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Gedanken über eine Schlacht
Sind Sie in letzter Zeit schon einmal durch die Stadt gefahren? Ich meine mit dem Fahrrad und mit offenen Augen. Schwimmen Sie in einem Meer voller individueller Individualisten! Das Gesetz des Stärkeren gilt nur für den Stärkeren, für den Schwachen bleibt die Flucht.
Ich muss das jeden Tag machen, ich muss! Ich tue das in dem Gefühl des moralischen Siegers, wobei es ja so ist, dass der moralische Sieger eigentlich immer derjenige war, den die Lehrerin hinter ihrem Rücken hielt, während sie Strafarbeiten für die Klasse verteilte. Im Übrigen macht es kaum Sinn, moralisch zu siegen über einen Haufen wild gewordener Idioten.
Ich starte an der Haustüre und versuche zunächst, auf die Fahrbahn zu gelangen. Einen Radweg gibt es bei uns nicht, einen Radweg gibt es selten. Wenn es einen gibt, dann ist er entweder zugeparkt oder es stehen alte Männer darauf, die einem im Vorbeifahren den „Wachturm“ in die Hand drücken wollen. Also muss ich die Straße nehmen, aber auf die komme ich nicht drauf.
Habe ich es doch irgendwann geschafft, muss ich mich scharf rechts halten, soweit rechts, dass ich den Fußgängern, die den Bürgersteig für sich erkämpft haben und ihn nicht wieder hergeben, bedrohlich mit dem Lenker nahe komme.
Doch das muss sein, weil die Individualisten der Meinung sind, dass ein Radfahrer auf ihrer Fahrbahn sich nicht hundertprozentig Mensch nennen darf, und somit überhaupt kein Recht darauf hat, unversehrt an sein Ziel zu gelangen.
Also pendele ich horizontal zwischen Fußgängern, die mir Morddrohungen hinterher schmeißen und Autofahrern, die eine viel breitere Auswahl an Möglichkeiten haben, mir ihren Unmut kundzutun, und gleichzeitig klarmachen, was für ein selten doofes Rindviech ich doch bin, auf der Straße nicht mit einem Auto unterwegs zu sein.
Ich strampele also und konzentriere mich auf den vor mir davonlaufenden Asphalt.
Und unweigerlich passiert es dann – mal früher, mal später. Aber in diesen Tagen muss man als Radfahrer ständig darauf gefasst sein.
Als ein schrei-roter Golf III mich überholt, erwischt mich etwas im Kreuz und als er vorbeizieht, sehe ich, dass es eine Deutschlandfahne war.
Welcher hirnverbrannte Hohepriester auf Speed hat dem gesamten Individualistenheer auf der Straße befohlen, einen Wettkampf im Beflaggen der Lieblingsfahrzeuge auszutragen? Es scheint eine Art Volkssport aufgekommen zu sein, in dem es darum geht, wer sich die meisten Fahnen ans Auto klemmen kann, gerne auch von unterschiedlichen Nationen. Ich warte darauf, einen Opel Calibra, aus dessen Schiebedach ein Fahnenmast ragt, entgegenkommen zu sehen. Ja – Sieger! Keiner besser als ich!
Was sind wir doch für ein Volk, bei dem es Mode geworden ist, demjenigen, der etwas Neues bringt, zu zeigen, dass man selbst es erheblich besser kann, größer hat. Schneller, weiter, höher.
Davon leben ganze Industrien, zugegeben. Aber muss man das denn derart kultivieren?
Nationalstolz ist eine sehr schöne Sache, aber wenn sich der paart mit Vulgarität und Dumpfbackentum, wagt man nicht mehr, ein Fähnchen ans Fenster zu hängen, aus Angst, man könnte dazu gezählt werden.
Jedes Jahr, Ende Oktober, graust es mich davor, durch die Stadt zu gehen und sehen zu müssen, wie dieser gnadenlose Kampf an anderer Front ausgetragen wird. Der Weihnachts-Fenster-Beleuchtungs-Wettbewerb ist ausgebrochen und wir alle, die wir fassungslos vor den Häusern stehen bleiben, die selbst Castrop-Rauxel in ein Super Las Vegas verwandeln, und die Köpfe schütteln, sind die Kampfrichter.
Wir stimmen ab zwischen Milliarden von Glühbirnen (die anscheinend keine Energie verbrauchen), drallen Weihnachtsmännern, die die Fassade hinaufklettern wollen, beleuchteten Engeln, die schon oben sind und neuerdings Rentieren, die über den Dachfirst galoppieren. Schöne Weihnachten!
Eine rote-Ampel-Feindberührung. Ich komme zum Halten neben einem 3er BMW in Finster-Blau. Vorn hat er zwei türkische Fahnen zu flattern, hinten eine deutsche. Gut, er hat damit die Chance, auf der Seite des Siegers zu stehen, mal eben verdoppelt. Das ist schon clever.
Er hat auf beiden Seiten die Fenster heruntergekurbelt und spielt Techno so laut, als wolle er mit den Beats den Straßenbelag verdichten.
Ich denke, gut, dass der die Fenster auf hat, und mir fällt ein, dass sie genauso gut herausgedrückt sein können. Ich werfe einen Blick hinein; drinnen sitzt ein junger, pomadiger Kerl, der locker in einen Pornofilm passen würde.
Er sieht mich an und ich schreie ihm zu: „Mach die Musik leiser, du blödes Arschloch!“
Ich bin nicht besonders mutig, er kann mich nicht hören. Dass es so etwas wie Lippenlesen gibt, ist mir derzeit entfallen.
Die Ampel wird grün, er grinst mich an und das Röhren seines Motors, als er weiterfährt, ist kurzzeitig noch lauter als seine Musik. Ich kriege die Fahne von Deutschland ins Kreuz und freue mich, dass es wenigstens die vom zukünftigen Europameisters ist.
Während ich weiterfahre, fällt mir ein, dass es einen Vorschlag wert wäre, die Fußball EM und die WM zeitlich so zu legen, dass sie mit Weihnachten zusammen fielen.
Man könnte sich eine Menge Aufwand sparen. Der Sieger dieses Wettbewerbs wäre dann sozusagen Champions League Gewinner.
Jeden Morgen, wenn ich wider Erwarten mein Ziel lebend erreicht habe, erfüllen mich Mordfantasien.
Trotzdem fahre ich abends wieder los.
Warum?
Weil ich muss.