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Geboren zweiundachtzig, Sternzeichen Wassermann
„Das Herz von St. Pauli, dat is‘ meine Heimat – in Hamborch, da bünn ick to hus...“
In Hamburg, da bin ich zu Haus.
Meine Kindheit verbrachte ich nicht in seinem Herzen, sondern zwischen Flughafen und Friedhof. Bei gutem Wetter donnerten die Maschinen direkt über unsere Zwanziger-Jahre-Mietswohnung.
In Hamburg bin ich tief verwurzelt. Hier habe ich meine Freunde.
Aber die Wurzeln meiner Zuneigung liegen tiefer.
Verborgen im Sand meiner Kindheit.
Die frühen achtziger Jahre. Mit „Fred vom Jupiter“ im Radio. Hamburg galt noch als Topadresse im Fußball. Hier gab es die ersten Hardcore-Punks. Und ab Mitte der achtziger Jahre gab Krieg um die Hafenstraße.
In meinem Stadtteil lebte man wie in einem Dorf.
Zwar kannte nicht jeder jeden. Aber was man wußte, reichte als Gesprächsstoff aus.
Zuguterletzt konnte man immer noch abschätzig starren.
Sich über „ungehöriges“ Verhalten oder „schreckliche“ Frisuren aufregen. In meinem Stadtteil lebten überdurchschnittlich viele alte Menschen.
Als ich ein Kind war, sind meine Eltern viel mit mir herumgefahren.
Erst nach Kiel oder Lübeck. Oder einfach an die Elbe. Ich war mit meinem Vater auf dem Fischmarkt.
Wir sind auch viel verreist. Auf die Balearen. Nicht nach Mallorca. Sondern nach Menorca. Nach Dänemark. Oder Italien. Zweimal waren wir auf Ägäis-Inseln, einmal in der Türkei. Einmal auch in Frankreich.
Nur einmal waren wir nicht an der See im Urlaub.
Es gab viele reiche Menschen in meinem Stadtteil.
Das stimmt zwar nicht wirklich. Für viele ist diese Aussage aber sehr wichtig. Man bemühte sich um den Schein. Man ackerte um Statussymbole. Reisen. Autos. Besser gekleidet sein als der andere.
Oder besser gesagt: ordentlicher.
Wir Kinder spielten in der Sandkiste. Wir vertrieben die „anderen“ Kinder. Kinder aus der Siedlung. Wir schimpften sie „Asis“. Unsere Welt bildete die der Eltern ab. Wir spielten ihre Verhältnisse. Wir nahmen ihre Positionen ein. Sogen sie auf in unser Unterbewußtsein. Ich hatte wenig zu lachen. Wir spielten mit Spinnen und Käfern.
Der Despotismus kleiner Kinder.
Helmut Kohl war Kanzler. 1986 das Jahr von Tschernobyl. Wir durften nicht mehr in der Sandkiste spielen.
Mein Stadtteil ist kinderfeindlich.
Meine Mutter erzählte mir, es habe einmal ein Kino gegeben. Dort, wo heute der Penny-Markt steht.
Die Läden machten von zwölf bis drei Uhr zu. Bei uns auf dem Innenhof mußte Mittagsruhe gehalten werden.
Wir waren in der Nachbarschaft eine Rasselbande von acht bis neun Kindern. Trotzdem waren wir allgemein ein geburtenschwacher Jahrgang. Selten, aber gut. Eher selten gut. Eher nicht gut.
Erst stand ich abseits. Dann rückte ich in den Mittelpunkt.
Ich glaube, jedes Kind wünscht sich Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ich bekam Aufmerksamkeit. Mehr als mir lieb war.
Alle Qualitäten eines richtige Jungen fehlten mir.
Ich konnte weder klettern noch sprinten. Und auch nicht richtig Bolzen. Wir spielten im Innenhof. Unter den mißbilligenden Blicken der Nachbarn. Die Teppichklopfstange als Tor. Wir spielten, bis der Rasen auf Jahre hinaus geschädigt war. Warfen Schlacke achtlos weg. Brüllten und tobten. Schlugen uns. Vertrugen uns. Trotzten dem Sandmann die Stunden der Sommerabende ab.
Im Kindergarten der lutherischen Kirchengemeinde flossen meine Tränen.
Es trieb mich schon immer ans Wasser. Als ich ein Kleinkind war, sagt meine Mutter, mußte sie mich immer vom Wasser wegziehen. Ich habe schon früh schwimmen gelernt. Wind und Sand. Kaltes, klares Wasser. Ruhe. Weite.
Verwegene Gesellen. Wenn ich an der See war, war ich frei. Hier hatte ich meinen Frieden. Hier konnte ich ein Held sein. Oder die Mädchen aus der Ferne anschmachten. Während mein bleicher Körper in der Sonne verbrannte. Störtebeker wurde mir zum Vorbild, das Sternzeichen des Wassermannes zum Adelsprädikat.
Am Friedhof gab es ein Schwimmbad. Meine Eltern brachten mich dazu, einzutreten.
Man erzählte mir, einer meiner Großväter läge auf dem Friedhof.
Ich kam auf die Grundschule. Ich fand Freunde. Gemeinsam flogen wir aus der Kinderkirchengruppe. Wir rannten vor den Schülern der Sprachheilschule davon. Wir fühlten uns verwegen, wenn wir während der Pause beim Krämerladen Sammelbilder kauften. Ich wechselte vom Schwimmsport zum Handball.
Ich fand heraus, das es falsche Freunde waren, und trennte mich von ihnen.
Ich sollte ans Gymnasium. Obwohl ich ein „Problemkind“ war. Wieder lachte man über mich.
Wir fuhren wieder viel umher. Zum psychomotorischen Turnen oder nach Schwarzenbek zur Hörkur. Ich litt wegen der Anderen. Ich entfremdete mich von ihnen. Wurde stumm und aggressiv. Ging in mir selbst auf wie ein Segel im Wind. Erging mich in Rachegedanken.
Ich wurde zum Rebell. Das Luftzeichen, der Luftikus, forderte seinen Tribut. Man erkannte mich an. Ich versöhnte mich mit meinen „Peinigern“.
Wir trieben uns viel auf dem Schrottplatz herum. Einmal entkamen wir nur knapp. Die Kinder aus der Siedlung bewarfen uns mit Steinen und Flaschen.
Wir fingen an zu taggen und zu sprühen. Schon in Klasse fünf war keine Wand vor uns sicher. Der Außenseiter unserer Gruppe übertrieb. Der Schulleiter ließ uns saubermachen und sagte: „Euch müßte man eigentlich die Hammelbeine langziehen!“
Ich war unglücklich verliebt. Eigentlich habe ich mich noch nie glücklich verliebt. Dies aber war die schmerzhafteste von allen. Ich dachte einen ganzen Sommer lang nur an SIE und hatte jeden Tag Schmerzen vor Sehnsucht.
Das Herz von St. Pauli wurde meine Heimat.
Wir blieben immer öfter immer länger von zu Hause weg. Wir haben gesoffen, gekifft und haben im Alsterpark Mülleimer angezündet.
Aber das gehört hier schon nicht mehr hin.
Geendet hatte meine Kindheit bereits in der achten Klasse, als man zu Bauen anfing.
Die Kreuzung, an der ich wohne, veränderte sich total. Der Schrottplatz wurde einem Business-Park geopfert. Die Veränderungen dauern an. Die gegenüberliegende Häuserzeile ist fast vollständig abgerissen worden. Die soziale Zusammensetzung verändert sich, die Möchtegerns rutschen auf der sozialen Leiter aus und ab. Ihre Taktik, auf den Rücken der anderen fest stehen zu wollen, ist nicht aufgegangen.
Everything changes.
Ich habe mein Abitur und werde meine Zelte bald abbrechen. This was the reminissence to my childhood.