Gefesselt
Gefesselt
John zwang sich die Augen zu öffnen.
Er schlief schon lange nicht mehr, harrte seit Stunden in diesem Dämmerzustand aus nur um nicht aufzuwachen. Doch jetzt wollten ihn die Kopfschmerzen übermannen und zudem war ihm speiübel. Lieber aufstehen und ins Klo kotzen, dachte er, anstatt jetzt hier im Bett zu krepieren.
Seine Glieder waren schwer wie Blei. Er konnte sie kaum bewegen. Nein, er konnte sie überhaupt nicht bewegen. Irgendetwas schien sie festzuhalten.
Helles Tageslicht fiel durch seine geöffneten Lider und schmerzte. Im ersten Moment sah er nur weiß. Langsam kamen noch ein paar Details, kleine Schatten und eine milchige Glocke – eine Lampe, hinzu. Ein fernes Rauschen lag über seinen Ohren.
John wandte sich von der Decke ab und legte seinen Kopf zur Seite. Über ein weißes Kopfkissen hinweg sah er seine Hand. Er musste erst einmal blinzeln bevor er verstand, was er da genau sah.
Sein Handgelenk war mit einem Tuch an den Bettpfosten gefesselt.
John warf den Kopf herum und hatte sogleich das Gefühl, als würde sein Gehirn wie ein Schiff bei starkem Seegang hin und her wanken. Übelkeit ergoss sich über seinen Körper. Er wollte aufstehen, sich mit den Händen die Lippen verschließen und auf der Toilette dann den Dingen ungezügelt ihren Lauf lassen. Doch musste er feststellen, dass seine beiden Hände gefesselt waren.
Allmählich begann er zu verstehen. Mit einer gewissen Vorahnung versuchte John die Beine anzuziehen. Es klappte nicht. Etwas zog sich eng um seine Knöchel und verhinderte jede weitere Bewegung.
Nun war er sich relativ sicher: man hatte ihn ans Bett gefesselt, nackt. Bloß warum? Und wo war er überhaupt? Schwindel überkam ihn.
Er ließ seinen Kopf vorerst auf dem Kissen ruhen und atmete langsam tief ein... und wieder aus. Dann begann er wild an seinen Fesseln zu zerren und reißen, bäumte sich auf und versuchte in die Luft zu treten bevor er vor Erschöpfung aufgab. Nachdem er sich einen Moment Atempause gegönnt hatte wiederholte er alles. Das Bett knarrte, doch weder Tücher noch Pfosten gaben nach. Dreimal unternahm John diesen verzweifelten Befreiungsversuch wobei unterdrückte Schreie aus seiner Kehle drangen. Eine erneut aufkeimende Übelkeit hielt ihn auf. Sein Mageninhalt hatte sich bereits Richtung Hals geschoben und er versuchte dessen Ausbruch mit rhythmischen Kopfbewegungen zu verhindern.
Nachdem das gelungen war sah John sich um.
Es war ein mittelgroßes Zimmer. Die Wände weiß, sowie die halboffene Tür. Zur Rechten stand eine Kommode mit einer Grünpflanze, allerlei Kosmetikartikeln und einem aufstellbaren Spiegel darauf. Darüber hing ein eingerahmtes Bild, welches getupft schien.
Auf der anderen Seite verstellte ein viertüriger Schrank die Wand. Gedämpft drang Straßenlärm durch die Fenster von draußen herein.
John wurde langsam wieder ein wenig klar im Kopf. Das Rauschen erkannte er nun als ein plätschern, jemand duschte. Zudem war auch noch ein leise Musik zu hören.
Dann schoss es ihm blitzartig durch den Kopf: die Bar, die Drinks, die langen blonden Haare, das süffisante Lachen, der Sex – natürlich!
Übergib den Frauen auch nur für einen Moment das Zepter, dachte er, sofort herrschen sie mit absoluter Macht.
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Es hat auch sein Gutes, wenn die Frauen mal oben auf sind.
Aber nichtsdestotrotz: er musste mal auf Toilette bevor ihn sein Kopf noch umbrachte. Vollgebrochen wollte er ihr nicht ausgeliefert sein.
Er öffnete den Mund und stockte. Dann kramte er noch einmal in seinem Gedächtnis und rief schließlich: „Cynthia!“
Nichts.
Bloß weiter das Rieseln der Dusche und die Musik.
„Cynthia“, probierte er es ein weiteres Mal, „du musst mich jetzt echt mal freilassen. Ich muss aufs Klo!“
Keine Antwort.
„Scheiße, Cynthia“, schrie er. „Du musst...“ Ein anderes Geräusch ließ ihn stocken. Ein Klopfen an der Wohnungstür. Wer konnte das sein?
John ließ den Kopf aufs Kissen zurück sinken und wartete ab, was geschah. Doch in der Wohnung änderte sich rein gar nichts und das Klopfen verstummte bald.
Verdammt, sagte er sich. Verdammt, verdammt!
Für einen Moment überlegte er, einfach wieder einzuschlafen. Dann würde er vielleicht frei sein wenn er aufwachte. Aber die Übelkeit war nicht verschwunden, sondern lauerte knurrend im hinteren Teil seines Schädels.
Er schloss die Augen, entspannend, öffnete sie wieder und Schrecken lähmte ihn. Sein Herz galoppierte wüst in seiner Brust. Krämpfe verhärteten seine Glieder und Angst trieft ihm durch den Körper als er es sah.
Die Tür öffnete sich langsam. Aus dem Flur schob sich eine hohe Gestalt in dunkler Kleidung rückwärts in das Schlafzimmer. Sie drehte sich ein wenig und John erkannte einen jungen Mann mit struppigen braunen Haaren, der nervöse Blicke in den Flur, wahrscheinlich gen Badezimmer, warf. Der Kerl passte gerade so durch den Türrahmen und hielt sich daher geduckt. Mit seinen Händen fummelte er sichtlich angespannt in seinen Jackentaschen. Er drehte sich noch ein kleines Stück, sah John aber noch nicht, sondern schloss stattdessen die Lider und atmete tief ein. Dann zog er eine kleinkalibrige Pistole hervor.
John stieß einen unterdrückten Schrei aus und zuckte unwillkürlich an seinen Fesseln.
Der Fremde wirbelte aufgeschreckt herum, sprang auf, fuchtelte dabei wild mit den Armen und wollte seine Schusswaffe in Richtung Gefesselter entladen. Die Sicherung des Schießeisens hinderte ihn daran.
Beide Männer, geschockt bis ins Mark, sahen sich eine Weile einfach nur an. Der Fremde hatte große hervortretende Augäpfel mit tiefdunklen Augenringen. Er war nicht nur nachlässig, sonder schlampig gekleidet, mit dreckiger Jacke und einem beflecktem Hemd darunter, welches nur zum Teil in die locker sitzende Jeans gestopft war. Auch die Haare standen ungepflegt zu allen Seiten ab. Ihm gelang es zuerst, den Kloß im Hals herunter zu schlucken: „Was machen Sie hier,“ fragte er mit sich überschlagener Stimme. „Sie sollten gar nicht hier sein. Nicht heute, nicht hier.“
John verstand es nicht ganz, gab dem Kerl aber nur zu gern Recht. Er wäre jetzt wirklich gern ganz woanders.
„Aber keine Sorge“, fuhr der Nervöse fort, „Dave wird es für uns alle beenden. Dave macht das.“ Während er sprach zitterte sein ganzer Körper. „Er befreit auch Sie.“
John stieß unter aufkeimenden Tränen ein bebendes: „Bitte töten Sie mich nicht...“, hervor. Zu mehr war er kaum mehr im Stande. Massive Angst blockierte jegliches hoffnungsvolles Denken.
Beinah schon mit einer bübischen Vorfreude nickte der Fremde und wandte sich wieder der Tür zu. Er verschwand nach draußen.
Alles was darauf geschah lief einem Film gleich vor John ab, ohne, dass er es anhalten, verhindern oder gar begreifen konnte. Hilflos war er dazu verdammt, es mit erleben zu müssen und niemals vergessen zu dürfen.
Die Dusche rauschte weiter, verstummte. Nur die leise Musik und die gedämpften Geräusche der Außenwelt, ersehnten Außenwelt, waren zu hören. Ein kurzer Schrei wurde von zwei erschütternden Explosionen untergraben. John zuckte mit jedem Schuss so brutal zusammen, dass er sich beinah die Schultern ausrenkte.
Die Tränen quollen ihm heiß brennend aus den Augenwinkeln ohne das er sie beachtete. Auch als der Fremde mit dem nackten leblosen Körper Cynthias über der Schulter liegend hereinkam, verzog John keine Miene. Ihrer, von zwei grotesken schwarzroten Sonnen zerfetzter Rücken war ihm zugewandt. Deutlich waren gesprengte Fleisch- und Knochenreste zu erkennen, die an teilweise verkohlten Hautlappen herabhingen. Das Blut sickerte ihr in Richtung Kopf, staute sich in den Haaren, lief die hin- und herpendelnden Arme hinab.
Der Fremde/Dave(?) legte sein Opfer behutsam ab, lehnte es ans Bett und flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr. Dann erhob er sich und verließ das Zimmer mit schnellen Schritten.
Johns Film begann wieder feste und reale Formen anzunehmen. Das Gefühl, ungewollt Zuschauer zu sein nahm ab, stattdessen glitt er in die Position des Hauptdarstellers. Gefesselt, alleingelassen. Sein Herzschlag beruhigte sich. Er hatte noch immer Angst. Doch die Abwesenheit der unmittelbaren Bedrohung segnete ihn mit einer zierlichen Hoffnung auf Befreiung und erwachen aus dem Alptraum.
Ihr Kopf zuckte.
John sah Cynthias blutgefärbten Kopf zwischen seinen Füßen hindurch zucken. Mit wütendem Hämmern schlug er gegen das Metallgestell am unteren Ende des Bettes. Dazu kam noch ein gurgelndes Husten aus ihrer Richtung. Sie lebte... sie starb.
Mit einer unerschütterlichen Klarheit sah er die Frau vor sich sterben und keine Möglichkeit es zu verhindern. Ihr Tod schien über das Bett zu kriechen und John mit aufsaugen zu wollen, nach ihm zu greifen. Panik kreischte in seinen Schädel, wieder zerrte er an seinen Fesseln, nur diesmal ohne es zu kontrollieren denn jeder Muskel in seinem Körper versuchte offenbar sich brutal vom Knochen zu trennen. Er bekam einen Arm frei, war allerdings nur noch dazu in der Lage, damit nutzlos durch die Luft zu fuchteln.
Und während John, sich selbst haltlos besudelnd und dem qualvoll schleppenden Tod eines fast fremden Mädchens beiwohnend, auf dem Bett lauthals wirre Laute schrie blieb ihm einzig die Hoffnung, dass sich die Ohnmacht irgendwann seiner erbarmen würde.