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Gebremste Nähe

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16.08.2003
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Gebremste Nähe

Er steht hinter Lara, ganz dicht. Zu weit entfernt, um sie zu berühren. Nah genug bei ihr, dass sie ihn dennoch fühlt, seine ausstrahlende Präsenz ihren Körper in Schwingungen versetzt. Sein heißer Atem kitzelt wie ein Luftzug in ihrem Nacken und durchfährt verspielt ihre weichen, nach Frühling duftenden Locken. Das Glas der Ausstellungstafel spiegelt die Umrisse seines maskulinen Körpers schemenhaft wieder. Lara sieht die zögerliche Bewegung seines rechten Arms bereits eine Sekunde bevor seine Hand sich zaghaft auf ihre Schulter legt. Die dazugehörigen Fingerspitzen gleiten ihren Arm behutsam herunter und verteilen Stromschläge. Sie erschaudert. Nicht genug Zeit, um nachzudenken. Ihr Kopf ist schon im Stand-By-Modus, seit er sie vor dem Museum empfangen hatte. Ihr Körper hat bereits begonnen, sich zu der lange nicht gehörten und nie vergessenen Melodie zu wiegen. Seine Nähe ist so greifbar und so unmittelbar, wie sie in all den Jahren die sie sich jetzt kennen nie gewesen ist. Sie gibt ihr nach und lehnt sich sachte gegen seine Brust. Nun kann sie ihn auch riechen, die Nase nur wenige Zentimeter von seinem frisch rasierten Kinn entfernt. Männlich-herb und berauschend verführerisch. Sie registriert, wie er auf ihre Berührung antwortet, und genießt es. Wie lange hat sie niemanden mehr auf diese Art und Weise bei sich gespürt? Ein Kribbeln durchfährt Lara von Kopf bis Fuß, als wanderten seine Hände über ihre Beine, ihren Rücken, ihr Gesicht, und würden nicht immer noch zurückhaltend auf ihrem Arm ruhen. So, genau so sollte es bleiben für immer. Vor ihr „Die Liebenden“ von Chagall, hinter ihr ein Mann, der sie schon lange liebte und sie eindeutig begehrte. Und sie ihn auch.

Eine Stunde später sitzt Lara auf ihrem Fahrrad und beeilt sich, die Kunsthalle hinter sich zu lassen. Ihre Beine bringen durch das mechanische Treten der Pedale auch den Kopf wieder in Gang. Die kühle Luft tut ihr übriges, um die magische Stimmung des Nachmittags auszulöschen. „Soll ich Dich noch ein Stück begleiten?“, hatte er sie hoffnungsvoll gefragt, als er ihr an der Garderobe vorsichtig in die Jacke geholfen und ihren widerspenstigen Zopf behutsam aus der Kapuze gelöst hatte. „Lass mal“, hatte sie etwas zu hastig abgelehnt, „ich muss auf dem Heimweg noch etwas erledigen.“ Konfus und überstürzt hatte sie nach einer knappen Verabschiedung das Foyer verlassen und war nach draußen gestürzt.

Jeder Tritt in die Pedale ist Ausdruck ihrer Aggression. Während der gesamten Ausstellung hatte sie falsche Signale ausgesandt, wieder einmal. Ihr Verstand weiß, dass sie das nicht hätte tun sollen. Aber erneut konnte er mit der schnellen Reaktion ihres Körpers nicht mithalten. Das war ihm gegenüber nicht fair. Zur Strafe geht es den Berg hoch in ungedrosseltem Tempo. Sie ist so ausgehungert. Eine kleine Berührung reicht aus, damit sie die Bodenhaftung verliert. Unfähig, aus eigener Initiative Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen, hat sie seine Annäherung wie eine Verdurstende empfangen. Einen Tritt für ihre Sehnsucht, ihre Sehnsucht nach körperlicher Verbundenheit, nach Liebkosung, nach Haut. Sie lechzt förmlich danach. Er war bereit ihr all das zu geben. Doch sie liebt ihn nicht. Lara steigert die Geschwindigkeit und schaltet einen Gang höher, um sich zu quälen. Sie hat es nicht besser verdient. Eine kleine Dosis der Droge Aufmerksamkeit, des Rauschsgifts Zärtlichkeit, und sie vergisst all ihre Vorbehalte. Einen Tritt für ihre Schwäche, dafür dass sie fasziniert an seinen Lippen gehangen hat während seiner Ausführungen über den französischen Kubismus. Sie ist dahin geschmolzen unter seinem interessierten Blick, hat sich im Meer seiner neuen und gleichzeitig vertrauten Zuneigung geaalt und förmlich körperlich gespürt, wie er sie aufgerichtet und ihren Blick gen Himmel gewiesen hat. Doch sie liebt ihn nicht. Sie trampelt und trampelt, Meter um Meter, schaltet die Gänge hoch, bis sie durchgeschwitzt zuhause ankommt. Ihre Lust konnte sie sich nicht aus dem Leib treten.

Als sie in der Badewanne liegt und leise Balladen aus der Stereoanlage klingen, bringt die wohlige Wärme endlich die ersehnte Befreiung. Dennoch dringt die körperliche Entspannung nicht in ihr Inneres vor. Der Schwamm dient ihr als Medium, um sich zu peinigen, sich zu bestrafen für die Gelöstheit ihres Leibes. Ihre rote Haut zeugt schon bald von ihren Schmerzen, die nur unzureichend die inneren Leiden widerspiegeln. Warum kann sie ihn nicht lieben und sich damit endlich von diesem Fluch erlösen? Ihn einfach nur lieben. Wenn sie, das brave, rationale Mädchen, sich auf seine Annäherungen einlässt, dann nur, weil sie für ihn wahre, tiefe Gefühle empfindet – davon würde er ausgehen. Alles andere würde ihn vernichten, den zahlreichen Wunden eine weitere hinzufügen.

Nachdem Lara den Schwamm bereits seit einigen Minuten beiseite gelegt hat, schläft sie im erkalteten Wasser nahezu erschöpft ein. Wenig später wird sie durch ihr Handy aufgeschreckt, das ihr mitteilt, dass sie eine Nachricht empfangen hat. Müde steigt sie aus der Badewanne und wickelt sich das viel zu weiche Handtuch locker um ihren enthaltsamen Körper. Auf dem Weg ins Wohnzimmer hinterlassen ihre Haare Tropfen wie Tränen auf dem gesaugten Teppich.
„Der Tag mit Dir war wunderschön. Ich freu mich darauf, Dich bald wieder zu sehen. Was machst Du übermorgen Abend? Lust auf Kino? Schlaf schön und träum von mir!“ Wenige Stunden später wird er seine überschäumende Liebenswürdigkeit auch auf ihren Anrufbeantworter und ihren Posteingang gerichtet und damit ungewollt ihre Qualen noch verstärkt haben. Täte er es nicht, würde sie es schmerzlich vermissen, süchtig nach Aufmerksamkeit.

Lara zwingt sich, an diesem Abend ohne Essen zu Bett zu gehen. In der Nacht liegt sie weinend im Bett und hofft, auch am nächsten Tag noch stark genug zu sein.

 

Hi Elisha,

da hast du ja was gefunden, ganz schön alte Geschichte...

Danke auf jeden Fall fürs Lesen und deine Anmerkungen. Wahrscheinlich will sie nicht nur ihn schützen, sondern auch sich selbst. Und nein, einfach ist das wohl wirklich nicht.

Liebe Grüße
Juschi

 

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