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Gebrochenes Brot

Team-Bossy a.D.
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23.02.2005
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Gebrochenes Brot

„Mist, wieso habe ich keine Sonnenbrille mitgenommen“, murmelte Annette. Wir saßen an der Promenade und jede von uns hatte einen großen Salatteller vor sich stehen. Die Sonne stand so tief, dass die Strahlen in die Augen stachen, wenn wir auf den See blickten.
Gleichzeitig griffen wir nach der letzten Scheibe Brot im Korb. Unsere Augen trafen sich.
„Wir teilen“, bestimmte sie.
Sie gab mir ein Stück der Scheibe. Kurz betrachtete ich ihre und meine Hälfte. Schweigend aßen wir weiter und meine Gedanken führten mich in die Küche, in der ich groß geworden bin.

Das fast alltägliche Ritual hatte damit begonnen, dass ich den Krug mit der Aufschrift: „Trink in Stein den Wein“ in die Hand gedrückt bekommen hatte, um ihn zu füllen.
Es war abends und der Hunger trieb mich dazu, mit meinem Großvater zu vespern. Der Rest der Familie würde wie gewöhnlich später essen.
Ich blieb jedes Mal auf der obersten Stufe der Kellertreppe stehen. Wärme kam mir entgegen und ich sog mit der Nase die Luft ein, die ich so mochte. Die immerfeuchten Eichenstufen, der Lehmboden und der leichte Hauch von Wein ergaben ein moderiges, süßes Gemisch.
Aber ich durfte nicht zu lange verweilen, da er mit seiner blauen Arbeitshose und dem karierten Hemd bekleidet mit dem noch leeren Glas schon ungeduldig am Tisch saß. Routiniert füllte ich den Krug und ging zu ihm in die Küche zurück.
Seine Haare waren ähnlich grau wie sein Vesperbrett, auf dem ein Stück magerer Speck, eine Scheibe Brot und eine Essiggurke lag. Den Krug stellte ich neben das Glas.
Während er sich den Wein bis an den Rand einschenkte, konnte ich trotz kurzgeschnittener Fingernägel Erde vom Kartoffelsortieren unter ihnen entdecken. Die Finger waren kurz und kräftig; einige tiefe Schrunden und noch mehr faltige Haut ließen sein Alter erkennen.
Das Gesicht dagegen wirkte frisch. Wache blaue Augen blickten musternd in die Welt. Er legte großen Wert darauf, immer gut rasiert zu sein und besuchte regelmäßig den Friseur, der ihm den grauen Kranz akkurat kurz hielt.

Oft bestand unsere Unterhaltung während des Essens nur aus Anweisungen, die er mir gab.
Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einen von uns Enkeln in den Arm genommen hat. Nicht einmal mich als einziges Mädchen. Er besaß keinen Schaukelstuhl, noch rauchte er. Sein Tagesablauf wurde von Garten- und Feldarbeit und dem Besuch von Gesangvereinsproben und Gottesdiensten bestimmt. Es war Gottes Wille, sagte er mir einmal, dass ich Oma nie kennen lernen konnte.

Er trennte mit einem scharfen Messer sorgfältig die Schwarte vom Speck und schnitt ihn in dünne Scheiben. Bei jedem Bissen hörte ich das leise Klacken seiner Zahnprothesen.
Ich schmierte mir ein großes Leberwurstbrot, fischte mit einer Gabel eine Essiggurke aus dem hohen Weckglas und ließ es mir schmecken.
Noch so eine große Scheibe war zuviel, aber eine halbe würde ich noch schaffen. Ich legte das frische Bauernbrot auf mein Vesperbrett und schnitt es exakt in der Mitte durch. Die eine Hälfte legte ich in den Brotkorb zurück.

Satt war mein Großvaters auch noch nicht, so dass er in den Brotkorb griff und die halbe Scheibe herausnahm.
Er breitete seine Hand aus, so dass das Brot flach auf ihr lag.
„Maidle“, - er sprach mich nie mit meinem Namen an – „du musst das Brot brechen“. Er streckte es mir entgegen. „Wieso denn das?“, fragte ich mit einer Mischung aus Verwunderung und Genervtheit. „Das ist eine schöne Geste für den nächsten, der sich die andere Hälfte nimmt “, gab er als Antwort.

Nun schaute ich ihm in die Augen. „In russischer Gefangenschaft bekamen wir oft ein, zwei Tage lang nichts zu essen. Dann gab es wieder einmal eine Scheibe Brot, die konnte man so zusammendrücken, dass nur noch ein kleines Häufchen übrig war.“ Er zeigte mit seinem rechten Daumen und Zeigefinger einen Spalt, in dem mein Kinderdaumen kaum Platz gefunden hätte.

„Oft gab es eine Scheibe Brot für zwei“, fuhr er fort, „Wilfried und ich teilten jedes Mal.“ Wilfried kam immer vor, wenn er die wenigen Male über die Zeit in Russland erzählte.

„Immer abwechselnd brach einer das Brot. Du wirst nie schaffen, es genau in der Mitte auseinanderzubekommen. Aber immer gab der Brechende dem anderen das größere Stück, obwohl der Hunger nicht zu beschreiben war.“ Er hielt nach seinen ungewohnt vielen Worte an mich inne und nahm einen Schluck von seinem Fasswein. Dann kam der letzte Satz für den Rest der Essenszeit. „Wilfried war mein Freund.“


Ich hörte Annette seufzen: „Mhmm ... das war lecker.“ „Ja“, stimmte ich ihr zu, „hier können wir wieder einmal herkommen.“ Mit zusammengekniffenen Augen beobachteten wir ein schönes altes Segelboot. Ich legte meine Hand auf ihren Unterarm und sagte: „Dass du mir die größere Hälfte der Scheibe gegeben hast, ist mir aufgefallen“. Sie nahm ihre freie Hand und streichelte meine auf ihrem Arm.

 

hi neph,

freut mich sehr, dass dir die Geschichte auch gefallen hat :).

 

Hi bernadette,

meinen Vorrednern kann ich nicht mehr viel hinzufügen: Eine plastisch geschilderte Momentaufnahme aus Deinem Leben, mehr eine Erinnerung als eine Geschichte, aber man bemerkt bereits an der Art, wie Du erzählst, dass dieser Moment in all seinen Facetten in Dich eingedrungen ist. Es ist gut, wenn mal alle diese Dinge zu Papier bringen kann!

lieben Gruß,

sarpenta

 

Hi sarpenta,

danke für deine Worte. Vielleicht ist das ein später Gruß an einen, dem man zeitlebens nicht entgegenkommen konnte.

Liebe Grüße
ber

 

Hi bernadette

Eine kurze Geschichte impliziert einen kurzen Kommentar ;)

Wirklich ein schönes Bild, das du da gemalt hast. Wie einer meiner Vorredner bbereist sagte: keine Hektik, nichts Aufregendes, dafür viel Wärme und Emotion. In erster Linie erfüllt der Text ja seine Funktion, und erinnert und/oder versöhnt dich mit deinem eigenen Großvater.
Ich habe leider sogut wie keine Erinnerungen mehr an diese (waren sowieso zu jung für den Krieg gewesen), somit ruft der Text bei mir auch keinen so großen Aha-Effekt hervor wie bei anderen. Dennoch: Gut gemacht :thumbsup:

Zwei Teststellen:

Routiniert füllte ich den Krug voll
auf das "voll" kanst du mE verzichten.

; jener grub mit Großvater schon im Sand, lange bevor es an die Schützengräben ging.
Das ist ein Satzteil, der - so schön er auch geschrieben ist - nicht hineinpasst, weil er das Bild vom Kind und den Opa, durch eines von zwei Babys und einen Sandkasten ersetzt. Würd ihn streichen.


Grüße
Hagen

 

Hallo Hagen,

auf das "voll" kanst du mE verzichten.

stimmt

Das ist ein Satzteil, der - so schön er auch geschrieben ist - nicht hineinpasst, weil er das Bild vom Kind und den Opa, durch eines von zwei Babys und einen Sandkasten ersetzt. Würd ihn streichen.

Da hast du auch recht.


Dank' dir für die lieben Worte :).

bernadette

 

Hallo bernadette,

eine sympathische, ruhige Geschichte, die davon lebt, dass ein Erlebnis (das des Großvaters) aus Kriegszeiten plötzlich wieder Relevanz hat, als sich die beiden Frauen beim Essen treffen. Manchmal sind es eben die kleinen Dinge, die viel Aussagen, bzw. bedeuten.


„Ich blieb jedes Mal auf der obersten Stufe der Kellertreppe stehen. Wärme kam mir entgegen und ich sog mit der Nase die Luft ein, die ich so mochte. Die immerfeuchten Eichenstufen, der Lehmboden und der leichte Hauch von Wein ergaben ein moderiges, süßes Gemisch.“

Empfindet sie das, bevor sie in den Keller geht? Wenn ja, würde mich es wundern, dass aus dem Keller Wärme kommt.


„Aber ich durfte nicht zu lange verweilen, da er mit seiner blauen Arbeitshose, dem karierten Hemd und dem noch leeren Glas schon ungeduldig am Tisch saß.“

Durch die Aufzählung (in Verbindung mit dem Glas) kommt mir das so vor, als ob er mit der Arbeitshose, dem Hemd in der Hand (oder auf dem Tisch) da sitzt. Die Arbeitshose hat nichts mit dem „nicht zu lange verweilen“ zu tun, das leere Glas schon.

„Oft bestand unsere Unterhaltung während des Essens nur aus Anweisungen, die er mir gab.
Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einen von uns Enkeln in den Arm genommen hat. Nicht einmal mich als einziges Mädchen. Er besaß keinen Schaukelstuhl, noch rauchte er Pfeife. Sein Tagesablauf wurde von Garten- und Feldarbeit und dem Besuch von Gottesdiensten und Gesangvereinsproben bestimmt. Es war Gottes Wille, sagte er mir einmal, dass ich Oma nie kennen lernen konnte.“


Der „Schaukelstuhl“ kommt ziemlich unvermittelt; den ‚Gesangverein‘ würde ich vor den ‚Gottesdienst‘ (‚Kirchenbesuchen‘, um Wiederholung von ‚Gott‘ zu vermeiden) stellen, dann entsteht größere Nähe zu „Gottes Wille“.


„Ich hörte Annette seufzen: „Mhmm...das war lecker.““
Leertaste vor „das“.

Du malst mit deinem Text das Genrebild einer Kindheitserinnerung, aus der eine allgemeingültige Lehre gezogen wird – nicht aufregend, aber schön zu lesen.


L. G.,

Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Wolto,

das freut mich, dass du aus meiner schreibaktiven Zeit etwas hervorgeholt hast; ich war kurz etwas erstaunt, wie lange das schon her ist ...
Danke für die Verbesserungsvorschläge und deinen positiven Kommentar. Gott habe ich verschoben ;) und das mit dem Hemd und Hose habe ich auch noch in Ordnung gebracht.

Die Wärme kann aus dem Keller kommen, weil der Zugang zur Kellertreppe direkt vom Hof aus, also draußen, zugänglich und immer ein Temperaturunterschied spürbar ist.

Liebe Grüße
bernadette

 

„Wir teilen“, bestimmte sie.

Warum grab ich diese Geschichte aus,

liebe Bernadette,

weil etwas, das am 07.03.2012 zuletzt bearbeitet wurde gar nicht so alt und schon gar nicht „überholt“ sein kann, wie das Einstelldatum vorgaukelt. Gute Texte begleiten einen ein Leben lang. Umso besser sogar, dass geradezu Anlässe zum Lesen/Wiederlesen gegeben sind. Und wenn's im 7/8-Rhythmus wie hier ist 2005 - 2012 - 2020 ... na, ob es sich fortschreiben lässt ... wer weiß das schon

Heute noch wird unter Nomaden wie etwa Beduinen „Brot“ und „Salz“ mit dem fremden Gast zum Zeichen des Friedens geteilt und diese schöne Sitte muss auch unter den Stämmen und Völkern germanistischer Zunge nicht unüblich gewesen sein, ist das gotische Wort für „Brot“,
„hlaifs, hlaibis“ (mutmaßlich fürs ungesäuerte Brot; vgl. Wörterbuchnetz - Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm), aus dem wir noch unseren „Laib / Leib“ erkennen, dessen Schreibweise bis weit nach Luther im 17, Jh. identisch war als „Laib“ (auch schon mal „laip“). Schon als „nette“ Geste unter Freunden und Bekannten ist das Brot zu teilen symbolgeladen wie erst recht das familiäre Ritual (dabei muss man gar nicht erst an Gründonnerstag und das neutestamentarische Abendmahl denken). Ich geb unumwunden zu, dass ich mich ungern an meine Großväter erinnere (beide Kriegsveteranen aus dem Ersten Weltkrieg, was durch konfessionelle Gegensätze und Aversionen noch gesteigert wurde, als wäre der westfälische Friede an der Wiege der Ruhrindustrie spurlos vorübergezogen), beide mit Händen so groß wie Baggerschaufeln, beide im Bergbau, der eine ungelernt, der andere - der Protestant - als gelernter Hufschmied. Und doch hatten Kathole und Hugenottenabkömmling ein gemeinsames Band - ihren Kindern keine Lehre zu gönnen, sondern in die Lehre des Lebens zu entlassen und in Hilfsjobs zum Geldverdienen abzuschieben.

Ich lese also Deine Geschichte wie ein Idyll ... und doch 'n bissken Flusenlese:

Sie gab mir ein Stück der Scheibe. Kurz betrachtete ich ihre und meine Hälfte. Schweigend aßen wir weiter und meine Gedanken führten mich in die Küche, in der ich groß geworden
bin.

Seine Haare waren ähnlich grau wie sein Vesperbrett, auf dem ein Stück magerer Speck, eine Scheibe Brot und eine Essiggurke lag[en]
ein Stück magerer Speck + eine Scheibe Brot + eine Essiggurke = drei ...

Noch so eine große Scheibe war zu[...]viel, aber eine halbe würde ich noch schaffen.
(kann sein, dass die Zusammenschreibung erst mit dem Reformatiönchen abhanden kam. Hab nur noch den gebundenen Duden von 2006 (der z. T. schon überholt ist) und von 1936 ... aber von keinem der Großväter ...

„Maidle“, - er sprach mich nie mit meinem Namen an – „du musst das Brot brechen[.]“[…]
Und dann eine Frage, die ich bei dieser Buchstabenkombination
Mhmm ... das war lecker.“
jedem stelle: Wie spricht man das gegenüber dem schlichten [hm] aus?

Wie dem auch sei, gern gelesen vom

Friedel

 

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