Gedankenfange
Wenn man Aufmerksamkeit will, genügen eine Kassette und ein tragbarer Kassettenspieler. Warum? Tja, weil keiner mehr weiß was eine Kassette ist oder wie sie aussieht. So haftet fast automatisch jeder Blick auf diesem kleinen Gegenstand und somit auch auf dem Kassettenspielerträger.
Jeder Blick sagt dann in etwa das Selbe aus: Hört die da etwa Kassetten? Wer hört denn in der Mp3-Zeit noch Kassetten?
Am auffälligsten gucken dann die kleinen, verwöhnten Mp3-Player-Kinder. Die sich fühlen wie Zeitreisende. Und wie kommt man auf solche merkwürdigen Tatsachen?
Man nehme einen wunderschönen Sonntagnachmittag, einen gut besuchten Schlosspark und eben einen tragbaren Kassettenspieler. Schließlich noch eine Prise Tatendrang. Heraus komme ich und eine gute alte R.E.M.- Kassette.
Ich sitze also in diesem Schlosspark. Neben mir fließt ein Bächlein. Über mir sehen die Baumkronen auf mich herab. Lugen in das geöffnete Buch auf meinem Schoß. In das knallrote, geöffnete, leere Buch. Es gibt also nicht mehr zu lugen, als ein paar hundert leere Seiten. Toll, denken sich die Baumkronen. Toll, denke ich. Wieder fällt mir nichts ein. Wieder sitze ich am Bächlein ohne Ideen. Also sehe ich mich um. Fixiere leere Punkte in der Ferne auf Hoffnung inspiriert zu werden.
Da! Der erste Gedanke. Sofort wird zum geklauten Ikeastift gegriffen. Ist es wirklich Diebstahl, wenn die Stiftchen dort zu tausenden in Kunststoffbehältern gequetscht herum hängen und man einfach mal so gütig ist, einen von ihnen zu befreien? Außerdem sind die ja da, damit man sie mitnehmen kann. Dann eben nicht geklaut.
Verdammt. Ich hab den ersten Gedanken verloren. Ist einfach abgehauen der Feigling. Wenn ich mich beeile, schaff ich es vielleicht noch ihn einzuholen. Nichts da. Ich bleibe wo ich bin und versuche weiter irgendwelche Gedanken zu fangen.
Fast verdeckt von einer vierköpfigen Gruppe junger Eltern, sehe ich zwei Kinderwagen. Inhalt: Nächste Generation der Mp5-Kinder. Mp4 war letztes Jahr oder so. (Die Mp3-Kinder war ich losgeworden, als ich ihnen den Platz am Bächlein genommen hatte.)
Ich betrachte wieder die jungen Eltern und warte bis einer der jungen Väter zu mir schaut. Drücke dann den Stoppknopf an meinem tragbaren Kassettenspieler, öffne den Kassettenspieler und wechsle die R.E.M.-Kassette in eine U2-Kassette. Einfach um zu sehen, wie er reagiert.
Die U2-Kassette zieht den Blick des einen so fest in meine Richtung, dass er fast über einen Ast stolpert. (In dem Moment frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich dort mit einem Schallplattenspieler gesessen hätte.)
Ich drücke Play und mit einem leisen Rattern spielt der Kassettenspieler die Kassette ab. Der Typ sieht immer noch herüber. Muss ihn ja ganz schön beeindruckt haben.
Die Gruppe junger Eltern läuft um eine Kurve und verschwindet letztlich hinter Büschen aus meinem Blickfeld. In dem Moment sehe ich, vor meinem geistlichen Auge, die Mp5-Kinder im Kinderwagen „Baby's got blue skies overhead“ singen. U2’s Sweetest Thing in meinem Ohr sei Dank.
Mein merkwürdiger Aufenthalt im Schlosspark wurde von einer 9,5cm großen Tatsache beendet. Der geklaute oder nicht geklaute Ikeastift gab ohne Vorwarnung seinen Geist auf. Mehr oder weniger widerwillig erhob ich mich.
Das, bis auf ein paar Ikeableifstiftzeilen, knallrote, leere Buch steckte ich sorgsam in meine Tasche. Ein letztes Mal schaute ich zu den Baumkronen hinauf. Toll, dachten sie. Toll, dachte ich und ging.