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Gedankenschieben
Ich sitze in der S-Bahn und ziehe Bilanz. Das habe ich mir so angewöhnt. Was für Verluste gab es in der letzten Nacht und was für Gewinne?
Verloren habe ich einen weißen Pulli. Ich hatte ihn gerade erst gekauft. Vermutlich sind inzwischen um die hundert Füße darauf getreten. Irgendwie habe ich Angst davor, anzurufen und zu fragen, ob er gefunden wurde. Mir graut davor, einen völlig verdreckten, vielleicht sogar bespritzten Pullover in irgendeinem Fundbüro entgegen zu nehmen. Nicht weil es mir peinlich wäre. Es ist, weil ich den Anblick einfach nicht ertragen könnte. Ich hatte mich schon mit dem Pulli angefreundet. Das klingt verrückt. Manchmal frage ich mich, ob ich noch ganz dicht bin. Ich bin es eindeutig nicht. Aber ich habe mich damit abgefunden. Wer ist schon normal? Ich schiebe den Gedanken an den Pullover weit von mir. Ärgern bringt ihn auch nicht wieder. Trotzdem bin ich ein wenig missgelaunt. Wieso passieren solche Dinge immer mir? Quatsch. Anderen passiert das auch. Ein wahnsinnig toller Trost.
Meine Gedanken gelten nun wieder der gestrigen Nacht. Zu meiner Bilanz hinzuzufügen ist der Verlust der Kontrolle. Der Kontrolle über meine Gefühle.
Er sieht echt verdammt gut aus. Er ist nicht so glatt. Nicht wie die Typen aus der Unterwäschewerbung. Er hat dieses besondere Grinsen. Ein schiefes Grinsen. Aber schön. Anders. Seine Haut ist nicht glatt wie ein Babypopo. Sie hat kleine Unreinheiten. Doch das ist es gerade, was mir gefällt. Und seine Augen. Kaffeefarben...
Inzwischen habe ich die Kontrolle wieder. Das rede ich mir zumindest ein. Ich habe einen tollen Freund. Der immer da ist, wenn ich ihn brauche. Und ich liebe ihn. Und schiebe den Gedanken weit von mir. Irgendwo zum Meer. Und da versenke ich ihn in der Tiefe. Auch wenn ich weiß, dass die Mühe umsonst ist. Er wird irgendwann ganz unerwartet wieder auftauchen.
Ich schaue es dem Fenster. Die Bahn fährt an einem schönen Haus aus Holz vorbei. Ein solches Haus, mitten zwischen einer stark befahrenen Straße und den Bahngleisen. Ob den Besitzern das nichts ausmacht? Vielleicht sind sie ja schwerhörig. Oder sie haben sich damit abgefunden. Oder es stört sie einfach nicht. Vielleicht haben sie auch Glückseligkeit zwischen Zügen und Autos gefunden. Manches muss nicht perfekt sein.
Ich strecke mich. Einen Muskelkater habe ich auch noch von der Nacht geschenkt bekommen. Und dieses Gefühl, was einen zwangsläufig überkommt, wenn man nicht geschlafen hat. Man bekommt alles um sich herum nur noch wie unter einer milchigen Glasglocke mit. Manchmal ist es ganz gut so.
Mein Mund fühlt sich trocken an. Der Geschmack von Zahnpasta, Kaffee und faulen Socken liegt auf meiner Zunge. Eine echt geniale Kombination. Sollte es als Eissorte geben.
Mein Herz schlägt immer noch etwas schneller als gewöhnlich. Die laute Musik. Der Beat, der bis in die Seele geht. Und noch tiefer, unendlich. Eins werden mit dem Takt. Eins werden mit der Menge. Das ist eindeutig ein Gewinn. Es war echt genial. Springen und laut mitsingen. Sich im Kreis drehen. Die Haare schütteln. Die Seele katapultieren. Alles nur schemenhaft wahrnehmen, als hätte man Drogen genommen. Dabei ist es nur der Beat. Er reißt mit, unterm Himmel.
Ausnahmsweise ein Gedanke, den ich festhalten will und nicht beiseite schieben. Aber ich lasse ihn fallen und er bleibt mitten auf dem Weg liegen, während die Bahn weiterfährt. Keine Chance ihn wieder aufzuheben.
Ich überlege, ob es meinem Rückblick etwas hinzuzufügen gibt. Gewonnen habe ich natürlich auch an Erfahrungen und Erinnerungen. Das tut jeder Mensch. Jeden Tag. Klingt wie einer der Sprüche, die meine Oma überall bei sich in der Wohnung aufhängt. Langweilig oder die Wahrheit? Wie man es nimmt.
Straßen, Bäume, Haltestellen ziehen vorbei. Langsam merke ich, wie meine Gedanken an Klarheit verlieren. Sie driften ab. Für einen Tag wie diesen war das genug. Noch fünf Minuten, bis ich aussteigen muss. Ich schließe die Augen. Und höre nur das gleichmäßige Rattern des Zuges, während ich versuche, gar nichts zu denken.