Gagarin sehen
Es ist Herbst und das weiss ich, weil ich es riechen kann. Schlag auf Schlag zieht Bild um Bild vergangener Herbste meines Lebens an meinem inneren Auge vorüber.
Am liebsten ist mir das Kartoffelfeld vor dem Garten meiner Oma auf dem Dorf. Die Sonne macht sich just auf den Weg, hinter dem Horizont zu versinken. Der Duft von lehmiger Erde und der Rauch aus den Schornsteinen verleihen dem Abendrot eine ganz besondere Atmosphäre der Unbeschwertheit und laden zum Innehalten ein. Harmonisch vervollkommnen erste bereits orange verfärbte Blätter an diesem Septembertag die Umgebung.
Ein schwarzer Schwarm Krähen, durch eine Kleinigkeit aufgescheucht, wirbelt durch die Äste der Birken am Feldrain, zankt sich in der Luft und lässt sich wieder in den Baumwipfeln nieder. Ich frage mich immer, wie so dünne Zweige so grosse Vögel tragen können, ohne zu brechen.
Beherzt greife ich zur Hacke und grabe weiter Kartoffeln aus dem Boden. Kalt ist es geworden, denke ich.
Gagarin sehen
Die lange und beschwerliche Reise in mein Zimmer auf dem Dachboden ist geprägt von Abenteuern und Anekdoten einer heute längst vergessenen Epoche. Früher wohnte meine Mutter hier. Jetzt wohne ich hier, wenn ich bei meiner Grossmutter zu Besuch bin. Oder wohne. Letzteres trifft es um Längen besser.
Den Sommer über wohne ich bei meiner Oma. Weil ich es dort schön finde und weil ich meinen Stiefvater nicht leiden kann.
Da ich über die Vergangenheit im Präsens schreibe, müsste ich über die Gegenwart im Futur schreiben. Das alles ist nämlich schon zwanzig Jahre her. Und der Begriff Zukunft hatte da für mich noch keine Bedeutung. Umso mehr hat sie heute die Vergangenheit.
Ich bin also acht Jahre alt und steige die Treppe von der Küche hinauf unters Dach.
Die Stiege muss man sich als einen schmalen Gang vorstellen, fahl durch eine nackte Glühbirne beleuchtet, die Wand zur Linken mit einer orangegemusterten Siebzigerjahretapete beklebt, die Rechte mit vergilbten, einstmals weiss getrichenen und nunmehr wurmstichigen Holzbrettern bedeckt. Aber da ist noch etwas, was mir jedesmal das Gefühl gibt, über den Himmel hinaus bis ins Weltall zu steigen: Juri Gagarin, der erste Mensch im Raum da draussen. Nebst einigen Bildern aus Zeitschriften mit Menschen, die ich nicht kenne und Musikgruppen, für die ich mich wohl nie mehr interessieren werde, prangt dort ein grosses Foto, ein Poster von Juri Gagarin. Jeden Abend winkt er mir aus seinem Raumanzug mit der ganzen Erde im Rücken freundlich zu, gleichsam, als wünsche er mir für meine Träume kosmische Transzendenz.
Gute Reise, lieber Juri, winke ich zurück und öffne die Tür zu meinem Dachzimmer, wo mir frische, kalte Luft entgegenschlägt, weil Grossmutter hier oben den alten Kanonenofen noch nicht anheizt zu dieser Jahreszeit. Ich freue mich auf mein kuscheliges Federbett und auf Teddy, Struppi und Biene Maja, die dort auf mich warten, wie jede Nacht. Leicht fröstelnd blicke ich noch einen Moment aus dem Fenster am Dachfirst auf die Eisenbahnschienen, die vor dem Garten entlanglaufen und verhalte mich ganz still. Wenn man etwas wartet, kann man von den Telefondrähten, die neben dem Fenster am Haus enden, manchmal leise und geisterhaft Stimmen vernehmen.
Meine Oma ist eine der wenigen im Ort, die bereits über einen Fernsprecher verfügen.
Heute höre ich nichts, nur Insekten, die wegen des Lichts im Inneren gegen das Fenster prallen.
Woher es gekommen ist, weiss ich nicht. Es ist irgendwann einfach dagewesen. Also nehme ich es mir heute und lese darin. Ein Buch, Abenteurer im Weltall. Eine Sammlung von Kurzgeschichten, Taschenbuch, Paperback, wie man so neudeutsch sagt. Auf dunklem, blauen Grund starrt mich ein seltsames Auge an, direkt neben einem grossen, runden, käsegelben Planeten. Eigentlich kenne ich sie alle mittlerweile auswendig, die Geschichten, doch ich folge ihnen immer wieder gern auf ihre eigenen kleinen Reisen in unbekannte Welten, die ich praktisch zu lieben gelernt habe.
Irgendwann strecke ich meinen Arm weit unter der Bettdecke hervor und schalte die Nachttischlampe aus. Jetzt höre ich die Stimmen von den Telefondrähten, doch sie machen mir Angst. Wer telefoniert denn um diese Zeit noch?
Die Stimmen machen mir Angst, denn die letzte Geschichte, die ich im Buch gelesen habe, handelte von einem Telefontechniker, der eines Tages auf einem Mast eine gerissene Leitung zu reparieren hatte. Um zu überprüfen, ob die Reparatur erfolgreich war, führte er einen Hörer mit sich, den er an den Verteilerkasten am Fusse des Mastes anklemmen konnte. Normalerweise war nach dem Anschliessen die nächstliegende Vermittlungsstelle am Apparat, doch dieses Mal war es anders. Er sprach mit sich selbst am anderen Ende. Er sprach mit sich selbst, nur befand sich sein Gesprächspartner in der Zukunft. Der Protagonist konnte das zuerst natürlich nicht glauben, und so stellte er eine Testfrage nach der Titelzeile der Zeitung des nächsten Tages. Am nächsten Morgen las er genau diese Titelzeile bei der Frühstückslektüre. Schockiert und erstaunt machte er sich auf den Weg, eine weitere Telefonleitung zu reparieren. Das Spiel wiederholte sich. Erneut sprach er mit seinem Alter Ego aus der Zukunft, dieses Mal schlauer, fragte er nach den Wettergebnissen für die lokalen Pferderennen, obwohl er sich noch nie für Pferde interessierte hatte. Diese Angaben stimmten ebenfalls. Nach einigen Tagen dann hoffte er auf den grossen Gewinn mit den Lottozahlen der nächsten Ziehung, und als er die nächste Leitung repariert hatte sprach er wieder mit seinem Alter Ego, doch dieses Mal in der Vergangenheit.
Darum kann ich nun nicht einschlafen.
Mir ist diese Geschichte bis gerade eben auch unbekannt gewesen, gleichwie, ich hätte sie wohl immer überblättert, was durchaus möglich sein kann.
Nach einer Weile des Hinundherwälzens im Bett falle ich dann doch wohlbehütet von Biene Maja, Teddy und Struppi in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Das wäre nun, zwanzig Jahre später, nicht weiter schlimm gewesen. Ich habe diesen einen Abend auch völlig vergessen, bis ich heute die erste Herbstluft schnuppere und mir das Buch wieder in die Hände fällt: Ich suche die Geschichte mit dem Telefonmann. Aber sie ist einfach nicht da. Ich schlage Seite für Seite sorgfältig um, überfliege jeden Text. Die Geschichte ist nicht da.
Und dann fällt mir auf: Juri Gagarin hat seine Raumkapsel während des einhundertachtminütigen Fluges nie verlassen. Wie kann er mir jede Nacht aus dem Weltall mit der Erde im Rücken schwerelos zugewunken haben?
Meine Oma weilt nicht mehr unter uns, das Haus steht nicht mehr und meine Mutter kann sich nicht so genau erinnern. Sie behauptet, es sei Sigmund Jähn auf dem Poster gewesen.