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Gefallener Engel
Es regnet Bindfäden.
Der Himmel hängt so tief, dass man denken könnte, er stöße an die Spitzen der Fernsehantennen.
Eine dicke, dunkle Decke aus Wolken, die vom fernen Wetterleuchten gespenstisch erhellt wird.
In einem der Wohnblocks von neben an - um genauer zu sein, im Dachgeschoss jenes Wohnblocks - setzt die fünfjährige Felicitas ihren kleinen, bleichen Fuß auf das Fensterbrett. Regentropfen fallen auf ihre Zehen und zerspringen auf dem Metall des Sims. Felicitas zieht sich nach draußen und balanciert mit traumwandlerischer Sicherheit hinauf zum Dachfirst.
Sie breitet die Arme aus. In dem weißen Nachthemd, das das Kind trägt, könnte man es für einen Engel halten. Mit Bedacht setzt Felicitas einen Fuß vor den Anderen. Ihr Haar fliegt im Wind; nasse Strähnen kleben an ihren rosigen Wangen und an ihrer makellosen, glatten Stirn.
Sie hält die Augen geschlossen. - Sieht alles und nichts. Ein Blitz zuckt durch den Himmel und teilt ihn für den Bruchteil einer Sekunde. Daraufhin folgt ein dumpfer Schlag. Der Sturm ist schon sehr nah.
Doch davon bekommt das Mädchen nichts mit; sie ist in ihrer Traumwelt und zu ihren Füßen liegt die schlafende Stadt. Felicitas will fliegen - wie ein Vogel, oder wie ein Engel, mit Flügeln aus weißen Federn.
Rote Ziegel unter ihren nackten Füßen. Sie bleibt stehen, dreht sich einmal um sich selbst. Ähnlich einer Tänzerin, die sich zum Trommeln der Wasserperlen auf dem Dach bewegt - zumindest mit derselben Anmut.
Wären ihre Augen geöffnet, so würde sie nun in eine finstere Häuserschlucht blicken. Ihre Fußzehen klammern sich an den Rand des Giebels. Mittlerweile ist das Gewitter so stark, dass man die Elektrizität in der Luft spüren kann. Die Härchen an ihren Armen richten sich auf. Sie geht in die Knie und stößt sich ab; Blitze spiegeln sich in ihren schwarzen Pupillen. Die Zeit steht still.
Rote Schlieren mischen sich in die Wasserpfützen am Boden der Gasse...