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Gedanken über eine Schlacht

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04.08.2001
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Gedanken über eine Schlacht

Sind Sie in letzter Zeit schon einmal durch die Stadt gefahren? Ich meine mit dem Fahrrad und mit offenen Augen. Schwimmen Sie in einem Meer voller individueller Individualisten! Das Gesetz des Stärkeren gilt nur für den Stärkeren, für den Schwachen bleibt die Flucht.
Ich muss das jeden Tag machen, ich muss! Ich tue das in dem Gefühl des moralischen Siegers, wobei es ja so ist, dass der moralische Sieger eigentlich immer derjenige war, den die Lehrerin hinter ihrem Rücken hielt, während sie Strafarbeiten für die Klasse verteilte. Im Übrigen macht es kaum Sinn, moralisch zu siegen über einen Haufen wild gewordener Idioten.
Ich starte an der Haustüre und versuche zunächst, auf die Fahrbahn zu gelangen. Einen Radweg gibt es bei uns nicht, einen Radweg gibt es selten. Wenn es einen gibt, dann ist er entweder zugeparkt oder es stehen alte Männer darauf, die einem im Vorbeifahren den „Wachturm“ in die Hand drücken wollen. Also muss ich die Straße nehmen, aber auf die komme ich nicht drauf.
Habe ich es doch irgendwann geschafft, muss ich mich scharf rechts halten, soweit rechts, dass ich den Fußgängern, die den Bürgersteig für sich erkämpft haben und ihn nicht wieder hergeben, bedrohlich mit dem Lenker nahe komme.
Doch das muss sein, weil die Individualisten der Meinung sind, dass ein Radfahrer auf ihrer Fahrbahn sich nicht hundertprozentig Mensch nennen darf, und somit überhaupt kein Recht darauf hat, unversehrt an sein Ziel zu gelangen.
Also pendele ich horizontal zwischen Fußgängern, die mir Morddrohungen hinterher schmeißen und Autofahrern, die eine viel breitere Auswahl an Möglichkeiten haben, mir ihren Unmut kundzutun, und gleichzeitig klarmachen, was für ein selten doofes Rindviech ich doch bin, auf der Straße nicht mit einem Auto unterwegs zu sein.
Ich strampele also und konzentriere mich auf den vor mir davonlaufenden Asphalt.
Und unweigerlich passiert es dann – mal früher, mal später. Aber in diesen Tagen muss man als Radfahrer ständig darauf gefasst sein.
Als ein schrei-roter Golf III mich überholt, erwischt mich etwas im Kreuz und als er vorbeizieht, sehe ich, dass es eine Deutschlandfahne war.
Welcher hirnverbrannte Hohepriester auf Speed hat dem gesamten Individualistenheer auf der Straße befohlen, einen Wettkampf im Beflaggen der Lieblingsfahrzeuge auszutragen? Es scheint eine Art Volkssport aufgekommen zu sein, in dem es darum geht, wer sich die meisten Fahnen ans Auto klemmen kann, gerne auch von unterschiedlichen Nationen. Ich warte darauf, einen Opel Calibra, aus dessen Schiebedach ein Fahnenmast ragt, entgegenkommen zu sehen. Ja – Sieger! Keiner besser als ich!
Was sind wir doch für ein Volk, bei dem es Mode geworden ist, demjenigen, der etwas Neues bringt, zu zeigen, dass man selbst es erheblich besser kann, größer hat. Schneller, weiter, höher.
Davon leben ganze Industrien, zugegeben. Aber muss man das denn derart kultivieren?
Nationalstolz ist eine sehr schöne Sache, aber wenn sich der paart mit Vulgarität und Dumpfbackentum, wagt man nicht mehr, ein Fähnchen ans Fenster zu hängen, aus Angst, man könnte dazu gezählt werden.
Jedes Jahr, Ende Oktober, graust es mich davor, durch die Stadt zu gehen und sehen zu müssen, wie dieser gnadenlose Kampf an anderer Front ausgetragen wird. Der Weihnachts-Fenster-Beleuchtungs-Wettbewerb ist ausgebrochen und wir alle, die wir fassungslos vor den Häusern stehen bleiben, die selbst Castrop-Rauxel in ein Super Las Vegas verwandeln, und die Köpfe schütteln, sind die Kampfrichter.
Wir stimmen ab zwischen Milliarden von Glühbirnen (die anscheinend keine Energie verbrauchen), drallen Weihnachtsmännern, die die Fassade hinaufklettern wollen, beleuchteten Engeln, die schon oben sind und neuerdings Rentieren, die über den Dachfirst galoppieren. Schöne Weihnachten!
Eine rote-Ampel-Feindberührung. Ich komme zum Halten neben einem 3er BMW in Finster-Blau. Vorn hat er zwei türkische Fahnen zu flattern, hinten eine deutsche. Gut, er hat damit die Chance, auf der Seite des Siegers zu stehen, mal eben verdoppelt. Das ist schon clever.
Er hat auf beiden Seiten die Fenster heruntergekurbelt und spielt Techno so laut, als wolle er mit den Beats den Straßenbelag verdichten.
Ich denke, gut, dass der die Fenster auf hat, und mir fällt ein, dass sie genauso gut herausgedrückt sein können. Ich werfe einen Blick hinein; drinnen sitzt ein junger, pomadiger Kerl, der locker in einen Pornofilm passen würde.
Er sieht mich an und ich schreie ihm zu: „Mach die Musik leiser, du blödes Arschloch!“
Ich bin nicht besonders mutig, er kann mich nicht hören. Dass es so etwas wie Lippenlesen gibt, ist mir derzeit entfallen.
Die Ampel wird grün, er grinst mich an und das Röhren seines Motors, als er weiterfährt, ist kurzzeitig noch lauter als seine Musik. Ich kriege die Fahne von Deutschland ins Kreuz und freue mich, dass es wenigstens die vom zukünftigen Europameisters ist.
Während ich weiterfahre, fällt mir ein, dass es einen Vorschlag wert wäre, die Fußball EM und die WM zeitlich so zu legen, dass sie mit Weihnachten zusammen fielen.
Man könnte sich eine Menge Aufwand sparen. Der Sieger dieses Wettbewerbs wäre dann sozusagen Champions League Gewinner.
Jeden Morgen, wenn ich wider Erwarten mein Ziel lebend erreicht habe, erfüllen mich Mordfantasien.
Trotzdem fahre ich abends wieder los.
Warum?
Weil ich muss.

 

Hallo

Hallo Hanniball,

ich habe deine Geschichte gerne gelesen.

Zunächst einmal: Ich musste eher nicht lachen und auch eher nicht schmunzeln.

Es geht um einen Radfahrmenschen, der immer sein Leben riskiert.
Ich kenne das. Mich nerven auch die ganzen Radfahrer beim Autofahren. Musst dann immer schauen, dass du die überholst und nicht umfährst. :D
Wer stirbt schon gerne den Fahnentod? Oder wird gerne von einem Auto auf einen Weihnachstbaum geschleudert?

stehen alte Männer darauf, die einem im Vorbeifahren den „Wachturm“ in die Hand drücken wollen.

Was ist das? Bedarf weiterer Erklärung

[quote ]schrei-roter Golf III[/quote]

schrei-rot: klingt komisch, weiß nicht

Nationalstolz ist eine sehr schöne Sache, aber wenn sich der paart mit Vulgarität und Dumpfbackentum, wagt man nicht mehr, ein Fähnchen ans Fenster zu hängen, aus Angst, man könnte dazu gezählt werden.

warum vulgär????

Er sieht mich an und ich schreie ihm zu: „Mach die Musik leiser, du blödes Arschloch!“

Arschloch. Ist die Reaktion nicht etwas übertrieben. Ich würde nie einen Pornomann auf ein Arschloch reduzieren.

Man könnte sich eine Menge Aufwand sparen. Der Sieger dieses Wettbewerbs wäre dann sozusagen Champions League Gewinner.

seit wann heißt der Sieger einer Europameisterschaft Championsleague-Sieger.

Beim Schluss musste ich etwas schmunzeln.

Jeden Morgen, wenn ich wider Erwarten mein Ziel lebend erreicht habe, erfüllen mich Mordfantasien.
Trotzdem fahre ich abends wieder los.
Warum?
Weil ich muss.

insgesamt eine tolle Idee. Humor ist aber eben wenn man lachen muss. Aber das hat nicht ganz meinen Nerv getroffen. Vielleicht trifft die Geschichte den Nerv von anderen.

MfG Mantox

 

Hallo Hanniball,

meinen Humor hast du mit dem Text auch nicht getroffen. Wie es der Titel vermuten lässt, reihst du eigentlich nur eine Sammlung von Gedanken an, in ein dünnes Geschichten-Gewand genäht.
Flüssig geschrieben, also gut zu lesen ist das Teil schon, aber mehr als ein Achselzucken habe ich am Ende dafür nicht. Über Fußball, Weihnachtsbeleuchtung und Autofahrer zu lästern ist eine recht ausgetretene Kiste. Mit diesem Text konntest du da wenig neues Leben hinein hauchen.

grüßlichst
weltenläufer

 

Moin Hanniball,


Ach, ich weiß nicht... geschrieben ist das alles ziemlich gut und auch spritzig, ein oder zwei Lacher hattest du auch drin (das Individualistenheer fand ich gut) - aber insgesamt hat mir der Text trotzdem nicht gefallen.

Ich würde sogar soweit gehen, zu behaupten, daß es sich hierbei nur mit zusammengekniffenem Auge (in einer wolkenverhangenen Neumondnacht bei Stromausfall) um eine als Geschichte geplante Geschichte handelt. Das liest sich für mich eher wie ein Blogeintrag oder eine Kolumne, um die nachträglich eine Art Rahmenhandlung gestrickt wurde.
Formell natürlich in Ordnung, inhaltlich aber leider nicht besonders originell, meiner Meinung nach. Autofahrer hassen Radfahrer, Radfahrer hassen Autofahrer, das ist kein neues Thema und viel originelles ziehst du ehrlich gesagt auch nicht raus. Die Flaggenthematik fände ich aus Aufhänger sehr viel interessanter, jedoch bleibt sie hier nicht mehr, als eine kleine Randepisode, die sich auch irgendwie wenig harmonisch in den Text einfügt.
Du sprichst hier einige Themen an, aber insgesamt fragt man sich als Leser (also, ich tue das), worum es jetzt eigentlich genau geht im Text... ;)

Tut mir Leid, aber mein Fall was dieser Text nicht. Gut fand ich aber wie gesagt das Indiviualistenheer und den Schluss ("warum? Weil ich muss").

 

Hi Mantox!


Ich musste eher nicht lachen und auch eher nicht schmunzeln.

Das ist natürlich dumm, steht der Text doch in der Humor-Rubrik. War mein erster Eintrag hier (glaube ich), und gut möglich, dass das nicht meine Rubrik ist.

Es geht um einen Radfahrmenschen, der immer sein Leben riskiert.

Es geht um mich, tja. Der Titel ist nun wirklich ernst gemeint.

Was ist das? Bedarf weiterer Erklärung

He-he, ist die Frage ernst gemeint? Google mal "Wachturm" oder geh mit offenen Augen über den Markt, oder öffne die Haustür, wenn zwei mausgraue Gestalten mit einem seltsamen Lächeln draußen stehen.

Dank dir für die Kritik und für die Mühe!

Hallo Weltenläufer!

Scheint keines Geschmack getroffen zu sein. Ich hatte den Text wirklich runtergeschrieben, aus einer Laune heraus. Und eine gewisse Aktualität hat das ganze ja auch, nicht?

Tja, ausgetreten oder nicht, sind nun meine Gedanken. Aber vielleicht ist ja die Humor-Kiste nicht die meine.

Dank auch an dich!

Hi gnoebel!

Keine Geschichte - selbst in tiefschwarzer Nacht müsste ich dir zustimmen, das ist es wohl, man kann die einzelnen Gedanken nicht anreihen, kein Konflikt, der ja zu einer guten Story gehört.
Aber hej, es sind nun mal meine Gedanken.:)

Freut mich aber, dass du tatsächlich einige positive Körner rauspicken konntest.

Also dafür und für die Mühe danke ich dir.

Schöne Grüße von meiner Seite!

 

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