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Friedliche Weihnacht
Die Sonne war so hoch gestiegen, dass sich ihre Strahlen durch den Spalt zwischen Fensterbrett und Gardine durchmogeln konnten. Sie durchquerten das kleine Zimmer, ihrer Wärme gelang es, Staubteilchen dazu zu bewegen, einen vorsichtigen Tanz zu beginnen. Dieser führte bis zur – zugegebenermaßen nicht kleinen – Nase eines rhythmisch schnarchenden alten Mannes. Es war Carl-Ove Gustavson, der eben noch sanft vor sich hin schlafend im Bett gelegen hatte, diesen Zustand aber jetzt unterbrechen musste, denn ein Niesreiz ist eben ein Niesreiz.
Carl-Ove wollte sich eigentlich zur Seite drehen, doch dann entschloss er sich, diesen unerwarteten äußeren Impuls zum Anlass zu nehmen, aufzustehen.
Sein Blick fiel auf den Kalender. Heute war tatsächlich schon Weihnachten! Er erinnerte sich gerne daran, wie man das Fest der Lichter in seiner Jugend erlebt hatte: Diese ungeduldige Vorfreude auf die Bescherung in der von Kerzen erleuchteten Stube, das Singen auf dem Dorfplatz, der Pastor, der mit krächzender Stimme sagte „wenn ihr besser leben wollt, seid nett zueinander“, und dann, ganz selbstgefällig, „seid nett zueinander, wenn ihr besser leben wollt.“ So wie jedes Jahr.
Damals war ihm nicht sofort klar: Dies ist alles nur eine Illusion, bestehend aus Harmonie, aber auch unschuldiger kindlicher Weihnachtsfreude - eine dünne Schicht von Selbstverständlichkeiten unter den verfrorenen Füßen der anwesenden Menschen, die dann so unerwartet zerbrach.
„Alles hat zwei Seiten“ so lautete der Lieblingsspruch seines Klassenlehrers, worauf sein Bruder geantwortet hatte „… sagte der Würfel zur Kugel“, was ihm einen Verweis wegen ‚Ungehörigkeit‘ einbrachte.
Eine zweite Seite der Wirklichkeit hatte sich an diesem lange zurückliegenden Abend offenbart, die im krassen Gegensatz zu der behaglichen Weihnachtsstimmungswelt stand. Er hatte es genossen, der Taktgeber dieses gewaltigen, funkelnden Geschehens zu sein.
Das war jetzt Vergangenheit, aber immer noch Realität, die beharrlich weiterhin ihre Macht ausübte, ihn im Würgegriff des Vergangenen festhielt. ‚Die Rache ist mein‘, spricht der HERR, immerhin war Carl Ove Gustavson für kurze Zeit der HERR gewesen, der HERR des Lichts und Feuers in kalter Nacht, seit langem der ewig für seine Taten Verdammte.
Würden sie sich wieder vor seiner Blockhütte zusammenrotten, wie schon so oft zu Weihnachten, um ihn zu schmähen, wegen seiner grausamen Taten vor über sechzig Jahren zu bedrohen? Wie viele Leute waren damals verbrannt? Er wusste es nicht mehr. Damals wollte er sich nur gegen die Monster wehren, die für ihn so spürbar von allen Dorfbewohnern Besitz ergriffen hatten, ihn quälten! Wie verlogen sie waren, wenn sie einmal im Jahr so taten, als seien sie liebenswert. Es war ihm klar gewesen, dass heute der Tag ist, an dem sie das bekommen sollten, was sie wirklich verdient hatten! Diese Leute hatten sich schließlich ein Fest der Wärme und des Lichts gewünscht! Er würde schon für gewaltiges Licht aus Feuer und Funken sorgen! Hätte es diese Menschen nicht gegeben, wären seine Taten nie geschehen, außerdem hatte er ‚die Anderen‘ nie leiden können. Warum auch?
Carl Ove Gustavson wurde schlecht von seinen Erinnerungen, wie sollte man diese Konfrontation denn wieder ertragen? Panik breitete sich in ihm aus, er schwitzte, schnappte nach Luft. Dieser große Mann mit zerzausten Augenbrauen, spärlichem Haar, vor Schmerz hämmerndem Kopf, zitterte erbärmlich. Der Geplagte stapfte zum Fenster und öffnete es hastig, um frische Luft herein zu lassen. Zum Glück geschah das eigentlich Beunruhigende, für ihn jedoch Erlösende: Es waren keine immerfort krächzenden Krähen zu hören, es gab kein Rauschen des Windes, keine anklagenden Rufe. Nicht wieder dieses erbärmliche Jammern! Er war erleichtert, wie tiefgreifend sich der heutige Morgen von anderen unterschied: Es gab nicht nur nichts zu hören, es gab auch nichts zu sehen. Nicht einmal das Nichts, nun, das ist ja klar, wenn es doch nichts zu sehen gab. Selbst der vertraute Geruch der sumpfigen Wiese fehlte. Carl Ove Gustavson war erleichtert, plötzlich befreit, an Weihnachten geschahen eben Wunder!
Er hielt sich nicht für vom Schicksal geadelt genug, um über so etwas überhaupt nachzudenken: Wenn es da draußen nichts gab – gut, dann war es halt so. Ist ihm nicht schon öfters der Gedanke gekommen, dass das Fehlen von allem, da, außerhalb, nicht das Schlechteste sein würde? Schließlich hatte er sein Zimmer, eine Flasche Punsch mit leckerem Zimt, als kleinen Trost in harten Zeiten. Es gab verschiedene Vorräte, außerdem musste jeder einmal sterben, dann wäre sowieso alles vorbei. Wie bedeutungslos wäre das Leben ohne Tod? Oder gar der Tod ohne das Leben? Der Mann kam zur Ruhe: Niemand vor der Hütte, nur Nichts – etwas Besseres hätte nicht passieren können.
Er schloss das Fenster, begann sein spätes Frühstück.
Das hatte wieder einmal geschmeckt! Carl Ove Gustavson räumte ein wenig auf, alles hatte seinen Platz. Jetzt ein wenig lesen oder weiter an seiner selbst erfundenen Sprache arbeiten? Sie basierte auf Zufallszahlen. Carl Ove war sich sicher, dass diese Sprache für andere vollkommen unverständlich sein würde. Dann gäbe es wenigstens einen Grund, warum niemand ihn verstand. Nun – er nahm lieber ein Buch zur Hand, fläzte sich, Füße auf dem Tisch, in seinen Lesesessel. Der Alte las eine Seite und riss sie anschließend aus dem Buch. Niemals hatte eine andere Person etwas lesen wollen, was er gelesen hatte. Nach einer Weile stutzte der Mann – war da ein Geräusch gewesen? Ja, wirklich, aus Richtung der Tür waren Schreie zu hören, oder waren da Stimmen in seinem Kopf? „Ach, was solls“, murmelte Carl Ove, „da draußen ist nichts, da bin ich ganz sicher, um was soll ich mich also kümmern! Irgendwelche Aktivitäten kann es schließlich im Nichts nicht geben.
Ich weiß gar nicht, was die immer von mir wollen: Wenn der Sinn des Lebens nicht aus dem vergänglichen, inhaltslosen Erfolgsstreben besteht, dem so viele Menschen hinterherjagen – woraus besteht dieser Sinn dann? Aus Hilfsbereitschaft? Ist es denn für die Leute nicht ein unerträglicher Gedanke, dass man das Leid anderer brauchen sollte, damit edle Handlungen möglich sind? Ohne Menschen wie ihn hätte doch niemand Trauer, Zuwendung und Nächstenliebe in so einzigartiger Form ausüben können!“
Diese Gedanken verschafften Carl Ove Gustavson zusätzliche Zufriedenheit, er seufzte, vertiefte sich wieder in sein Buch, war mit sich und der Welt in Einklang, ihm schmeckte wieder mal der duftende Weihnachtspunsch.