte sie, aber ein besonderer Tag ist es doch.
Ein Röckchen wippte vorbei. Apricotfarbener Crêpe Satin, knapp dreißig Zentimeter, schätzte sie. Im Frühjahr werden die Rocksäume kürzer, das freut alle. Sie schmunzelte und strich über den schweren Wollstoff ihrer Hose. Sie hatte es geliebt, Röcke zu entwerfen, kurze duftige Hüllen, die sich um die Schenkel schmiegten. Jedes Jahr. Immer kürzere, bis der Slip blitzte. Und jedes Jahr hatte sich der Kopf ihres Chefs auf ungesunde Weise verfärbt aus Zorn über die fehlende ökonomische Nutzung des Rocksaums. Dann hatten sie alles neu entwerfen müssen und manchmal fegten dann knöchellange, missgünstige Kutten über das Pflaster. Zwei Jahre war sie jetzt raus aus dem Job, viel zu früh, hatte entworfen und genäht und verworfen und neu geplant, bis die Chefhaut wieder erblasste. Einmal stand er hinter ihr, als sie unter einen krapproten Musterstreifen „Chefkopprot“ schrieb. Er schimpfte, aber er lachte auch, denn er brauchte sie viel zu sehr mit ihren flinken Fingern und den gewagten Einfällen. Für einen Moment schwappte Stolz durch ihren Magen, ja wirklich, Modetrends beurteilen, das konnte sie. Und Cheflaunen. So gut, dass die Kolleginnen immer sie vorgeschickt hatten, wenn es Probleme gab. Ach ja, so war das damals.
Der Kellner kam und brachte den zweiten Cappuccino, schimpfte über die neuen Zahlen chronisch Kranker und den Anstieg der Chronitätsabgabe, flachste ein bisschen über den neusten Benzinersatz, der eine Reihe von Motoren durchgekocht hatte. Sie lachte pflichtschuldig und wunderte sich. Merkte er nie, dass sie nur selten antwortete und schon lang nicht mehr fuhr? Sie zahlte und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, registrierte sein überraschtes Gesicht. Ein Stich durchzuckte sie. Wieviel hatte sie ihm denn gegeben? Sorgfältig verstaute sie den Geldbeutel und strich dann langsam über die metallene Tischplatte. Der Kaffee duftete, rief das Bild einer früheren Kollegin wach, mit der sie neulich hier gesessen hatte. Wie hieß sie noch? Irgendwas mit M. Oder? Hastig griff sie nach dem Kaffeelöffel. Nicht über den Namen nachdenken. Bloß nicht. Einfach umrühren. Doch sie tastete ins Leere. Hatte sie den Löffel etwa eingesteckt? Als sie in der Tasche wühlte, rutschte ein Papierblock zwischen ihre Finger. Sie nahm ihn heraus und blätterte. Namen, Aufträge, Termine. Ach ja, dachte sie, mein Spezialdaumenkino. Ich muss nachgucken. Schnell. Was war es, das ich prüfen wollte? Ihre Adresse stand auf der ersten Seite. Die hatte sie noch nie gebraucht. Weiter hinten Einkaufen gehen, dann ein Name: Dr. Manninger, 17 Uhr. Hatte sie den etwa vergessen? Mit dem Finger fuhr sie hastig die Tage in ihrem Phone nach, verglich, noch einmal und noch einmal, immer wieder. Nein, das war schon länger her. Sie hatte nur vergessen, den Zettel fortzuwerfen. Von ihrem Magen quoll ein heißes Brennen in die Kehle, ein Gefühl, als verdrehe es die Speiseröhre. Sie riss das letzte Blatt ab, zerknitterte es und warf es vor sich auf den Tisch. Neben den Kaffeelöffel. Hatte der die ganze Zeit da gelegen? Sie streckte den Rücken durch, als könnte sie so das Wirre und Hilflose, das sie zu überschwemmen drohte, eindämmen. Ihre Hand krallte sich um den Löffel, so fest, dass die Kanten in die Haut bohrten, und schob den Papierball auf die andere Seite des Tisches, weg von sich, nur weg, bis der Löffel abrutschte und über das Metall schrappte.
Frieda rieb sich die schmerzende Hand, betrachtete die Kratzspuren auf der Tischplatte und den verbogenen Löffelstiel, dann rührte sie in ihrem Kaffee. Milchblasen verbanden sich, platzten und fügten sich neu.
Ein Mädchen spazierte an ihrem Tisch vorbei. Solche festen Schenkel hatte sie auch einmal gehabt. So lang war das gar nicht her, oder doch?
Zeit war elastisch geworden, ein Band, das sich dehnte, und wenn Frieda daran zog und endlich glaubte, eine Erinnerung zu fassen und zu behalten, dann schnalzte das Band zurück und die Erinnerung entglitt. Schnell kam es, das Schnalzen, und weh tat es. Frieda strich über ihre Hände, als hätten sie einen Schlag erhalten, betrachtete die braunen Flecken. Sie hatte gleich aufgeben wollen, damals.
„Kein Grund zu resignieren“, sagte Dr. Manninger, „Das wird so früh erkannt jetzt, ihnen bleibt viel Zeit. Auch wenn es sehr früh auftritt. Die Medikamente werden die Krankheit aufhalten. Sie müssen sie allerdings regelmäßig nehmen und auf eine gesunde Lebensführung achten. Und sie sind teuer. Wenden Sie sich an die Beratungszentren. Anders geht es nicht. Irgendwann werden Sie dann eine Lösung finden müssen, wo sie zukünftig wohnen wollen.“ Während er sprach, lupfte er seine Mundwinkel, als könnte er ihre jämmerliche Zukunft mit einem fröhlichen „Auf, wird schon“ aus der Welt schaffen.
Frieda hatte es sich abgewöhnt, den Menschen in die Augen zu schauen, wenn sie mit ihnen sprach. Der Mund lachte freundlich, gleichzeitig beklagten sich die Augen über die Last, mit ihr umzugehen, oder, schlimmer noch, bemitleideten sie, wenn sie nach einem Wort rang oder einer Erinnerung. Nein, sie zog Münder vor.
Dr. Manninger zum Beispiel war das Heben der Mundwinkel so zur Gewohnheit geworden, dass diese sich zu vertikalen Kerben Richtung Stirn vertieft hatten, Optimistenwinkel nannte Frieda sie. Gerade erklommen sie Gesichtshöhen, dachte sie, die waren einfach nicht möglich. Dabei plärrte er eine Durchhalteparole nach der anderen. Ob man als Arzt ein Mundwinkelseminar besuchen musste? Wegen der vielen chronisch Kranken?
Mundtheater macht er, dachte sie. Nichts als Mundtheater. Sie hatte schon gewusst, was los war, als sie das erste Mal in Manningers Praxis erschienen war. Zu viele Zettel, die sie an zu viel erinnerten, zu viele Aussetzer. Es war ein unheimliches Wesen, das sie gepackt hielt, ein Wesen, das sie mit kleinen Zetteln bekämpfte.
Eigentlich sah die Messingplatte auch aus wie ein überdimensionierter Zettel.
Menschenwürdig leben
Menschenwürdig gehen
Sie tastete über das diskrete, schwarzweiße Schild, fuhr die Buchstaben nach: Tägliche Besuchszeiten 8-12 und 15-18 Uhr. Vor dem Nachbargrundstück kackte ein Hund auf den Gehweg, die Besitzerin linste zu ihr herüber. Frieda runzelte die Stirn. Hoffentlich hatte sie nicht den gleichen flehentlichen Gesichtsausdruck wie der Hund, der jetzt unbeholfen in ihre Richtung buckelte und dabei eine Kotspur hinter sich her zog. Schnell trat sie ein.
Vor ihr erstreckte sich ein Saal mit mehreren Sitzgruppen, in denen mindestens zehn Leute warteten. Sie sahen ganz normal aus. Sie musste lachen, was hatte sie erwartet, Skelette, die mit Bastelzeug für Demente klapperten?
Die Stühle vor Raum 9 waren leer. Frieda strich sich noch einmal über den Rock, zupfte ihre Frisur zurecht und klopfte. Eine Altstimme bat sie hinein. Hinter einem kleinen Schreibtisch hockte eine Frau mit lockigen Haaren und einer riesigen Brille. Sie sah aus wie eine verfressene Katze. Macht nichts, dachte Frieda, sie würde sie sowieso nicht anschauen. Sie wollte nur die Zulassung für ihre Medikamente und den Rest. Und dafür brauchte sie jetzt ihre ganze Kraft. Im frühen Stadium die Kontroll-Pille zu erschmeicheln, das würde nicht leicht werden.
Die Frau begrüßte sie, wies auf einen bequemen Sessel in einer Sitzecke, kam um den Schreibtisch herum und setzte sich ihr gegenüber. Eine Kerze flackerte Honigschimmer auf das Holz, an den Wänden hingen bunte Bilder.
„Frieda Steitzinger, geboren 1980? Das sind Sie? Darf ich Ihre Arztberichte sehen?“
Oh je, dachte Frieda, und nestelte ihre Unterlagen heraus, das klang nicht gut, das klang nach genauer Prüfung.
Zwei Stunden später lag das Gebäude hinter ihr. Verwundert blickte sie sich um. Das war alles ganz leicht gewesen, sie hatte geplaudert, Espresso getrunken, Mandelplätzchen gegessen, hatte verwundert verfolgt, wie Angst und Sorge sich zu Gelassenheit wandelten. Die Katze plauderte so unbefangen, dass Frieda dauernd kicherte. Jetzt hielt sie eine Mappe in der Hand, darin abgeheftet die Zulassung für ihre Medikamente und ihre Arztberichte. Auf der Vorderseite glänzten herbstlich bunte Weinblattranken, in der Mitte war die Nummer L54789 eingeprägt. So ein kitschiges Muster hätte sie nie auf einem ihrer Röcke geduldet, doch jetzt fuhr sie mit dem Finger über die tröstliche Erhebung der Zahl. Und das Beste, sie hatte ihre kleine Versicherung, ein in dezentem Elfenbein gefärbtes Schächtelchen, in dem eine hellblaue Pille lag. Teuer, aber nun konnte sie gehen, wann immer sie wollte. Sie hatte etwas, mit dem sie die Kontrolle behielt, wenn ihr alles entglitt. Sie musste nur den richtigen Zeitpunkt erwischen.
„Hirn-Aussatz“, sagte Kim, als sie ihr endlich von der Diagnose erzählte, und dann machte sie ganz ängstliche Augen, weil das so ein gemeines Wort war. Dabei gefiel es Frieda. Aussatz, das klang wie der stotternde Motor ihres alten Autos, Pickel nannten sie es, weil es der Schandfleck der Straße war, ja, Hirnpickel war gut. Das machte das Wesen so schön mürbe.
Und dann wollte Kim, dass sie ein Fest feierten.
„Das machen doch alle“, schimpfte Frieda.
„Wir feiern. Keine Widerrede. Und du lädst alle ehemaligen Liebhaber ein, überhaupt alle, die in deinem Leben eine Rolle spielen.“ Kim lachte, dann wurde ihre Stimme leise. „Niemand braucht zu wissen, dass es ein Abschied ist. Und dann“, ihre Stimme hob sich wieder, „wenn alle zu viel gesoffen haben, dann knipsen wir sie und erpressen sie, weil sie so scheiße aussehen.“
„Aber dein Herz.“
„Was soll damit sein? Dem geht’s gut. Du willst nur nicht feiern.“
„Hm.“ Frieda rieb einen unsichtbaren Fleck von der Tischplatte. „Und dann?“
„Dann kleben wir die Fotos in ein Buch.“
Als Frieda die Gästeliste zusammenstellte, fand sie, dass die Gesichter der Männer, mit denen sie in den letzten Jahren zusammen war, einander glichen. An ihre Namen erinnerte sie sich nicht. Sie hatte das Gefühl, es waren mindestens fünf, kam sich frivol vor, doch Kim sagte, es waren nur zwei. Sie war es auch, die sie anschrieb.
Das Fest rauschte an ihr vorbei, ein Reigen von Menschen, die mit ihr redeten, mit ihr anstießen. Jedes Mal, wenn es klingelte, hatte sie Angst, dass sie das Gesicht nicht erkannte oder den Namen nicht wusste. Sie trank zu viel, verkroch sich endlich in einem der leeren Räume. Es war Kims Zimmer. Irgendwann ertappte sie sich dabei, wie sie an dem Träger eines schwarzen Tangokleids roch. Kims Parfum haftete daran, überdeckt von einem leichten Schweißgeruch. Wegen ihr saß sie jetzt hier wie ein verschrecktes Schaf, wegen ihrer blöden Idee mit der Party. Kim würde weiter tanzen und denken und sich erinnern. Und sie? Frieda zerrte an dem Träger, sah voll bitterer Freude, wie sich der Stoff dehnte, riss weiter, bis er mit einem Knarzen nachgab, brüchiger, morscher Scheiß war das. Schnell stopfte sie das Kleid in den Schrank und kauerte sich in eine Ecke.
„Frieda?“ Mit einem Mal ragte Kim über ihr auf, entdeckte, wie sie da hockte, klein und hingeduckt. „Was ist denn mit dir?“ Ihr Atem roch nach Wein, Frieda fühlte ihre Hand, ihr Zupacken, und dann waren sie in dem großen Raum, zwischen den anderen, während One Day aus den Boxen dröhnte. Kim griff sie an beiden Händen, ließ sie nicht mehr los, tanzte mit ihr im Kreis, ganz wild, obwohl sie es doch so schlimm am Herzen hatte, immer weiter, schön war das, wunderschön, das hatten sie nie gemacht vorher, weiter und weiter, bis sie beide umfielen vor Lachen und Trunkenheit und Schwindel.
Dann rief Kim und ihre Stimme überschlug sich: „Mit Ihnen tanz ich am liebsten, Frau Frieda! Und noch was! Wenn du nicht mehr weißt, wer wer ist, dann bin ich deine Erinnerung, und du, du sollst mein Herz sein.“ Und dann lachte sie laut, weil alle ganz pikiert guckten und weil das so entsetzlich rosarot und zum Schreien war, und sie zog Frieda ganz schnell wieder hoch, und sie drehten sich weiter, immer rund und rundherum, bis alles verschwamm, und in dem Taumel sah Frieda Gesichter vor sich, große, bunte Gesichter, aber sie kannte sie nicht, und dann dachte sie an ein Stück zerrissenen, seidigen Stoff.
Der Zettel hing an ihrer Zimmertür. Tabletten einnehmen stand darauf. Wann hatte sie den geschrieben? Sie erinnerte sich nicht. Noch mehr Zettel, eine ganze Serie hatte es sich in ihrem Zimmer breit gemacht. Als hätte jemand anderes sie heimlich aufgehängt; doch es war ihre Schrift, wenn sie auch aussah wie in großer Eile geschrieben. Am Kleiderschrank hingen welche, der nächste neben dem Tagebuch, in das sie jeden Tag ihre Fragen schrieb, und ein ganzer Zettelfächer klebte am Schreibtisch, wo der Tablettendosierer lag.
Sie riss die Zettel ab, nur den an der Tür ließ sie hängen, dann nahm sie die Box in die Hand und schob das Fach für Donnerstag heraus. Drei Tabletten lagen darin, fein aufgeteilt auf Sonne, Mond und Mittag. Mittag war unbeschriftet geblieben, bis sie selbst ein Symbol gemalt hatte: einen Stinkefinger. Das vierte Fach war nur an zwei Tagen der Woche gefüllt, Vitaminpillen lagen darin. Sie schob die Box noch weiter auf und beobachtete, wie die Tabletten in ihren Fächern rollten; kleine, hilflose Kügelchen. Schnell schluckte sie die Donnerstagmorgen-Pille. Der Boden der leeren Fächer war mit einer pastellfarbenen Staubschicht bedeckt. Sie befeuchtete den Zeigefinger, fuhr auf dem Boden eines Faches entlang und leckte den Staub ab. Sie musste an ein Kinderstück denken; ein kleiner, dicker Ritter im Kampf gegen das Böse. Ob er auch bitter schmeckte, wenn man an ihm leckte?
„Oblong-Fitz-Oblong“, rief sie, „Treten Sie an gegen den Aussatz!“ Sie schluckte die Stinkefingertablette rasch hinterher.
„Was ist denn schon wieder?“ Kim schaute ins Zimmer. Sie sah blass aus. Und müde. „Hast du die Tabletten schon genommen?“ Sie nahm ihr den Dosierer aus der Hand und prüfte die Fächer. „Du hast ja schon die Mittagstablette eingenommen. Soll ich das nicht langsam übernehmen?“
„Nein ich ...“
„Das ist wichtig, du musst dich dran halten. Dann lass es mich machen, wenn du es nicht mehr schaffst.“ Kims Stimme klang schrill.
Frieda griff nach dem Dosierer. „Gib her!“
„Ich weiß nicht“, Kim verzog das Gesicht, „traust du dir das echt noch zu?“
„Gib her!“ Mit einem Ruck zog Frieda an der Plastikschachtel, riss sie Kim aus der Hand, die erschrocken auf einen Schnitt an ihrer Hand blickte. Die Tabletten sprangen heraus und kreiselten über den Boden.
Bestürzt sah Frieda auf Kims Hand. „Das wollte ich nicht. Ich wollte nur …“
„Jetzt sieh mal, was du gemacht hast!“, Kim wies auf den Schnitt, aus dem ein Blutfaden quoll. „Keine Ahnung, in welches Fach die Dinger gehören. Mann, das nervt!“ Sie hockte sich auf den Boden, suchte, sagte, „Lass mal sehen“, und nahm Frieda den Dosierer aus der Hand. Sie legte die Tabletten in ihre Fächer zurück, an einer klebte ein bisschen Rot. Dann stand sie auf und hob die Hand. Frieda duckte sich, über ihr hing Kims Hand. Einen Moment stellte Frieda sich vor, wie die Finger zum Schlag ausholten, auf den Kopf droschen, als müssten sie die Schädeldecke durchdringen, fast wünschte sie es sich. Dann spürte sie doch nur wieder das harte Streicheln, das Ziepen an ihren Haaren. Kims Gesicht schwebte über ihr, es sah traurig aus. Frieda fühlte, wie ihr der Dosierer in die Hand geschoben wurde. Dann war sie allein.
Wann war das passiert, dass Kim ihr die Entscheidungen abnehmen wollte? Waren es Tage her? Oder Wochen? Die Erinnerung war abgetaucht in die zähe Masse, die jetzt ihr Gedächtnis war.
Sie hatte sich verändert, ihre Kim, sie sah breiter aus, dabei war sie doch klein und zierlich, und größer jetzt, viel größer als Frieda. Und sie redete so viel und wusste alles, und Frieda konnte nicht antworten, so schnell, wie die Fragen gestellt wurden. Jede Geschichte von ihnen beiden, wie sie Kim geholfen hatte, ihre Arbeit zu schreiben, oder wie sie ihr Flieder geholt hatte und dabei vom Baum gefallen war, jede einzelne Geschichte wurde zu einem Schatz, den Frieda Tag für Tag suchte, um ihn Kim und sich neu zu schenken. Damit alles seine Ordnung hatte. So froh war sie über das Wiedergefundene, doch Kims Gesicht erstarrte, wenn Frieda anfing zu erzählen. Und am schlimmsten war das Streicheln.
Als Kim aus dem Zimmer gegangen war, setzte Frieda sich vor ihren Schreibtisch und schlug das Tagebuch auf. Sie schrieb. Ich schäme mich für das, was ich bin, und noch mehr für das, was ich sein werde. Und wie es dann mit Kim sein wird. Ich … Sie schlug das Tagebuch zu, öffnete es wieder und riss die Seite aus dem Buch heraus.
Der Aussatz kam näher, ob sie wollte oder nicht. Ihre Vergesslichkeit zeigte es und Kims Gesicht zeigte es. Die Hoffnung, dass sie noch eine Weile so leben konnte, platzte. Es war Zeit.
Sie ging an ihren Schreibtisch, kramte ganz hinten in der Schublade, wo sie in einer versteckt liegenden Schachtel die kleine, blaue Pille aus dem Beratungszentrum aufbewahrte: Hyperbarbitol, schmerzlos und tödlich. Man musste es nur nehmen. Und genau das war der Punkt. Sie, die so schnell gelebt hatte, immer drauflos, so oft war sie gesprungen, zum nächsten Mann, in einen neuen Job oder mit dem Fallschirm. Vor diesem Sprung aber hatte sie Angst. Sie wollte nicht vor sich hin krepieren, aber sie wollte auch nicht spüren, wie die Tablette den Hals hinunterrutschte, und daran denken müssen, dass dies der letzte Moment ihres Lebens war. Sollte sie ihr graues Spitzenkleid anziehen und auf den Tod anstoßen mit einem Glas Champagner? Und vorher zum Friseur gehen? Eine flotte Kurzhaarfrisur schneiden lassen? Das passte doch alles nicht. Ach, sie hatte einfach Angst, jämmerliche beschissene Babyangst. Nachdenklich wendete sie das Kästchen zwischen ihren Fingern hin und her. Dann öffnete sie es. Vorsichtig platzierte sie die Pille in das vierte Fach für Sonntag. Heute wusste sie noch, dass sie diese Pille nicht nehmen durfte. Und morgen würde sie das auch noch wissen. Lange noch. Aber irgendwann würde sie vergessen, was das für eine Pille war und sie würde sie nehmen. Ihr Tod wäre ein merkwürdiger Zufall, eine Folge ihrer Vergesslichkeit. Sie würde dem Aussatz ein Schnippchen schlagen und ihrer eigenen Angst gleich mit.
Aber, dachte sie, was ist, wenn Kim mir den Dosierer wegnimmt? Sie beruhigte sich, das macht sie so schnell nicht, und wenn, dann schauspielere ich, ich werde so tun, als nehme ich die Pille und bewahre sie woanders auf. Das geht schon. Und wenn ich es nicht mehr weiß? Dann gibt Kim mir die Pille. Ihre Kehle verengte sich, sie schluckte, massierte sich den Nacken. Kim. Sie wird es verstehen, sagte sie sich dann, sogar, wenn sie das mit der Pille kapiert. Ja. Sie wird zurechtkommen, das ist ok, sie ist doch jetzt gewachsen. Außerdem wollte sie ja die Box. Sie verzog den Mund. Kontrolle hat einen Preis, auch für eine Freundin. Sie drängte den Gedanken an Kim endgültig zurück und lächelte. Ihr Vergessen würde sie vom Vergessen erlösen.
Sie nahm den Papierball, der immer noch auf dem Metalltisch lag, zerknüllte ihn noch mehr und warf ihn mit Schwung auf die Straße, direkt vor die Pumps eines der Minirockmädchen. Wenn man einen Entschluss gefasst hatte, war alles leicht, es ging ihr gut heute, verdammt noch mal.
„Naja ein Dunking war das jetzt nicht gerade“, sagte der junge Mann, der neben ihr Platz genommen hatte.
„Wie bitte?“
„Dunking. Basketball, Korbwurf.“
„Dunking.“ Frieda schüttelte den Kopf. Sie sah den jungen Mann eine Weile an, musterte sein bartloses Kinn, den Pferdeschwanz. Er sah aus wie ein frisch geschlüpftes Küken. „Sie sehen aus wie ein Max.“
Der Junge stutzte. „Ich dachte wie der andere.“
„Wollen Sie einen Kaffee mit mir trinken? Der Kaffee ist gut, allerdings ist die Milch zu dünn: Die Blasen platzen.“
Der junge Mann nickte. „Mit platzenden Blasen kenne ich mich aus. Besonders mit Hoffnungsblasen.“ Seine Mundwinkel tänzelten nach unten. Gottseidank, dachte Frieda, einer, bei dem Mund und Augen nicht zwei verschiedene Geschichten erzählen. Doch so schnell sie gesackt waren, hoben seine Mundwinkel sich wieder, flatterten, als müsste der Mann sich noch entscheiden, ob er über das, was er sagte, lachen wollte. Da, schon wieder. Die Mundwinkel tanzten. Aber Tango ist das nicht, dachte Frieda, eher Veitstanz. Sie riskierte einen Blick zur Nase, wanderte über Sommersprossen zu hellbraunen Augen, in deren Mitte grüne Pünktchen schwammen.
„Platzende Blasen, blasende Platzen“, sagte sie. „Heute ist ein Blasenplatztag.“
„Ja …“, der Mann zögerte, musterte Frieda für einen Augenblick, dann fuhr er fort: „Ich weiß jetzt nicht, soll ich erzählen?“
Frieda nickte.
„Also eigentlich muss man das wirklich erzählen. Es ist absurd. Ich habe für ein Institut Interviews führen müssen. Den Job bin ich los. Aber egal, bin wohl nicht für so was geschaffen. Die wollten so psychologische Profile. Und ich hab alles andere rausgekriegt, nur nicht die Profile. Und das, was ich rausgekriegt hab, das hätt ich denen schon vorher erzählen können. Als ich ihnen gesagt hab, dass der Aufwand die Mittel nicht lohnt, haben sie gesagt, das sehen sie auch so, und haben mich rausgeschmissen. Naja, vielleicht besser so.“
„Was mussten sie fragen?“
„Ich musste Filmtitel nennen und die Leute mussten dann sagen, was ihnen dazu einfällt. Hab ich gemacht. Und was ist denen eingefallen? Fast immer?“ Der junge Mann krauste die Nase.
„Was zu essen?“
„Klar. War immer Popcorn. Ich weiß jetzt genau, dass Chilipopcorn besonders häufig von Männern gegessen wird, die in Actionthriller gehen. Wenn Frauen mitgehen, nehmen sie eine kleine Packung Popcorn, süß und gefärbt wie Karotten, und geben ihrem Begleiter nichts davon ab. Ich wusste nicht, dass Möhrchen-Popcorn eine Art Protestaktion ist." Er lachte. "Bei Schmachtfetzen, z. B. den Remakes von diesem, Mann, jetzt fällt er mir nicht ein …“
„Das ist mein Job“, sagte Frieda und griff nach der Tasse des jungen Mannes.
„Nur zu, nur zu“, irritiert blickte er auf seinen Kaffee, der gerade in Friedas Mund verschwand, „jetzt weiß ich es wieder, Walt Disney, komisch, dass das Zeug immer noch boomt, da kaufen die Frauen doppelsüßes Popcorn, Partnerbox, für sich und den Mann an ihrer Seite. Ich glaube, das ist eine Art Anti-Kondom. Den Kerlen fällt sofort auf, dass die Freundin das kauft. Da werden sie vorsichtig. Und dann erzählen sie, dass das Popcorn ihnen den Magen zugeklebt hätte in der Nacht nach dem Kino und alles andere gleich mit.“
„Und dann?“
„Und dann, naja“, der junge Mann setzte sich zurecht, griff sich wieder seine Tasse, nahm einen Schluck. „Dann, also ich find das ja schon komisch, wenn die immer mit Popcorn kommen. Aber es war wirklich so. Zum Beispiel: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie „Morningtiger“ hören? Antwort: Das war da, wo meine Freundin einen Riesenaufstand gemacht hat, weil es kein buntes Popcorn mehr gab. Und der Proband und ich uns dann zusammen überlegt haben, ob man nicht Popcorn passend zum Film erfinden sollte. Also in diesem Fall Streifenpopcorn mit Zähnen.“ Der junge Mann lachte. „Fragt man sich doch echt, jetzt gibt es Popcorn seit der Steinzeit und nie ist einer auf diese Idee gekommen.“
Frieda gluckste, sein Lachen war ansteckend. „Was ist das? Morningtiger?“
„Was? Den kennen Sie nicht? Der Film von Milan Swamovic, von dem redet zur Zeit jeder. Ein ganz junger Regisseur, ein Schüler von Hooper. Apropos Hooper. Nach „Les Miserables“ musste ich auch fragen. Und wissen Sie, was mein Proband gesagt hat? Das war, als mein Karamell-Popcorn, so elend klebrig war, dass mir die Zahnfüllung rausgefallen ist.“ Der junge Mann seufzte übertrieben und verdrehte die Augen. „Ich weiß nicht, das muss wohl an mir liegen.“
Frieda verstand nichts, aber das Geplauder des jungen Mannes umhüllte sie wie eine gemütliche Decke. Man musste nicht antworten, er unterhielt sich ganz von allein. Sie lachte so laut, dass die Leute vom Nebentisch herüberschauten. Frieda drohte ihnen mit dem Finger. Als sie zurückschaute, sah sie, dass der junge Mann auch den Finger erhoben hatte.
„Jetzt müssen sie dazu nur noch mit den Ohren wackeln, dann kriegen die sich gar nicht mehr ein, sehen Sie, so …“ Seine Schläfen zitterten auf und ab.
Frieda prustete.
„Also das war das Problem, sobald die einmal Popcorn sagten, musste ich weiterfragen. Wissen Sie, die Sache mit dem Popcorn interessiert mich ja schon lange. Warum zum Beispiel gibt es das immer noch? Und wie hat es überhaupt den Weg in die Kinos genommen?“
„In einer Tüte?“
Der junge Mann stutzte. „Sie haben lustige Antworten. Ich hab mich natürlich oft auch gezwungen, anderes zu fragen, sonst wär ich wohl schon früher rausgeflogen.“
„Und dann?“
„Naja, den meisten fällt auch noch ein, mit wem sie im Kino waren. Hätt ich denen von dem Institut auch vorher sagen können. Ist doch logisch. Ich mein, Essen und Menschen, das ist doch das Wichtigste.“
„Das geht mir auch so. Ich erinnere mich auch nur noch an Essen und Menschen. Aber das ist bei mir normal.“ Frieda kicherte.
„Und dann gibt es da noch die Cineasten. Um die dreißig, buschige Augenbrauen. Für die gilt das alles nicht, die essen immer nur dasselbe Popcorn, egal, welcher Film. Dafür XXL-Packung. Immer. Aber einer hat mir heute einen super Tipp gegeben. Das guck ich mir nachher gleich an. Dieser Swamovic, der soll eine Indie-Produktion gemacht haben. Über Ianua digna. Kann man nur im Netz sehen.“
„Was?“
„Ein Film über Ianua digna. Dass die jedem die Todespille aufdrücken, selbst Leuten, die noch lange gut leben könnten. Und die lassen sich das teuer bezahlen. Und, jetzt kommts, das Zeug da drin funktioniert noch nicht mal. Ein paar Leute sollen ganz furchtbar verreckt sein, und manche haben trotzdem überlebt, und es war schlimmer als vorher. Die Pharma-Industrie sponsert die angeblich. Und die Regierung auch. Sind doch alle froh, die vielen Kranken loszuwerden. Sie werden ja ganz blass. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?“
Als der junge Mann gegangen war, saß Frieda immer noch da und lauschte der Leere in ihrem Inneren. Als wäre etwas abgemäht worden. Es tat noch nicht einmal besonders weh, es war einfach nur fremd. Das, was sie für Kontrolle und eine ironische Idee gehalten hatte, war eine Schimäre.
Leute liefen an ihr vorbei, sie sah ihnen hinterher. Und dann war es ihr klar, sie musste so schnell wie möglich nach Hause, die Pille rausnehmen. Sie musste. So wollte sie nicht gehen, nicht mit dieser Angst. Das wollte sie sich nicht antun. Und Kim auch nicht.
Und zuallererst würde sie in einen Film gehen mit Kim. Und an den jungen Mann denken, wenn er ihr wieder einfiel. Dafür war jetzt die Zeit. War doch egal, wenn Kim größer wurde als sie. Aber erst würden sie zusammen Popcorn essen. Eine riesige Tüte.
Als Frieda eintrat, wartete Kim schon auf sie. Sie saß am Tisch, vor sich ein Stück Kuchen, pickte Krümel auf und leckte sie von ihrem Finger.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte sie. An der Kuchenplatte lehnte eine Postkarte. Frieda stellte ihre Tasche ab, wollte in ihr Zimmer, sie musste etwas Dringendes erledigen. Doch Kim umarmte sie, ganz fest, es war ein schönes Gefühl. Stimmt, sie musste sich erst einmal mit Kim vertragen, sich entschuldigen.
Sie griff nach einem Teller: „Ich auch Kuchen.“
Kim lachte und schnitt ihr ein Stück ab. Als Frieda sich über den Kuchen beugte, fühlte sie Kims Hand ihren Kopf berühren. Ganz leicht, wie ein Vogel, der sie zart mit den Federn streifte. Sie sah auf, sagte, „wir müssen zusammen ins Kino gehen, das ist wichtig.“ Dann stopfte sie sich ein Stück Kuchen in den Mund, kaute einmal und erhob sich.
Kim sagte: „Das ist für dich“, und reichte ihr die Postkarte. „Ich bin manchmal so ungeduldig, es tut mir leid. Es ist nicht einfach für uns beide.“ Sie senkte den Kopf. „Ich hab Kuchen gebacken und dann hab ich die Postkarte gesehen. Die zwei hier, die sind wie du und ich. Da hab ich sie dir mitgebracht.“
Auf der Karte liefen zwei struppige Hunde nebeneinander her. Hinter ihnen verschmolzen graugrüne Hügel mit dem Himmel.
„Das bist du“, sagte Kim und wies auf das linke Hündchen, das im Sprung durch die Luft flog, so dass die Haare nach hinten wehten. „Genauso wild bist du manchmal. Und das da, das bin ich.“ Sie deutete auf den Hund, der neben dem anderen über die Straße trabte, er sah ein wenig besorgt aus. Die Mundwinkel wiesen nach unten, bildeten zusammen mit der schwarzen Lacknase ein Dreieck. Die Augen waren groß und feucht, sahen den Betrachter direkt an. Frieda blickte auf die beiden Hunde, es war nur eine Postkarte, aber es war ein schönes Geschenk und ein bitteres, und so, dass sie weinen wollte, weil es ihr in die Seele schnitt. Wieder fiel Frieda ein, dass sie unbedingt an etwas denken wollte, was war es nur, irgendetwas, das mit blauer Farbe zu tun hatte. Ärger bohrte in ihr, warum hatte sie nicht einen Zettel geschrieben, das machte sie doch sonst immer? Sie erinnerte sich verdammt noch mal an nichts. Sie kniff sich in die Hand, ganz fest, saugte am Handballen, die Karte immer noch zwischen den Fingern, bis sich ein blauer Fleck bildete, blau, ja blau, das war es, bestimmt war es das, an etwas Blaues wollte sie denken. Noch einmal saugte sie und drehte dabei die Hand, so dass ihr Blick wieder auf die Karte fiel. Ach, Kims Geschenk, sie genoss die Lebensfreude, die in den beiden Hundekörpern steckte, die Anspannung des Sprungs und die Gemächlichkeit des Trabens, sie folgte dem hellen Feldweg, der sich mit dem Dunkel des Waldes verband, wanderte hin zu dem Streifen Himmel, der über den Hündchen leuchtete. Helles Lichtblau mit einem Grünstich. Ja, dachte sie, daran habe ich denken wollen, an diesen Himmel. Hell mit einem Schimmer Grün. Kims Geschenk. Sie tippte auf die Karte, fuhr den Himmelsstreifen entlang und freute sich über die beiden Hunde.