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Frontlinien
Es zieht ein Gewitter auf, unten beim Hafen. Ich höre den Donner. Seit Tagen schon hängen die Wolken tief über der Stadt, drücken die feuchte Hitze. Hoffentlich kommt der Regen bald und kühlt die Luft, den Asphalt, die Gemüter. Die andauernde Wärme macht den Menschen zu schaffen, selbst nachts ist es zu heiß zum Schlafen, auf der Straße streitet man sich wegen Nichtigkeiten. Draußen donnert es wieder, in schnellen Intervallen, manchmal dreimal, manchmal viermal, dann ist es wieder still.
Ich drücke die Lamellen der Jalousie auseinander. Das kleine Stück Nachthimmel hoch über mir verschmilzt nahtlos mit den Fassaden der Nachbarhäuser. Dunkelgrau in dunkelgrau.
Wieder das Donnern, fünfmal hintereinander, dann ein tiefes Grollen, doch der Regen lässt auf sich warten.
Ich lehne mich zurück in den Fernsehsessel. Kurz bevor mein Rücken das abgewetzte Leder berührt, schießt die Jalousie an meinem Gesicht vorbei, gefolgt von einem Knall, der sofort in einem hellen Pfeifton mündet. Ich schiebe meine Brille zurück auf die Nase und sitze einfach nur da, ein Dutzend hektischer Atemzüge lang, unfähig aufzustehen starre ich die zerfetzte Jalousie an, die Glasscherben auf meinem Teppich. Wie schön sich das Licht der Straßenlaterne in ihnen spiegelt. Das Piepen wird leiser, an seine Stelle tritt ein anderer Ton, schriller, doch vertrauter. Als ich meine Türklingel erkenne, besiegt der Fluchtreflex die Ohnmacht.
Aus den Hausgängen strömen die Menschen ins Freie. Überall verstörte Augen in müden Gesichtern, verschwitzte Körper in dünner Baumwolle.
In unserem Wohnblock ist keine Scheibe heil geblieben, auf der anderen Seite sieht es nicht viel besser aus.
"Alter, was war das denn?", höre ich Sultan. Er steht direkt neben mir, doch seine Stimme ist weit weg.
Ich zucke mit den Schultern.
"Alles in Ordnung bei dir, Eule?", fragt Sultan nach einer Weile und wischt sich mit der Hand übers Gesicht.
"Alles in Ordnung, ja", sage ich.
Meine Stimme ist wie durch Watte gedämpft. Meine Hände zittern. Interessant, so fühlt sich also ein Schock an.
Plötzlich eine Stimme von oben: "Die Fabrik ..."
Der alte Säufer aus dem Siebten fällt fast vom Balkon, so aufgeregt zeigt er in Richtung Seitenstraße. "Die Fabrik brennt! Lichterloh!"
Dann nur noch lallendes Gelächter, das gespenstisch zwischen den Betonfassaden hallt.
Ich laufe los und das stumpfe Sicherheitsglas der Autoscheiben knirscht unter meinen Hausschuhen. Nach wenigen Metern überholt mich Sultan. Am Ende der Seitenstraße endet die Siedlung, auf der T-Kreuzung hat sich eine Menschenmenge gebildet. Hinter Sultan drängele ich mich hindurch, nutze den Platz, den seine knapp drei Zentner hinterlassen, bevor sich die Reihen wieder schließen. Die Menge endet abrupt und wir stehen in der ersten Reihe.
"Wie auf dem Mond", sagt Sultan und zeigt auf die Stelle, auf der gestern Abend noch eine Wiese mit Grillplatz war.
"Wie auf dem Mond", stimme ich zu, außerstande den Mund vollständig zu schließen, und starre auf die Gerölllandschaft, die alles begraben hat. Auch der Sicherheitszaun am Ende des Abhangs steht nicht mehr, an einigen Stellen entdecke ich noch Reste davon unter den Trümmern. Dahinter ist nur noch das Feuer. Alles andere ist auf einer Breite von gut zweihundert Metern verschwunden. Es ist windstill, die Flammen stehen fast regungslos vor dem Nachthimmel.
"Kerzengerade", sage ich, ohne es wirklich zu bemerken.
"Was?", fragt Sultan.
Ich schüttele den Kopf. "Nichts, schon gut."
Ich habe mich nie gefragt, was in der Fabrik hergestellt wurde. Der graue dreistöckige Klotz stand einfach immer da, genauso wie die Schornsteine, die sich wie dürre Finger in den Himmel bohrten. Ich weiß nur, dass sie dem Staat gehörte, und dass nie jemand aus unserer Gegend eingestellt wurde. Was sie dort auch hergestellt haben, es brennt wie Zunder. Und riecht nach verschmortem Plastik.
"Wo bleibt die Feuerwehr?", frage ich irgendwann.
"Kennst doch", sagt Sultan, "die haben es nie so eilig, wenn es bei uns brennt."
Ich schaue mich um und betrachte die weit geöffneten Augen und Mündern im Schein der Flammen. Kaum jemand spricht.
"Meinst du, das war ein Unfall?"
"Woher soll ich das wissen?", sagt Sultan ohne mich anzusehen. "Du liest die vielen Bücher, Eule, nicht ich. Vielleicht hat jemand auf den falschen Knopf gedrückt?"
"Kann auch ein Anschlag gewesen sein", sagt ein dicker Typ im Unterhemd neben mir.
"Ein Anschlag?"
"Ja, ein Anschlag", wiederholt der Dicke, "liest man doch jeden Tag in der Zeitung. Terroristen. Araber und so." Und nach einem Augenblick zu Sultan: "Nichts für ungut, ne?"
"Halt die Fresse, Mann", zischt Sultan. "Ich hab ...", doch weiter kommt er nicht. Es donnert wieder, dieses Mal um ein Vielfaches lauter ...
Hier am Rand der Siedlung kann man im Norden hinter der lang gezogenen Senke mit den schachbrettartig angelegten Feldern, den Fluss, den Hafen mit seinen Kränen und im Hintergrund, alles überragend, alles überstrahlend, die Hochhäuser der Innenstadt sehen. Und die fünf Feuersäulen, die sich in den Nachthimmel brennen. Ich kenne diese Bilder aus dem Fernsehen. Bombeneinschläge.
Als die nächste Salve auf unserer Seite des Flusses einschlägt, bricht Panik aus.
Im Wäschekeller bilden sich schnell kleine Gruppen. Wie Schafsherden drängen sich Landsleute, Freunde und Nachbarn aneinander. In schwierigen Zeiten bleibt man lieber unter sich. Ich sitze etwas abseits, mit dem Rücken zur Wand. Links von mir eine rumänische Großfamilie, rechts von mir Miro, ein Junge aus der Nachbarschaft, mit seinem Onkel, der im selben Haus wohnt wie ich.
Der Raum füllt sich, der Abstand zwischen den Gruppen wird kleiner. Man rückt näher zusammen, Grenzen werden aufgehoben. Als die letzten Plätze auf dem Betonboden belegt sind, steht ein weißhaariger Mann auf und schließt die Kellertür. Den Schlüssel lässt er stecken.
"Ist voll", sagt der Mann und zuckt mit den Schultern. Keiner protestiert. Es ist wirklich kein Platz mehr und die anderen Häuser haben auch Wäschekeller.
Anfangs reden alle wild durcheinander. Die wenigsten Sprachen des Stimmengewirrs verstehe ich. Das ist auch nicht nötig, um zu wissen, worum es geht. Es geht um das warum? Und vor allem um das wer? Einiges stand in den Zeitungen, manches kam auch im Fernsehen, kaum einer hat es ernst genommen. Jetzt sprechen alle darüber - es wird immer lauter in dem langen, schmalen Raum - doch eine Vermutung ist so wahrscheinlich wie die andere, und so drehen sich die Gespräche im Kreis.
Eine kleine Frau mit Kopftuch steht auf und sagt, dass man etwas tun müsse. Immer wieder sagt sie es.
"Man muss doch etwas tun."
Sie schlägt die kurzen, kräftigen Arme über ihrem Kopf zusammen und schaut auffordernd in die Runde. Nur wenige erwidern ihren Blick. Einer fragt, was man denn ihrer Meinung nach tun solle.
"Irgendwas", sagt die kleine Frau. "Irgendwas. Man muss doch etwas tun. Was seid ihr bloß für Menschen?"
Dann bricht ihre Stimme und sie beginnt zu weinen. Der weißhaarige Mann, der die Kellertür abgeschlossen hat, steht auf und legt seinen Arm um die Frau. Ich kann nicht verstehen, was er sagt, aber die kleine Frau beruhigt es. Schließlich kauert sie sich wieder zu den anderen.
Die Dunkelheit kommt schlagartig, für eine Sekunde herrscht absolute Ruhe. Dann aufgeregtes Fragen und Rufen. Die Flamme eines Feuerzeuges, das Klicken des Lichtschalters. Immer wieder. Eine Stimme: "Der Strom ist weg." Eine andere: "Die haben das Kraftwerk zerstört."
Mit dem Licht verschwinden auch die Diskussionen, nur noch wenige flüstern, andere weinen, manche rauchen – Glühwürmer in der Dunkelheit. Die Luft unter der niedrigen Decke zwischen den bunten Plastikleinen wird schwer und dick, Rauch vermischt sich mit Schweiß.
Miro war drüben in der Stadt, als der Angriff begann.
"Alles brennt", sagt der Junge, "alles brennt, Eule. Die ganze Stadt."
Er zählt einige Straßennamen, Orte, Gebäude auf. Manche kenne ich, andere nicht.
"Die schießen alles kaputt, Eule."
Er schaut mich mit großen Augen an, mit dem Blick eines Kindes. Vielleicht würde er häufiger so gucken, würde er in einer anderen Gegend aufwachsen.
"Mach dir keine Sorgen, Miro, hier unten sind wir sicher."
Doch der Junge hat sich schon wieder gefangen. "Ich hab keine Angst, Mann. Ich scheiß auf die Stadt, sollen da ruhig alles kaputt bomben, ist mir scheißegal."
Sein Onkel gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
Für einen Augenblick schweigt Miro, dann erzählt er weiter, welche Straße er mit dem Fahrrad abgefahren ist, bevor er zurück über die Brücke wollte.
"Um zu gucken, was hier so abgeht", sagt er.
Wenn es still ist, hört man draußen die Bomben. Meistens schlagen sie so weit entfernt ein, dass man die Detonation eher erahnt als hört, doch ein-, zweimal rieselt Putz von der Decke. Dann ist es wieder ruhig, bis auf das Gebell der Hunde jenseits der Mauern.
Irgendwann wird alles leiser - die Stimmen, das Weinen, das Donnern - und ich döse ein, den Kopf aufs Knie gelegt.
Miros Stimme weckt mich. "Es hat aufgehört."
Er stupst mich in die Seite. "Ey, Eule, wach auf! Es hat aufgehört."
"Bist du dir sicher?", frage ich, ohne die Augen zu öffnen.
"Ja. Hör doch - es ist still. Schon seit über 'ner halben Stunde."
Ich horche zwischen dem Schnarchen und dem Gemurmel hindurch. "Stimmt."
"Komm", sagt Miro, "wir gehen raus. Nachgucken. Oder hast du Schiss?"
Meine Knie knacken morsch, als ich aufstehe.
Am Ende der Hauptstraße geht die Sonne auf. Für einige Augenblicke finden ihre Strahlen den Weg zwischen Horizont und Wolkendecke, entzünden die tief hängende graue Masse, tauchen alles in ihren rotgelben Schein. Die Welt im Osten brennt, doch das Feuer ist ein anderes als letzte Nacht.
Wir stehen vor dem Hauseingang – Miro und ich – auf der Straße, zwischen den glaslosen Autos, den glaslosen Mauern.
"Riecht voll komisch", sagt Miro.
Der Junge hat recht. Es riecht wie am Neujahrsmorgen. Verbrannt.
Die Sonne steigt höher und verglüht, verblasst zu einer glanzlosen Scheibe, kaum noch vom Mond zu unterscheiden. Ihre Strahlen verschwinden, genauso wie der Zauber des Morgens. Die Welt ist wieder grau, matt, farblos wie auf alten Fotografien.
"Komm, Miro, wir sollten hier nicht so lange rumstehen", sage ich und wir gehen los, der weißen Scheibe entgegen, die schnell hinter den Wolken verschwindet. Drei Seitenstraßen später biegen wir nach links ab. Nach Norden, Richtung Stadt. Das Haus an der Ecke wurde getroffen, die Fassade weggesprengt. Die Wohnungen liegen offen, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer. Wie ein riesiges Puppenhaus.
"Komm", sage ich wieder, "wir müssen weiter."
Es ist ruhig, kein Donner, die Straßen menschenleer. Trotzdem gehe ich am Rand, halb geduckt hinter den geparkten Autos. Alle paar Meter schaue ich über meine Schulter, suche die dunklen Fensteröffnungen ab. Gelegentlich fällt eine Gardine zurück, wenn mein Blick sie streift.
Als ich kurz auf Miro warte, entdecke ich das orangenfarbene Stück Papier vor meinen Füßen. Wie die Werbezettel, die vor dem Supermarkt verteilt werden, um auf Sonderangebote aufmerksam zu machen. Ich weiß nicht, warum ich es aufhebe, vielleicht liegt es an der Farbe. Vielleicht sieht der Zettel auch zu neu aus. Kein Knick, keine Falte, strahlendes Orange auf dem Asphalt, als sei er gerade vom Himmel gefallen. Acht Wörter bilden drei Zeilen. Gerade, schnörkellose Buchstaben, fettgedruckt.
Verlasst die Stadt!
Heute noch!
Wer bleibt, stirbt!
Meine Hände zittern, als ich den Zettel vorsichtig in der Mitte falte und in die Hosentasche stecke.
"Eule, was los?" Miro hat mich eingeholt. "Was hast du da?"
"Nichts. Nur 'nen Zettel."
Ich versuche zu lächeln und jetzt zittern auch meine Lippen.
Fünf Minuten später passieren wir den letzten Wohnblock. Vor uns liegen die Brücke, der Fluss, der Hafen. Dahinter die Stadt, bedeckt von Nebelschwaden aus Asche. Viele Brände sind noch nicht gelöscht, die Rauchsäulen steigen in den Himmel, vermischen sich mit den Wolken. Vor allem im Osten der Stadt, im Industriegebiet. Sonst regt sich nichts. Die Stadt schläft noch. Oder sie stirbt schon. Dort drüben, weit weg, am anderen Ende der Brücke.
Im Hafen sind die Möwen. Große Scharen sitzen auf den Kränen, der Kaimauer, den Anlegern. Die ersten schwingen sich mit spitzen Schreien empor, gleiten schwerelos über dem Wasser, stoßen hinab auf der Jagd nach Fischen.
"Wir sollten wieder zurück. Komm Miro, dein Onkel macht sich bestimmt schon Sorgen", sage ich.
Miro läuft an mir vorbei, ich bleibe noch einen Augenblick stehen. Ein Windstoß fegt über die Brücke, treibt den beißenden Brandgeruch in mein Gesicht, wirbelt die orangenfarbenen Rechtecke auf. Hunderte Zettel, vielleicht Tausende, doch meine Augen tränen zu stark.
Erst als Miro mich ruft, schaffe ich es, mich loszureißen.
Das Einkaufszentrum liegt im Kern der Siedlung, an der Kreuzung der beiden Hauptstraßen. Ein hässlicher Betonklotz in mintgrün und gelb. Wahrscheinlich wollte man etwas Farbe in die Gegend bringen. Das Poster einer Blumenwiese in der Todeszelle hat mal jemand gesagt. Die Aussicht verschönern, bis es endlich so weit ist.
Viermal wurde das Einkaufszentrum geplündert, einmal ist es ausgebrannt. Meist nach Demonstrationen, einmal nachts während eines Stromausfalles.
An diesem bewölkten, schwülen Sommermorgen stehen Soldaten an der Kreuzung und den Eingängen.
Die Schlange der wartenden Menschen reicht bis zur anderen Straßenseite, immer nur eine Handvoll wird auf einmal ins Gebäude gelassen. Im Hintergrund sehe ich gepanzerte Fahrzeuge. Nur auf einem ist ein Wasserwerfer installiert, auf den anderen MGs.
Ob überall Stereoanlagen und Großbildfernseher so gut geschützt werden?
Sultan wartet in meiner Küche. Ich habe die Wohnungstür wohl gestern Nacht nicht abgeschlossen, vielleicht hat Sultan auch einen Generalschlüssel – sein Schwager ist Hausmeister.
"Morgen", sage ich.
"Morgen", antwortet Sultan und er sieht genauso fertig aus, wie ich mich fühle. "Wo warst du gestern?"
"Unten. Im Wäschekeller."
Ich fülle Wasser in die Kaffeemaschine, "willst auch 'nen Kaffee?", und löffle große Haufen in die Filtertüte. "Keinen Kaffee?", frage ich wieder und erst jetzt erinnere ich mich, dass der Strom ausgefallen ist.
"Ach ja ... Scheiße ..."
Sultan grinst, doch das strahlende Weiß und der goldene Schneidezahn verschwinden sofort wieder.
"Hör zu, Eule."
Ich setzte mich zu ihm an den Küchentisch.
"Wir müssen hier weg. Möglichst heute, spätestens morgen."
Ich denke an den Zettel in meiner Hosentasche.
"Meinst du wegen ...", setze ich an, aber Sultan unterbricht mich.
"Warte. Hör mir erst mal nur zu, ja?" Er holt eine Zigarette hervor, zündet sie an. "Gestern, als die scheiß Fabrik hochgegangen ist, bin ich zu meinem Schwager. In seinem Keller steht ein Generator, benzinbetrieben. Frag mich nicht wie, aber er hat damit den Fernseher zum Laufen gebracht und auch 'n Bild rein gekriegt. Irgend 'nen englischen Sender, keine Ahnung welchen, auf allen anderen Kanälen war nur Schneeregen."
Sultan zieht an seiner Zigarette.
"Ja, und?", platzt es aus mir heraus. "Was haben sie gesagt?"
"Alter, du weißt doch, dass ich kein Englisch kann. Mein Schwager auch nicht. Woher auch? Scheiß drauf, pass auf. Ich hab die Karten gesehen, okay? Ganz auf den Kopf gefallen bin ich ja auch nicht. Die Karten hab ich kapiert. Alle großen Städte wurden gestern Nacht bombardiert. Und da war noch so 'n Schaubild mit roten Pfeilen. Spätestens morgen Nacht sind die bei uns."
Er lehnt sich zurück und bläst Rauch Richtung Decke.
Dutzende Frage schwirren durch meinen Kopf, doch das Einzige, was ich heraus bekomme, ist: "Verdammte Scheiße ..."
"Das kannst du wohl laut sagen, mein Freund." Sultan steht auf. "Ich mach ein Auto klar, genug Benzin und 'n paar Vorräte. Heute Abend hole ich dich ab. Hier."
"Und dann?"
"Wir fahren nach Süden. Mit einem bisschen Glück schaffen wir es über die Grenze bis nach", er nennt eine Stadt, die ich nur vom Namen her kenne. "Ich hab da Verwandte, bei denen können wir bleiben, bis ... Bis sich hier alles wieder beruhigt hat, okay?"
"Ja, hört sich gut an ... Aber bist du dir sicher, dass ...?"
"Ja, Mann, ich bin mir scheiße sicher." Seine Stimme wird wieder ruhiger. "Heute Abend, ja?"
Ich nicke.
Sultan drückt die Zigarette auf der Tischplatte aus und geht.
Eine Zeit lang sitze ich noch alleine in der Küche, betrachte die alte Kochzeile, die Fotos an den Wänden, die vergilbte Lampe an der Decke. Irgendwann wird es zu viel, von einem Augenblick auf den anderen. Ich springe auf – der Stuhl schlägt dumpf aufs Linoleum – und laufe raus. Die Wohnung ist mir noch nie so klein vorgekommen.
Die Straßen sind voller Menschen. Überall schlendern sie scheinbar ziellos, stehen in kleinen Gruppen an den Ecken, sitzen auf Bänken und Treppen. Die meisten haben die Nacht wohl in ihren Kellern verbracht, in der Dunkelheit. Jetzt wollen sie nur nach draußen, den Himmel sehen, so wolkenverhangen er auch ist. Trotzdem ist es ruhig, fast gespenstisch still. Niemand ruft, schreit, lacht.
Ich trotte mit dem stillen Strom, grüße flüchtig, bleibe hier und da kurz stehen. Überall müde Gesichtern, leise Worte, kurze Sätze.
Zwei Querstraßen weiter wird es lauter. Ein riesiger Umzug, alles zieht nach Süden; unzählige Taschen und Tüten, Kartons und Kisten, Teile von Schränken, zwei große Tischplatten, ein zusammengerollter Teppich, dann wieder viele Reisetaschen und Koffer, dazwischen eine Frau mit zwei Säuglingen auf dem Arm. Ich folge dem Ameisenstrom der Flüchtlinge. Neben mir versucht ein Mann, zwei voll beladene Einkaufenswagen auf einmal zu schieben. Der linke bricht immer wieder seitlich aus, anscheinend hakt das Vorderrad, und der Mann ist gezwungen, stehen zu bleiben, um den Wagen neu auszurichten. Nach ein paar Metern helfe ich ihm.
"Danke", sagt das stoppelige Gesicht mit der Zahnlücke und überlässt mir einen Einkaufswagen voller Kleidung und Konserven.
"Wohin wollen die ganzen Menschen?", frage ich.
"Du weißt nicht?" Die kleinen Augen mustern mich eindringlich.
Ich schüttele den Kopf. "Nein."
"Djadjuschka Maskaev, du kennst, ja?"
Ich nicke. Jeder kennt Onkel Maskaev.
"Er sagt, 'kommt alle zu mir, ich schütze euch'. Er sagt, alle kommen." Der Mann zuckt mit den Schultern. "Alle kommen", sagt er noch einmal leise und senkt den Kopf.
Schon von Weitem erkenne ich unser Ziel.
Die Fassade erinnert an eine Festung, der Bürgersteig an eine Baustelle. Die Fenster im Erdgeschoss sind mit Metallstücken zugeschweißt, davor wird eine Art Gerüst aufgebaut – anscheinend soll die Arbeit im ersten Stock fortgesetzt werden. Gehwegplatten werden hochgehoben und nach drinnen getragen, ein kleiner Schaufelbagger zieht Gräben.
Die beiden Männer am Hauseingang sehen aus wie Soldaten – groß, kräftig, kahlgeschoren, Camouflagehose und Kampfstiefel.
Der größere der beiden fragt etwas, und mein Begleiter antwortet.
Der Soldat sieht mich an: "I on?"
Das verstehe ich: Und er?
"Moj Drug", sagt mein Begleiter und wir werden durchgewinkt.
Eine Kreissäge heult durch das Treppenhaus, dazwischen Rufe und Hämmern. Holzteile und Gehwegplatten werden in den Keller getragen, ein ständiges Kommen und Gehen.
"Unten", brüllt mein Begleiter über den Lärm hinweg, "sie bauen eine ...", er formt mit den Händen ein Rechteck, "eine Bunker. Wenn du willst, du kannst bleiben."
Ich nicke. "Danke."
"Oleg", sagt er und zeigt auf sich.
"Eule."
"Eule?", fragt Oleg und dreht seinen Kopf weit nach links, danach nach rechts.
"Mmh, Eule."
"Sytsch." Oleg lacht und schlägt mir auf die Schulter.
Gemeinsam tragen wir die Einkaufswagen nach oben in den dritten Stock. Das Treppenhaus ist eng und voller Menschen, es ist heiß und die Einkaufswagen schwer. Als der zweite endlich oben steht, klebt das T-Shirt schweißnass an meiner Brust.
Auch hier stehen Soldaten und weisen den Neuankömmlingen ihren Platz zu.
Die Wohnungstüren sind verschwunden, alle Räume leer geräumt. In ehemaligen Wohn- und Schlafzimmern, in Fluren und Kammern sitzen jetzt Menschen dicht gedrängt auf alten Matratzen, neben ihnen Berge von Habseligkeiten.
Oleg stellt mir seine Frau Theresa vor. Sie wirkt alt und gebrechlich.
"Krank", sagt Oleg und klopft sich auf die linke Brust.
Eine Zeit lang sitzen wir nebeneinander, reden über dies und das, manchmal mit Händen und Füßen. Es tut gut, zu reden, es lenkt ab von dem Tumult um uns herum. Von der Angst und der Ungewissheit.
Theresa holt einen kleinen Gaskocher aus einer der Reisetaschen.
"Du Essen? Mit uns?", fragt Oleg.
Für einen Augenblick habe ich ein Nein, danke auf den Lippen, dann spüre ich das schmerzhafte Grollen in meinem Magen. "Gerne."
Oleg lächelt zufrieden.
Die warme Bohnensuppe treibt mir den Schweiß aus den Poren, doch sie schmeckt gut und stillt den Hunger.
"Wie lange wollt ihr hier bleiben?", frage ich und wische mir übers Gesicht.
"Wie lange? Bis vorbei ist", sagt Oleg.
"Und bis dahin? Was macht ihr bis dahin? Euch hier verstecken?"
Oleg legt seinen Löffel beiseite. "Ja. Die Frauen gehen in Bunker. In Sicherheit."
"Und die Männer?"
"Die Männer? Die Männer kämpfen."
"Kämpfen?"
"Ja, Djadjuschka Maskaev hat Waffen und Sprengstoff. Viele Männer hier kämpfen", sagt Oleg und isst weiter. "Früher schon."
"Ihr könntet fortgehen. Noch ist es nicht zu spät."
"Njet", Oleg verzieht das Gesicht. "Wir bleiben. Bei uns gibt es Sprichwort. Alte Bäume wurzeln nicht neu. Verstehst du?"
Nach dem Essen verabschiede ich mich. Als Oleg mich fragt, ob ich zurückkomme, nicke ich.
Die Schatten werden bereits länger, die Straßen leerer. Ich gehe Umwege, biege mal links, mal rechts ab, um Zeit zu gewinnen. Trotzdem komme ich irgendwann zu Hause an.
Ich habe mal gehört, dass bei einem Feuer die meisten Menschen zuerst ihre Fotoalben retten. Damals habe ich darüber gelacht. Fotos.
Jetzt sammele ich alte Aufnahmen zusammen und stecke sie in ein Seitenfach der Sporttasche, damit sie nicht zerknicken. Ich packe noch etwas Kleidung ein und gehe ratlos auf und ab. So viele Dinge, die ich mitnehmen will, so wenig Platz. Ich sollte wirklich nur das Nötigste einpacken, es ist ja auch nicht für lange.
Nachdem ich den spärlichen Inhalt meines Medizinschrankes in die Sporttasche gekippt habe, gehe ich los. Vielleicht das erste Mal seit ich hier wohne, achte ich bewusst darauf, die Wohnungstür abzuschließen. Auch wenn es wahrscheinlich noch nie so wenig Sinn gemacht hat.
Ein gelber Kleinwagen hält neben mir. Auf der Rückbank sitzen drei Typen, vorne Sultan, auf der Hutablage stapelt sich Gepäck. Die Federung ächzt, als Sultan sich aus dem Fahrerfenster lehnt.
"Ey Eule, wo warst du? Ich hab dich schon überall gesucht, Alter."
"Draußen, bin Spazieren gegangen."
"Spazieren gegangen? Klar, warum nicht?", sagt Sultan. "Und? Was ist jetzt? Steig ein, wir wollen los. Wird bald dunkel."
"Ich glaube ... Ich glaube, ich bleibe hier."
"Was meinst du? Haben sie dir ins Hirn geschissen? Wo willst du denn hin?"
"Ich weiß es nicht ..."
"Und warum willst du dann hier bleiben?"
"Ich weiß es nicht ..."
Vielleicht liegt es daran, dass bleiben meist einfacher ist als gehen. So wie es leichter ist, etwas sein zu lassen, anstatt etwas zu tun. Vielleicht ist es auch genau das Gegenteil, dass schon viel zu lange nichts unternommen wurde.
"Ich weiß es wirklich nicht", sage ich wieder.
"Alter, du weißt aber ganz schön wenig."
"Ja ..." Das stimmt.
"Komm schon, steigst jetzt ein und gut ist."
"Scheiß drauf, lass ihn doch", sagt einer von der Rückbank.
"Du hältst die Fresse, verstanden?", sagt Sultan, ohne sich umzudrehen, "sonst kannst du gleich hier bleiben." Und nach einer kurzen Pause: "Eule, komm jetzt, steig ein."
"Nein, wirklich nicht ... Trotzdem danke."
"Musst du selber wissen", Sultan zuckt mit den Schultern, die Federung ächzt.
"Wir sehen uns, ja?"
"Ja, klar. Pass auf dich auf."
Die Reifen quietschen. Ich sehe dem Wagen nach, bis er abbiegt.
Ich habe ja gesagt, als sie mich gefragt haben, ob ich schon einmal geschossen hätte.
Ich weiß nicht, wie das Gewehr in meinen Händen heißt, aber es ist schwerer als ich dachte.
"Alles ganz einfach", hat einer von Maskaevs Leuten gesagt. "Wahrscheinlich musst du gar nicht schießen und wenn doch, dann Kimme, Korn, Abzug. Alles ganz einfach, ja?"
Und wieder habe ich ja gesagt.
Jetzt sitze ich mit dem Rücken an der Balkonbrüstung und kaue auf meiner Unterlippe. Der Mann neben mir heißt Sergej. Wir sind ungefähr im selben Alter, ich glaube, ich kenne ihn vom Sehen. Auf Sergejs Schoß liegt eine Panzerfaust. Er sagt, er habe schon einmal mit einer geschossen - früher. Wann und wo genau, verrät er nicht. Er raucht viel und murmelt Worte, die ich nicht verstehe. Wie ein Gebet. Wahrscheinlich hat er genauso viel Angst wie ich. Vielleicht ist die Angst auch noch schlimmer, wenn man das alles schon einmal erlebt hat.
Abwechselnd späht einer von uns über die Balkonbrüstung in Richtung der schwarzen Wiesen und Felder. Einmal sehe ich eine Zigarettenglut auf einem Balkon vier Hauseingänge weiter links. Manchmal döse ich kurz ein und schrecke gleich wieder auf. Sergej sitzt in der Ecke und raucht.
"Wenn es erst einmal Morgen ist", sagt er irgendwann. "Dann haben wir's geschafft. Am Tag werden sie nicht angreifen."
Zuerst sehe ich nur die grauen Staubwolken in der Dunkelheit. Dann erkenne ich die grauen Blöcke, die sich langsam vorwärts schieben. Wie Schildkröten am Strand.
"Morgen?", frage ich. "Morgen, das ist weit weg."