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Gefangen
Das Meer rauschte nicht. Es plätscherte und wisperte, und selbst das schien aus weiter Ferne zu kommen. Ein leichter Wind ging und ließ winzige Sandkörner über ihre bloße Haut tanzen. Teresa lag ganz still auf dem Rücken, die Augen fest geschlossen und fragte sich, woher sie wusste, dass es das Meer war, das sie hörte. Vielleicht wegen dem Sand, vielleicht wegen der Ruhe, die sie empfand. Vielleicht auch, weil das Meer immer ihre Zuflucht gewesen war. Wann immer sie traurig war, das Meer tröstete sie. Wenn sie wütend war, gab es ihr Ruhe und Gelassenheit. Wenn sie sich in ihrem Leben gefangen fühlte, zeigte es ihr die Freiheit. Sie konnte sich keinen schöneren Ort vorstellen, an dem sie aufwachen wollte.
Ein heftigerer Windstoß ließ sie frösteln. Widerstrebend öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Grelles Sonnenlicht blendete sie, funkelte über der endlosen Wasserfläche des Ozeans, ließ die ganze Umgebung wirken wie ein überbelichtetes Urlaubsfoto. Teresa war alleine. Um sie herum nur spärlich bewachsene Dünen, rauer Sand und Felsen. Und natürlich das Meer. Es war viel näher, als sie gedacht hatte. Nur einige Meter von ihren bloßen Füßen entfernt zog sich der Spülsaum entlang, umrahmt von winzigen weißen Schnecken und rosigen Muscheln. Über ihr segelte eine einsame Möwe. Teresa beobachtete sie einige Augenblicke lang und musste lächeln. So wild und frei würde sie auch gerne sein.
Doch das Glücksgefühl schwand und machte einer leichten Verwirrung Platz. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie hierher gekommen war. Irritiert sah sie an sich herunter. Sie war nackt. Sie konnte auch keine Kleider entdecken, als sie sich umblickte.
Teresa versuchte, sich daran zu erinnern, was sie als letztes angezogen hatte, und wann das gewesen war, und wo. Doch in ihrem Kopf herrschte eine merkwürdige Leere. Keine Bilder, keine Erinnerungen, die ihr erklären konnten, was sie hier machte. Sie konnte sich an ihren Namen erinnern. Teresa. Das war sie. Und sie wusste, dass sie das Meer schon immer geliebt hatte. Und weiter? Ihr Geist schien eine Tafel zu sein, von der man säuberlich alles entfernt hatte. Oder vielleicht war er auch eine Leinwand, auf die jemand noch ihre Erinnerungen malen musste. Doch eines wusste Teresa: sie fühlte sich nicht schlecht. Nur etwas merkwürdig, aber nicht schlecht
Der Wind frischte weiter auf und trieb den schweren, salzigen Tanggeruch des Meeres heran. Von weit draußen klang das Klatschen von Wellen an Felsen. Die feinen Härchen an Teresas Körper stellten sich auf. Der Sand unter ihren bloßen Füßen bewegte sich unruhig. Es wurde Zeit, dass sie sich auf den Weg machte.
Bedächtig setzte Teresa einen Fuß vor den anderen. Ihre Körper schien ihr noch zu gehorchen, auch wenn ihr Geist sie verlassen hatte. Sie steuerte auf eine der Dünen zu, an der eine Holztreppe hinaufführte. Vielleicht konnte sie von dort oben feststellen, wo sie sich befand. Vielleicht konnte sie jemanden um Hilfe bitten. Das alte Holz war rissig unter ihren Füßen, der Handlauf rau und brüchig. Doch wusste Teresa, dass sie sich keinen Splitter eintreten würde, dass ihre Haut unverletzt bliebe. Für heute.
Sie erreichte das Ende der Treppe. Böiger Wind schlug ihr entgegen, kühlte ihre Haut. Das lange Strandgras streichelte ihre Beine. Die Luft schmeckte nach Salz und Freiheit. Vor ihr fiel die Düne wieder ab, genauso steil, wie auf der anderen Seite. Eine Treppe führte hinunter. Und dort unten trieb der Wind Sand über einen Strand. Einen Strand, hinter dem das Meer begann, ewig und endlos.
Teresa setzte sich auf eine Treppenstufe und sah auf den zweiten Strand. Einen Moment lang fühlte sie sich hilflos. Gefangen. Eingesperrt zwischen zwei Ozeanen. Dann schloss sie die Augen und ließ das Meer zu sich kommen. Wie konnte sie denn gefangen sein, wenn das Meer hier war. Das sie beschützte und behütete und immer für sie sorgen würde. Nein, sie war nicht gefangen. Sie legte den Kopf auf die Knie, atmete den Duft der Weite, ließ sich davontragen von dem heiseren Schrei der Möwe.
Teresa träumte.
Sie träumte, sie wäre in einer Stadt. Die Häuser, die Straßen, alles kam ihr unbekannt vor. Drohend und dunkel. Die Luft war schwer von Abgasen, erfüllt von Lärm. Die Kleider auf ihrer Haut schienen Tonnen zu wiegen. Sie drückten schwer auf ihre Schultern und beugten sie. Ihr Kopf war zu schwer für ihren Hals und ihr Blick zu Boden gerichtet. Sie aß etwas, ein Brötchen, aber es schmeckte wie Pappe.
Sie träumte, sie habe einen Mann, er ging neben ihr und hielt sie am Arm. Sein Griff war fest und schmerzhaft, selbst durch den Stoff ihrer schweren, schweren Kleidung. Er sprach, aber sie verstand ihn nicht über den Krach, den die Autos machten. Er sah sie an, aber sie konnte nicht in seinen Augen lesen, denn sie waren hart und kalt.
Sie träumte von einem Gebäude, ganz weiß innen, Desinfektionsmittel stachen in ihre Nase. Der Mann - ihr Mann - zerrte sie voran. Tränen netzten ihre Wangen und sammelten sich salzig auf ihren Lippen. Ihr Körper war so schwer, ihr Bauch schmerzte. Männer und Frauen in weißen Kitteln umschwärmten sie, redeten, lachten, aber auch ihr Blick war kalt. Sie schauderte, wenn sie sie ansah. Sie gaben ihr ein Glas mit einer Flüssigkeit, die sie herunterwürgte. Ihr Mann unterschrieb Zettel, brachte sie in ein Zimmer und ließ sie dann allein. Allein in dem Weißen und Kalten und sie fühlte sich nackt, obwohl sie ein Nachthemd trug. Ihr Arm schmerzte noch immer, wo er sie gepackt gehabt hatte, und das Medikament hatte einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund hinterlassen.
Sie träumte, sie hätte ein Kind gehabt. Ein kleines Kind, noch ganz hilflos. Aber die Männer in den weißen Kitteln hatten es ihr weggenommen. Sie war nach Hause gegangen, mit dem Mann, der ihr Mann war, zwischen den finsteren Häusern hindurch. Zu einem dunklen Haus mit dunklen, engen Gängen. Mit einer steilen Treppe. Mit einer großen, leeren, schwarzen Wohnung. Eine Wohnung ohne Kinder. Eine Wohnung ohne Lachen. Weit weg vom Meer. Weit weg von ihrem Leben.
Sie träumte, sie stünde am Anfang der Treppe. Die Stufen versprachen ihr etwas, aber sie konnte es nicht verstehen. Sie wollte vorsichtig herunter steigen, aber ihr Schritt ging ins Leere und sie stürzte. Fiel in die Dunkelheit.
Sie träumte, dass sie schlief. In einem weißen Bett schlief. Ihr Kopf war schwer und leer. Eine Maschine wachte über sie, zeigte piepsend, dass sie noch lebte und atmete. Eine Frau in einem weißen Kittel sorgte für sie. Sie war nicht wie die anderen. Sie deckte Teresa zu und sie konnte beruhigt weiter schlafen. Weiter und weiter, bis ans Meer.
Teresa schlug die Augen wieder auf. Ihre Lippen waren rau und salzig, doch es war das Salz des Meeres und nicht der Tränen. Was für ein merkwürdiger Traum das gewesen war. Sie stand wieder auf und blickte sich um. Um sie herum, der Ozean, Dünen, Watt. Rauschen, Klatschen, Möwenschreie. Salz und Tang in der Luft.
Sie war gefangen, gefangen vom Meer. Gefangen in sich.
Langsam stieg sie die Stufen zum Strand hinunter. Spürte den Sand zwischen ihren Zehen, als sie zur Brandung lief. Das Wasser kühlte ihre Füße, streichelte ihre Haut. Sie fühlte sich so leicht. Niemand, der sie niederdrückte. Sie watete zu einem Felsen und kletterte darauf. Der Stein war glitschig vom Tang. Über ihr kreiste immer noch die Möwe. Teresa blickte hinaus aufs Meer. Hier war sie, gefangen. Wollte sie frei sein? Sie wusste es nicht.