Gefangen in alten Zeiten
Sie spürte den Windhauch des heranrasenden Zugs. Doch sie hatte die Augen geschlossen, auch als der Zug quietschend zum Stoppen kam. Sie würde nicht einsteigen, dass tat sie nie. Sie wartete. Wartete über Stunden ohne jemanden zu treffen, ohne mit jemanden zu sprechen. Erst als die Sonne dem Mond Platz machte ging sie nach Hause. Sie setzte sich auf ihre Terrasse und schaute weiter den Zügen, die in einiger Entfernung in den Bahnhof einfuhren, zu. Ihr kleines Häuschen lag direkt am Bahnhof. Sie hatte in den letzten dreißig Jahren einige Nachbarn ein und ausziehen sehen. Der Lärm vertrieb sie schließlich doch alle. Aber nicht sie. Mittlerweile hörte sie das Heranrauschen kaum noch, damals wollten sie eine Mauer zwischen ihre kleine Wohnung und dem Bahnhof bauen, doch das hatte sie nicht zugelassen. Vergeblich hatten die Menschen versucht sie umzustimmen, doch sie blieb standhaft. Bis heute. Niemand würde ihr die Sicht nehmen. Im Sommer schlief sie immer auf ihrem Schaukelstuhl, auf der Terrasse draußen mit dem Rauschen der Züge, ein. So war es auch heute. Am nächsten Tag ging sie wieder zum Bahnhof, setzte sich auf die Bank, auf der sie immer saß und wartete. Sie tat dies schon seit Jahren. Seit sie ihre wohlverdiente Rente bezog, war kein Tag vergangen, an dem sie nicht hier gewesen war. Die Polizisten, die ihre Runden drehten, kannten sie, anfangs hatten sie versucht mit ihr zu sprechen, sie nach Hause zu bringen, doch sie kam immer wieder. Manchmal grüßten sie, die alte Dame, manchmal gingen sie einfach stumm an ihr vorbei. Jedes Mal, wenn sie sie grüßten öffnete sie die Augen und blickte verwirrt in ihre Richtung. Ihr Interesse verflog, sobald sie die Polizisten sah und hätten sie genauer hingesehen, hatten sie eine einzelne Träne ihre Wange herablaufen sehen. Aber sie sahen nie genauer hin, es war nicht ihr Job, nicht ihre Aufgabe. Sie setzten ihre Patrouille fort und ließen sich nicht mehr blicken. Jeden Tag gingen hunderte Menschen an ihr vorbei, doch sah sie niemand je wirklich. Niemand sah ihr je in die Augen und fragte sie was sie hier machte, nie wollte es jemand wirklich wissen. Deshalb erzählte sie es auch niemanden, nicht den Polizisten, nicht den Passanten die verärgert und gestresst an ihr vorbeihuschten. Erst, als sich ein kleines Mädchen zu ihr setzte wurden ihre Tränen bemerkt.
„Warum bist du traurig?“
Sie alte Dame schaute, jetzt mit Tränen in den Augen, das Mädchen an.
„Ich warte auf jemanden.“
„Ist er nicht gekommen?“
„Nein, das wird er aber noch.“
Sie lächelte das Mädchen an, es war das erste Mal seit langem, dass sie jemanden ein Lächeln schenkte.
„Dein Freund?“
„Nein, mein Mann. Er ist auf einer Geschäftsreise. Er hat es mir in seinem Brief geschrieben, er hat geschrieben er kommt heute.“
„Soll ich mit dir warten?“
Das Mädchen ließ ihre Beine baumeln und lehnte sich an der Bank zurück.
„Vermisst dich deine Mutter denn nicht?“
„Nein sie ist arbeiten, die ganze Woche.“
„Sie hat dich allein gelassen?“
„Jetzt bin ich ja nicht mehr allein.“
Das Mädchen rückte näher an die alte Dame heran.
Es entstand eine kurze Pause.
„Hast du eigentlich Kinder?“
„Nein, noch nicht, aber bald. Ich habe es meinem Mann noch nicht erzählt. Deshalb warte ich hier. Er wird Vater. Ich könnte mir keinen besseren Vater für mein Kind wünschen. Er wird sich so freuen!“
„Hat ihr Kind schon einen Namen?“
„Ja, es wird ein Mädchen und ihr Name wird Carmen sein.“
„Meine Mutter heißt auch Carmen“
„Ja? Dann wird meine Tochter bestimmt genauso hübsch, wie deine Mutter es ist.“
Die alte Dame sah nun nicht mehr ihre eigenen Tränen, sondern die des kleinen Mädchens.
„Was ist los meine Kleine?“
„Ich vermisse meine Mama. Sie ist nur noch am arbeiten. Sie hat gar keine Zeit mehr für mich.“
„Weiß sie, wo du bist?“
Das Gesicht der alten Dame drückte nun tiefe Sorge aus.
„Nein“, schluchzte das kleine Mädchen.
„Sie soll mich suchen, vielleicht geht sie dann nicht mehr arbeiten.“
„Aber Kleine, du kannst doch nicht einfach weglaufen. Deine Mutter wird sich große Sorgen um dich machen.“
„Glaubst du?“
Sie hatte aufgehört zu schluchzen, ihre Augen immer noch voller Tränen sah sie die alte Dame an.
„Glaubst du wirklich?“
„Jaa, ganz sicher. Wenn ich nur daran denke, wie ich mich fühlen würde, wenn Carmen weglaufen würde.“
„Aber, wenn ich gehe bist du wieder allein.“
„Nein ich bin nicht allein, Karmen ist bei mir!“
Sie legte ihre Hand auf ihren Bauch.
„Außerdem kommt mein Mann doch gleich.“
„Sicher heute? Es wird schon dunkel.“
„Ja, er hat es mir doch geschrieben. Hier schau mal.“
Sie holte einen zerknitterten Zettel hervor. Er hatte sich schon gelblich verfärbt und würde ohne Vorsicht leicht zerreißen.
„Kannst du schon lesen?“
Das Mädchen nickte stolz.
„Hier pass aber auf ok?“
„Ja, versprochen.“
Das Mädchen nahm ihr den Zettel aus der Hand.
„Meine Geliebte,
es kommt mir, wie eine Ewigkeit vor, seit ich dich das letzte Mal in meine Arme schloss. Langsam wird es hier für mich zu einem Verlies und mein Sauerstoff wird immer knapper. Heute habe ich endlich mit ihm gesprochen und ich darf nach Hause. Er sagte ich habe gute Dienste geleistet und solle mich jetzt, um meine eigene Familie kümmern. Ich komme zurück zu dir. Ich nehme direkt die nächste Eisenbahn. Ich kann es kaum erwarten dich wieder in meine Arme schließen zu können. Warte auf mich am Bahnhof. Ich weiß nicht genau, wann ich ankomme, aber ich möchte keine weitere Sekunde von dir getrennt sein. Ich komme nach Hause ich verspreche es.
Dein geliebter Hans
1954“
Stand in fast kunstvoller Schrift geschrieben.
„Was ist eine Eisenbahn?“
Fragte das Mädchen nur.
Doch die alte Dame schien weit weg.
„Siehst du ich habe es doch gesagt er kommt noch heute. Er hat es versprochen.“
Das kleine Mädchen betrachtete den Brief ihr Blick fiel auf die Jahreszahlen, doch sie schwieg.
„Maisy? Oh, Gott sei Dank, da bist du ja. Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht.“
„Mama!“
Das Mädchen sprang auf und fiel ihr um die Arme.
„Was machst du denn?“
„Ich wollte wissen, ob du mich suchst.“
„Natürlich such ich dich!“
Ihr Blick richtet sich auf die alte Dame auf der Bank.
„Mutter was machst du hier? Warum bist du nicht im Heim?“
„Sie müssen Carmen sein. Ihre Kleine hat mir schon von Ihnen erzählt. Ich werde meine Tochter auch Carmen nennen. Hoffentlich wird sie genauso hübsch, wie sie und sie bekommt ein solches Geschenk, wie Ihre Tochter es ist.“
Sie lächelte, dass erste Mal war Ihre Träne verschwunden.
„Passen Sie gut auf die Kleine auf.“
Sie ist etwas Besonderes dachte die alte Dame und schloss wieder ihre Augen. Ein weiterer Zug war gerade eingefahren und der Wind blies ihr um die Nase.