Was ist neu

Gegen Null

Beitritt
19.06.2001
Beiträge
2.198
Zuletzt bearbeitet:

Gegen Null

Nachts zu arbeiten brachte eine Menge Vorteile mit sich. Am meisten schätzte Vincent Ortega, dass er so gut wie keinem Menschen begegnete. Das war schon ungewöhnlich, in einem Moloch, der knapp vierzehn Millionen Individuen gefangen hielt. Aber es gab Freiräume, Stellen, die den Moloch nicht besonders interessierten. Parkhäuser zum Beispiel, oder Brücken, vielleicht auch Gotteshäuser. Ganz sicher aber ein Supermarkt drei Stunden vor Sonnenaufgang. Und ganz besonders, wenn in so einem Supermarkt ein Erdenbürger wie Vincent Ortega gerade die Personaltoilette geduldig und ohne Flüche auskommend von Scheißeresten befreite. Dennoch empfand Vincent seinen Job nicht als besonders schlecht. Sicher, die Bezahlung war unwürdig, es gab keinerlei Vergünstigungen, geschweige denn so etwas wie eine Art Krankenversicherung, und niemals würde Vincent jemals aus dem Schatten hinüber ins Licht wechseln können. Unsichtbare Fesseln hielten ihn auf der dunklen Seite des Lebens gefangen, Fesseln, die man nicht sprengen konnte, selbst wenn man zehn Menschenleben zur Verfügung hätte. Aber es war okay. Vincent war zufrieden. Wenn man nicht zuviel erwartete, konnte man nicht enttäuscht werden. Die Putzfirma war klein und unbedeutend, geradezu perfekt für einen wie Vincent. Früher, da gab es Träume von schnellen Autos, Jetset und dem ganzen Mist. Highschoolzeiten, Kinderkram, Teenagerphantasien, lange her... Er war nun schon deutlich über vierzig, und wenn er Glück hatte, so würde er in knapp zwanzig Jahren einfach so sterben, wie sein Leben verlaufen war: unspektakulär, bedeutungslos, uninteressant. Er arbeitete am liebsten nachts, was eine Menge Vorteile mit sich brachte. Und am meisten schätzte Vincent Ortega wirklich, dass er so gut wie nie einem Menschen begegnete.

Kurz vor Sonnenaufgang hatte er die Reinigung des Supermarkts geschafft. Zufrieden zündete sich Vincent eine Zigarette an, inhallierte tief und blies den Qualm Richtung Himmel. Bis nach Hause waren es ungefährt fünfzehn bis zwanzig Minuten Fußmarsch, je nach Wetterlage. Wenn starker Wind und zermürbender Regen zusammen wirkten, konnte sich die ganze Sache auch schon mal auf dreißig Minuten ausdehnen. Unterwegs würde er wie immer bei seiner Putzfirma vorbeikommen, um seine Reinigunsquittung in den Briefkasten zu werfen. Anfangs hatte er nicht verstanden, warum er das machen sollte. Schnell fand er heraus, dass es für die Entlohnung wichtig war. Mehr brauchte er nicht, mehr wollte er nicht wissen.
Die Putzfirma war in einem halb zerfallenen Giebelhaus beheimatet. Wie eine liebgewonnene Marotte streckte Ortega den Arm nach vorn, holte tief Luft, und warf das Stück Papier in den Schlitz des Briefkastens. Es gab ein komisches Geräusch, als ob jemand einen Zettel auf die Straße geworfen hatte. Ortega sah nach unten. Die Quittung lag auf den schmutzigen Stufen des Eingangs. Verdutzt hob er den Zettel auf, und dann bemerkte er, dass der Briefkasten verschwunden war. "Das hat mir gerade noch gefehlt", murmelte Vincent, steckte die Quittung in die Jackentasche und ging weiter. Er war hundemüde und wollte nur noch schlafen. Die Sache mit der Quittung würe er morgen klären. Es war nicht mehr weit. Von irgendwoher hörte er einen leisen Donnerhall, schenkte dem Geräusch aber keine weitere Beachtung. Ein paar Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, standen zwei Männer eng beieinander, einen geradezu absurd großen, kunterbunten Regenschirm gespannt, obwohl es nicht regnete. Flüchtig gesehen konnte man sie für ein schwules Pärchen halten, aber irgendwas war anders. Vincent zuckte mit den Schultern und kümmerte sich nicht weiter um die Männer. Bevor er um die Ecke bog, sah er aber doch noch einmal zurück. Die Männer waren verschwunden, nur noch der bunte Regenschirm lag auf der Straße. Vincent schüttelte den Kopf und beeilte sich, endlich nach Hause zu kommen.

Schlaftrunken stand er nackt in seiner kleinen, mit billigen Katalogmöbeln ausgestatteten Wohnung, starrte aus dem Fenster rüber zur Skyline, bewunderte die perfekte Symetrie der fünf Memorial-Towers auf der anderen Seite des Flusses, und holte sich einen runter. Als er fertig war, wischte er alles weg und legte sich ins Bett. Eine Zeit lang starrte er hoch zur Decke, beobachtete die unzähligen Fliegen und Maden, die seit jeher seine Wohnung für sich in Anspruch genommen hatten, grübelte über Dinge, die es eigentlich nicht wert waren, dass man sich Gedanken darüber machte. Als er schließlich einschlief, begann es zu regnen.

Ein paar Stunden später wurde Vincent von lautem Donner aus dem Schlaf gerissen. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Zunächst etwas orientierungslos, wie immer, wenn er aufwachte, richtete sich Vincent auf und sah zum Fenster. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte, dass er zwei Stunden früher als sonst aufgewacht war. Menschliche Bedürfnisse forderten ihren Tribut, und so schleppte sich Vincent gähnend zur Toilette. Mit einer Hand stützte er sich gegen die Wand. Aber anstatt des vertrauten Klangs von Urin auf Keramik, ertönte der ungewohnte Klang von Urin auf Sand. Vincent war dermaßen überrascht, dass er weiter auf die Stelle pinkelte, an der sich eigentlich seine Toilette befinden mußte. Doch sie war weg. Einbrecher, dachte Vincent wütend. Verfickte Nigger, die sein Scheißklo geklaut hatten. Nur wozu? Warum sollte jemand eine versiffte Toilette klauen, und ausgerechnet die von Vincent Ortega? Und was sollte dieser gelbe Sand? Zurück im Wohnzimmer sah er sich genau um. Alles schien so wie immer zu sein. Hier fehlte nichts. Auch in der Küche hatte sich niemand zu schaffen gemacht. Was sollte das? Wer zum Teufel machte so etwas? Und dann bemerkte er es. Die Fliegen waren weg, die dicken Maden verschwunden. Und es stank nicht mehr so. Vincent setzte sich erschöpft auf den alten Klappstuhl und kratzte sich hilflos am Kinn. "Ich gebs auf..."

Später fragte er die freundliche Miss Weinstein von nebenan, ob sie etwas ungewöhnliches bemerkt hatte.
"Nichts weiter als sonst, Vincent", sagte sie und lächelte ihn an.
Er hasste die fette Frau mit ihren verfilzten Haaren und dem ausgewaschenem Mantel, den sie immer trug. "Danke, Miss Weinstein." Vincent machte sich auf den Weg zur Arbeit. Sie rief ihm noch etwas hinterher, aber bis auf die Worte Regen und Donner verstand er nichts weiter. Draußen regnete es noch immer.

***

Dreißig Minuten Fußmarsch durch strömenden Regen brachten Vincent folgende Erkenntnis: Verschwunden waren unter anderem die Sowoil-Tankstelle an der Ecke, der Zeitungsstand von Willie Newman, sämtliche Verkehrsschilder, Sandys vorzügliches Diner mit dem besten Kaffee auf der ganzen Welt, und, besonders bedauerlich, das Haus von Elma Durrington. Nicht, dass Vincent Elma Durrington persönlich kannte, jedoch sah er fast jeden Tag, wie sie nackt am Fenster stand und ihren begehrenswerten Körper jedem zeigte, der es sehen wollte. Oft hatte er sich abends selbst befriedigt und sich dabei vorgestellt, wie es wohl wäre, Elma Durrington zu ficken, ihr ins Gesicht zu spritzen und sie zu lecken. Nirgends war Polizei zu sehen, keine aufgebrachte Menschenmenge, die nach kurzer Diskussion den nächstbesten Nigger, der das Pech hatte, zufällig anwesend zu sein, tot prügelte. Vincent stellte fest, dass es offensichtlich niemanden interessierte, dass Dinge einfach so verschwunden waren. Es ging ja nicht nur um seine beschissene Toilette. Bestandteile des öffentlichen Lebens gab es nicht mehr, und zumindest das sollte doch das FBI hervorzaubern, mit Männern und Frauen mit wichtigen Ausweisen und mit beeindruckenden Handfeuerwaffen ausgestattet. Aber es interessierte wirklich niemanden. Und dann stellte Vincent Ortega fest, dass drei der fünf Memorial-Tower nicht mehr existent waren. Dafür gab es jede Menge Regenschirme, die riesengroß und grotesk bunt waren, und auf gelben Sand lagen. Ohne großartig nachzudenken, schnappte sich Vincent einen der Regenschirme. Dann war er auch schon bei seiner Putzfirma angelangt.

"Gab es einen Terroranschlag?", wollte er von Julia wissen. Er nahm sich ein Papiertuch und wischte sich den Regen aus dem Gesicht.
"Nö, wie kommst du da drauf?" Julia saß wie immer gelangweilt am einzigen Computer der Putzfirma und spielte irgendein Online-Kartenspiel, anstatt sich um die Lohnabrechungen zu kümmern. "Wo bekommt man denn so einen, öhm... schwulen Regenschirm?"
"Ach..." Er warf den Schirm neben die Tür. Vincent holte die etwas angeweichte und leicht zerknitterte Putzquittung aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Monitor. "Der Briefkasten ist weg", bemerkte er und versuchte, sich seine aufkeimende Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. ("Und nicht nur das, du faules Stück von einer hirnamputierten Sekretärin, stell dir vor, da haben Irre die Memorial-Tower einfach so weggezaubert. Ha! Was sagts du nun?") "Deshalb kann ich die Quittung erst..."
Julia unterbrach ihn. "Was für ein Briefkasten, Vince? Was redest du da?" Sie lehnte sich etwas zurück und verschränkte die Arme vor ihren schlaffen Brüsten. "Wir haben keinen Briefkasten."
Vincent nickte bedächtig. "Klar, und Sandys Diner gibt es natürlich auch nicht." Das war sein Trumpf. Er wußte, wie sehr Julie den Kaffee aus Sandys Diner liebte. Das wars, dachte er, jetzt muß selbst eine doofe Nuss wie Julia Tripplefood merken, dass hier einiges aus dem Ruder geraten ist. Seine aus seiner Sicht berechtigte Hoffnung erfüllte sich leider nicht.
"Sandys Diner, hm?" Julia verzog ihr kindliches Gesicht. "Was kommt als nächstes, Vince? Telefonzellen, die sich in kleine grüne Marsmännchen verwandeln und mich entführen?" Sie winkte ab. "Komm schon, wenn du krank machen willst, lass dir was besseres einfallen, okay? Ich mag vielleicht nicht klug sein, aber dumm bin ich auch nicht." Sie nahm die Quittung und legte sie auf einen Stapel Papier neben sich. "Okay, Vince. Jeder hat mal einen schlechten Tag, aber das ist kein Grund, mich verarschen zu wollen." Kopfschüttelnd zeigte sie auf den Kalender an der Wand. "Norrington ist dran. Kent macht das Untergeschoss, du die oberen Etagen. Da wirst du bis heute abend beschäftigt sein. Ist ein großes Kaufhaus, die machen Inventur, deshalb haben die heute zu. Ein großer Auftrag für unsere kleine beschauliche Firma. Schaffst du das, Vince? Ich gehe davon aus, sehr gut. Und danach noch die übliche Tour durch Chinatown. Wenn du dich ranhälst, kommst du ausnahmsweise mal vor Mitternacht ins Bett." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich meine, mir ist es egal. Aber ich denke, auf Dauer ist es ungesund, nur vier bis fünf Stunden Schlaf zu haben, findest du nicht?"
Vincent wußte nicht, ob er weinen, oder lachen sollte. Ein letztes As hatte er noch im Ärmel, das er ausspielen konnte. Er beugte sich nach vorn und sagte leise: "Was ist mit den Wolkenkratzern?"
Langsam stand Julia auf. "Du machst mir Angst."
"Tue ich das, ja?"
"Ja." Sie ging zum Fenster und sah nach draußen. Nach etwa fünf Sekunden drehte sich sich um. "Du gehst jetzt besser, Vince. Oder ich sage Dan, dass du den Verstand verloren hast."
"Ich habe den Verstand verloren?" Vincent ging zu Julia und deutete aus dem Fenster. "Siehst du das nicht? Die sind einfach weg! Da sind nur noch zwei von fünf!" Er schnippte mit den Fingern. "Einfach so!" Wütend schlug er mit der flachen Hand gegen das Fenster. Sekundenbruchteile später ertönte gewaltiger Donner. Als er zu den Memorial-Towern sah, stand nur noch einer. Nur einer von fünf. "Das kann doch alles nicht wahr sein, verdammte Scheiße!"
Julia berührte Vincent sanft am Arm. "Keine Ahnung, was mit dir los ist. Pass auf, du machst den Tag heute noch, und danach nimmst du dir einen Tag frei. Ich klär das mit Dan. Einverstanden?"
Ein kurzer Blick genügte, und Vincent hatte registriert, dass es den Computer, den Feuerlöscher neben der Tür, die vier rostigen Stühle und die ganzen Klatschmagazine nicht mehr gab. Langsam aber sicher zweifelte er an seinem Verstand. Es kostete ihn unglaublich Kraft, zu sagen: "Klar, ich pack das schon. Und danke für den freien Tag." Er bemühte sich wirklich.
Julia nickte zufrieden. "Okay."
"Ja, okay." Dann erzählte er ihr, wie sein Tag bisher verlaufen war.

Als er gehen wollte, fragte Julia doch noch einmal nach: "Ich meine... Tankstellen, die verschwinden, dieses Diner, dieser Zeitungsstand, und dann..." Sie hielt inne und sah verlegen nach oben.
"Meine Toilette, Julia."
"Richtig, deine Toilette, Vince. Ich meine, ist das einfach alles weg? Oder..." Sie sprach nicht weiter.
Und Vincent erkannte das erste Mal, dass hinter dieser Julia Tripplefood mehr steckte, als er, und auch die anderen, bisher wahrgenommen hatten. Keine Südstaatenschönheit, keine Frau mit hohem Wissen, aber dennoch ein Mensch, der sich zumindest bemühte, so etwas wie Verständnis zu zeigen, auch wenn es alles andere als leicht war. "Weißt du, Julia, ich denke, es ist nur ein böser Traum, ein sehr realistischer Traum. Die Sorte Traum, aus der man durch Kneifen und kaltes Wasser nicht erwacht. Und, ich meine..." Er zeigte zu ihrem Schreibtisch. "Du machst das alles ohne Computer, richtig?"
Sie nickte. "So mache ich das schon immer. Ich hasse Computer, ich kann diesen teuflischen Dingern einfach nichts abgewinnen."
Vincent atmete tief durch. Die Sache war größer, als es sein Verstand zuließ. Zum Verzweifeln. "Ich mache jetzt die Reinigung bei Norrington, dann Chinatown. Und dann mache ich einen Tag frei."
"Ja, mach das, Vince. Und keine Sorge wegen Dan, ich klär das."
"Ja."
"Eine Frage noch."
"Ja?"
"Wenn das alles stimmen sollte. Ich meine, ist dann da ein schwarzes Loch, oder so etwas?"
Vincent runzelte die Stirn und sagte leise: "Nein, nur gelber Sand und diese bunten Regenschirme."
Julia sah zum Schreibtisch. "Oh..." Jetzt wirkte auch sie leicht verunsichert.
Vincent öffnete die Tür. "Die Quittung, die geb ich dann dir morgen?"
"Vince..." Julia wirkte nur noch hilflos. Sie sah so aus, wie Vincent sich fühlte. "Was für eine Quittung?"
Bevor er eine Antwort geben konnte, gab es erneut dieses unheimlich laute Donnergeräusch. Vincent stand in einem leeren Büro, dessen Boden mit gelbem Sand bedeckt war. An den Wänden stapelten sich Regenschirme. Regen peitschte gegen die Fensterscheiben. Er sank auf die Knie und schlug zornig auf den Boden. Irgendwie, aus einem nicht nachvollziehbaren Grund, war er in eine Sache geraten, die völlig absurd war. Möglicherweise hatte Julia Recht gehabt, und kleine grüne Marmännchen wichsten sich in diesem Moment auf ihrem unsichtbaren Raumschiff einen ab, während sie auf einem Großbildfernseher dabei zusahen, wie er, Vincent Ortega, sich zum Versuchsaffen machte. Mühsam rappelte er sich auf und verließ schnell das Büro.

***

Kaum, dass er das alte Giebelhaus verlassen hatte, wurde auch dieses durch Sand und Regenschirme ersetzt. Es war nicht einfach für einen wie Vincent, zu akzeptieren, dass seine bisherige Welt nur noch aus Sand und Regenschirmen bestand. Gelber Sand. Große, kunterbunte Regenschirme. Wohin sollte er jetzt gehen, wo es nichts mehr gab, wohin er gehen konnte? Und warum ausgerechnet er? Plötzlich hörte es auf zu regnen. Augenblicklich verschwanden die dunklen, bedrohlichen Wolken und die Sonne kam zum Vorschein. Er sah nach oben und hielt sich die Hand schützend vor Augen.
"Hallo Vincent."
Erschrocken drehte sich Vincent um und ging einen Schritt zurück. Er stolperte über einen Regenschirm und landete unsanft im Sand. Vor ihm stand ein Mann im dunkelroten Anzug, auf dem Kopf eine Mütze von den Okawa Fighters, World Series Champions 2008. "2008?" Er war froh, überhaupt ein Wort herauszubekommen.
Der Mann lächelte und nahm die Mütze ab. Sein Kopf war kahlgeschoren, kleine Narben waren auf der ledrig wirkenden Haut zu sehen. "Guter Jahrgang", bemerkte er trocken und warf die Mütze weg. Dann streckte er Vincent die Hand entgegen. "Darf ich Ihnen auf die Beine helfen?" Die Finger des Mannes waren dünn und lang, und die Fingernägel...
Angewidert schüttelte Vincent den Kopf. "Was zum..."
"Ja, Vincent." Beschwichtigend winkte der Mann ab. Er zeigte auf den Sand und auf die unzähligen Regenschirme. "Geradezu beängstigend, oder?" Einen Augenblick lang schien er zu zögern, doch dann setzte er sich zu Vincent in den Sand. "Stellen Sie sich mal vor, Sie führen ein ganz normales Leben. Und dann, eines Tages, gerät alles außer Kontrolle und nichts ist mehr so, wie es einmal war. Können Sie sich das vorstellen?"
Vincent hustete und rutschte etwas von diesem unheimlichen Mann weg. Er war nicht in der Lage aufzustehen. Seine Beine versagten ihm den Dienst. "Wissen Sie...", stammelte er. "Ich befinde, nein, wir... wir befinden uns gerade in so einer Situation."
"Oh, ja, ja natürlich." Lächelnd nickte der Mann. "Da haben Sie Recht."
So gut es ging, versuchte Vincent sich seiner extremen Situation bewußt zu werden. Aber je mehr er darüber nachdachte, um so sinnloser, so unlogischer wurde es. Es gab keine rationale Erklärung dafür, dass Dinge verschwanden, und Unmengen von Sand und Regenschirmen ihren Platz einnahmen.
Der Mann im dunkelroten Anzug stand auf und klopfte sich Sand von der Hose. "Sehen Sie, natürlich ist es nicht einfach, das alles zu verstehen." Er deutete in eine unbestimmte Richtung. "Kommen Sie, lassen Sie uns ein Stückchen gehen. Unterwegs dürfen Sie mir zuhören." Es klang nicht wie eine Bitte. Es klang eher wie ein Befehl.
Ob er wollte, oder nicht, Vincent wurde wie von Geisterhand nach oben gezogen.
"Gut so", sagte der Mann amüsiert. "Mein Name ist übrigens Mister Drey."
"Vincent Ortega", sagte Vincent. "Aber das wußten Sie ja bereits."

Auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel lief Vincent Mister Drey hinterher. Dieser redete und redete, mal leiser, mal lauter, mal sanft, dann wieder bedrohlich, aber stets irgendwie allwissend.
"Es wäre für Sie bestimmt einfacher, wenn ich sagen würde, dass ich Gott sei. Oder der..., wie sagt man... der Teufel? Wäre es das für Sie?"
"Ich bin nicht religiös." Erstaunlicherweise verhielt es sich so, dass, je länger sie gingen, um so einfacher es für Vincent war. Bald kam es ihm vor, als ob sie auf einem Laufband standen, welches, unsichtbar im gelben Sand, sie beförderte.
"Nun ja, wie wahr. Aber wäre es nicht sinnvoll, dies als Tatsache anzuerkennen? Wäre nicht einzig Gott in der Lage, vierzehn Millionen Menschen in Nullkommanichts verschwinden zu lassen?" Mister Drey wartete eine Antwort von Vincent nicht ab und redete weiter. "Ach, es ist ja auch egal. Die Sache ist die, Vincent, momentan besteht hier alles nur aus Sand und Regenschirmen. Kein Mensch hätte sich darüber aufgeregt, schließlich ist ja keiner mehr da. Und nicht nur die Menschen. Das komplette Ökosystem ist nicht mehr existent. Bis auf, tja... bis auf Sie, Vincent. Was verwunderlich ist, denn es gibt ja auch keinen Sauerstoff mehr, den Sie einatmen können. Was schlußfolgern wir daraus?" Mister Drey blieb unvermittelt stehen und drehte sich zu Vincent um. "Nun?"
"Oh..." Vincent räusperte sich. "Ich träume?"
"Nein, Sie träumen nicht!", blaffte Mister Drey verärgert. "Das hier ist alles Realität. Eine in Ihren Augen sinnlose Realität."
Sie gingen weiter. Vincent hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs waren. Er sah nach oben. Die Sonne hatte sich kein Stück bewegt, stand immer noch im Zenit.
"Es gibt das Universum...", fuhr Mister Drey fort, "Und es gibt andere Universen. Sie bestehen daneben, oder darin. Sie sind voneinander unabhängig. Nur manchmal, da kann es vorkommen, dass sie sich berühren. Dann kann es zu Problemen kommen. Sie verstehen, auf was ich hinaus will?"
Vincent nickte. "Ich glaube, ich..."
"Nein, das tun Sie nicht! Weil Ihr Spatzenhirn überhaupt nicht in der Lage ist, all das zu begreifen. Warum gibt es einen Sonnenaufgang? Warum braucht Leben Wasser? Warum sind die Scheiß Okawa Fighters die beste Baseballmannschaft der Welt? Sie können sich nicht annähernd vorstellen, um was es hier geht."
Vincent blieb stehen. "Wissen Sie..." Er schabte mit dem linken Fuß im Sand. "Sie haben Recht. Ich verstehe es nicht." Dann tippte er sich gegen die Schläfe. "Und warum bin ich so ruhig? Sollte ich nicht ausflippen?"
Mister Drey grunzte verächtlich. "Das würde es mir nur schwerer machen."
Sie erreichten eine Tür, die mitten im Sand stand. Es gab kein Gebäude drumherum, keinen Raum dahinter.
"Vincent, Sie sind ein verdammter Glückspilz."
"Warum?"
"Tja..." Mister Drey kratzte sich mit seinen dreckigen Fingernägeln am Kinn. "Jetzt hören Sie mir mal gut zu, ja? Ganz am Anfang, also wirklich Stunde Null, okay, da gab es so etwas wie einen Plan. Der Plan war gut, beschränkte sich auf ein paar tausend Lichtjahre. Aber, und jetzt kommt das große Geheimnis, man kann nichts kontrollieren. Man hat keinerlei Kontrolle über die Gesamtheit. Und diese nicht vorhandene Kontrolle bewirkt eines Tages, dass sich aus einer Pfütze Bakterien eine raumfahrende Zivilisation entwickelt. Diese nicht vorhandene Kontrolle bewirkt, dass Bäume, Ameisenbären, Atombomben und intelligente Affen sich in gelben Sand verwandeln, und dass bunte Regenschirme vermehrt auftreten. Man kann natürlich versuchen, einen Sinn zu finden. Aber den gibt es nicht, warum auch? Wozu?" Mister Drey grinste. "Und darum bin ich hier, Vincent."
Vincent starrte auf die Tür. Sie sah aus wie die Wohnungstür von Miss Weinstein. Der Türknauf war zerkratzt, an einigen Stellen war das Holz aufgedunsen, und unter dem Spion befand sich ein Schild mit der Aufschrift 'Gott schütze Amerika'. "Warum sind Sie hier?"
"Weil Sie hier sind." Aus unbestimmbarer Entferung erklang Donnerhall. Mister Drey schnippte mit den Fingern und die Tür von Miss Weinstein öffnete sich lautlos. "Nun wird es aber Zeit."
"Moment mal", sagte Vincent. "Was um alles in der Welt geht hier vor?"
Mister Drey schüttelte den Kopf. "Sie haben nicht richtig zugehört, Vincent. Es gibt keine Erklärung für das Warum. Es gibt nur noch das Warum. So war es nach einer kurzen Zeit, und so wird es immer sein." Er zuckte mit den Schultern. "Wenn es Ihnen hilft, dann bin ich das kleine grüne Männchen, dass sich gerade einen runterholt, während Sie sich zum Versuchsaffen machen." Mit diesen Worten schubste er Vincent in die geöffnete Tür.

***

In einem anderen Universum wurde ein anderer Vincent Ortega dadurch aus dem Schlaf gerissen, dass dicke Regentropfen an das Fenster klatschten. Menschliche Bedürfnisse forderten ihren Tribut, und so schleppte sich Vincent gähnend zur Toilette. Mit einer Hand stützte er sich gegen die Wand. Er wußte nicht wirklich warum, aber in diesem kurzen Moment empfand er das Geräusch, was plätscherndes Urin auf Keramik verursachte, als das schönste Geräusch, was er jemals gehört hatte. Als er fertig war, tätigte er zufrieden die Spülung und ging zurück ins Schlafzimmer. Unzählige Fliegen summten, flogen umher, saßen an den Wänden und auf dem Leichnam der jungen Frau, die kopflos auf dem Bett lag. Vincent legte sich zu dem toten Körper und täschtelte diesen. Ein paar Minuten später war er bereits wieder eingeschlafen. Von irgendwoher erklang Donnerhall. Und weil Vincent Ortega schlief, bekam er nicht mit, wie sich der Regen in gelben Sand verwandelte und kunterbunte Regenschirme vom Himmel fielen.


(c) SV

 

Hallo Sebastian,

ich habe deine "gegen Null" genussvoll gelesen. Diese surreal anmaßende Geschichte hat mich regelrecht in ihren Bann gezogen. Lebendig und trotz ihrer Abstrusität nachvollziehbar erzählt.
Die dahintersteckende Idee finde ich gelungen. Für mich ein klares Plädoyier für die Chaostheorie.

Lediglich mit dem Ende bin ich nicht so ganz zufrieden. Die Idee, dass der Prot in einem Paralleluniversum aufwacht, finde ich gut - dass mit diesem dann jedoch das gleiche unwahrscheinliche Phänomen der RegenschirmSandVerwandlung vorgeht, finde ich etwas erzwungen.
Ich habe mich die ganze Zeit beim Lesen gefragt, wie du die Geschichte lösen willst, und habe mich insgeheim schon auf eine Enttäuschung eingestellt, da dieses Szenario relativ schwer zu einem befriedigendem Ende zu führen ist - und so ist es dann auch gekommen.
Passender hätte ich es gefunden, wenn dein Prot plötzlich in einem Universum aufwacht, wo er eine ganz andere Person ist, meinetwegen Chef der Reinigungsfirma oder ähnliches. Das hätte für mich auch den Satz des ominösen Mannes gerechtfertigt, als er sagt, der Prot wäre ein Glückspilz...

Nun ja, vielleicht habe ich auch den entscheidenden Punkt überlesen und dadurch die Geschichte nicht vollkommen verstanden?

Textkram:

einen geradezu absurd großen, kunterbunten Regenbogen gespannt
da habe ich echt gestaunt, wie du so ganz norm al von getragenen Regenbögen erzählst ;)
Es klang wie kein Vorschlag, eher wie ein Befehl.
Das ist sinnentfremdend. Besser: Es klang nicht wie ein Vorschlag, sondern viel mehr wie....
Es gibt keine Erklärung für das Warum. Es gibt nur noch das Warum.
kursiv hervorheben?

Trotz schwächelndem Ende
gerne gelesen

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer,

ich habe das Ende ein klein wenig geändert, vielleicht kommt es jetzt besser rüber, dass im Chaos oftmals die selben Dinge an völlig anderen Orten passieren können.

Wenn es dich unterhalten hat, prima. Die Frage, ob du es verstanden hast, erübrigt sich, denn mal ganz ehrlich: Wie soll man denn bitteschön diese Absurdität, in der sich der Protagonist befindet, vernünftig erklären können? Und soll man das überhaupt?

Gruß,
SV

 

Hallo Sebastian,

das war aber wirklich eine klitzekleine Änderung. Ich habe da keinen Unterschied rausgelesen...
Kann aber, wie gesagt, auch so stehenbleiben *huldvoll nick*

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo, Poncherie (tut mir Leid, aber für mich bleibst du Poncher ;) )!
Schön, mal wieder etwas von dir zu lesen. Eine sehr schöne, an Philip K. Dick erinnernde Story rund um Realitätsverzerrung. Wenn ich das richtig interpretiere, geht es um die Multiversen-Idee. Eine "richtige" Erklärung ist meiner Ansicht nach auch überhaupt nicht nötig: Der Schluss bleibt offen und ist in diesem Fall durchaus stimmig, weil die ganze Story in einem anderen Universum als unserem zu spielen scheint.
Geschrieben ist das Ganze sehr flott und - dankenswerterweise - ohne ständiges Fluchen und die üblichen Klischeefiguren.
Kein Meisterwerk, aber ein solide geschriebener, surrealer Text, bei dem man an keiner Stelle ins Stocken gerät. :thumbsup:
Schön, dass du mal wieder was von dir hören lässt.

Eine kleine Anmerkung:

warf das Stück Papier in den Schlitz des Briefkastens. Es gab ein komisches Geräusch, als ob jemand einen Zettel auf die Straße geworfen hatte

Einen auf die Straße geworfenen Zettel hört man nicht. Der segelt lautlos zu Boden.

 

Tag Ösi,

das mit dem Papier ist tatsächlich ein wenig bescheuert, jedoch ist es für die Dramatik wichtig. Jau, Weltenläufer und du haben das schon richtig erkannt, die Sache mit den verschiedenen Universen.

Danke für die Empfehlung.

Gruß
SV (der für Rainer immer Ponch bleiben wird. :D )

 

Sebastian Venohr schrieb:
das mit dem Papier ist tatsächlich ein wenig bescheuert, jedoch ist es für die Dramatik wichtig.

Hm. Ich überlege gerade, ob es nicht reichen würde, dass der Briefkasten nicht da ist? Die Handbewegung ist automatisiert, aber man würde schon merken, dass kein Briefkasten mehr da ist.

Danke für die Empfehlung.

Bitte! Hast du dir verdient.

SV (der für Rainer immer Ponch bleiben wird. :D )

Definitiv! Man gewöhnt sich an die Usernamen. Stell dir vor, ich würde mich mit meinem richtigen Namen (Rüdiger Rollmops) anmelden. Das wäre doch sehr verwirrend, oder?
Schön, dass du wieder hier bist.

 

Das wäre in der Tat sehr verwirrend, zumal ich niemals Geschichten von einem lesen würde, der Rüdiger Rollmops heißt.

Schön, dass du wieder hier bist.
Ja, mal schauen, wie lange die Phase anhält.

Jetzt aber genug, schließlich will ich keinen Anschiss wegen Off-Topic riskieren. :lol:

 

Hallo Sebastian,

aus naheliegenden Gründen wollte ich mal wissen, was Du so schreibst. Kurzkritik vorweg: die Geschichte gefällt mir seeehr gut. Das hat vor allem damit zu tun, weil ich ebenfalls eine Story ("war da was") hier drin veröffentlicht habe, bei der alltägliche Dinge um eine Person Stück für Stück verschwinden. Deine Geschichte hat allerdings eine völlig andere Intention und nimmt einen anderen Verlauf.

Zwischendurch dieses hier:

um seine Reinigunsquittung in den Briefkasten zu werfen. Anfangs hatte er nicht verstanden, warum er das machen sollte. Schnell fand er heraus, dass es für die Entlohnung wichtig war.
Da fehlt ein "g".
Außerdem: geht es tatsächlich um eine Quittung (= Bestätigung für den Erhalt von Geld) oder um eine Rechnung (Geld, das er anfordert)?

Es gab ein komisches Geräusch, als ob jemand einen Zettel auf die Straße geworfen hatte.
Wenn ein Zettel auf die Straße geworfen wird, ist dies meiner Meinung nach so gut wie geräuschlos. Wenn, dann klingt es zudem draußen auch anders als drinnen. Eher noch macht es ein Geräusch, wenn etwas in einem Briefkasten landet. So ein Geräuscht könnte man vermissen.

Die Quittung lag auf den schmutzigen Stufen des Eingangs. Verdutzt hob er den Zettel auf, und dann bemerkte er, dass der Briefkasten verschwunden war. "Das hat mir gerade noch gefehlt", murmelte Vincent, steckte die Quittung in die Jackentasche und ging weiter. Er war hundemüde und wollte nur noch schlafen. Die Sache mit der Quittung
Dreimal "Quittung" in drei Zeilen. Weiß ja nicht, ob das stilistisch beabsichtigt war.

Männer eng beieinander, einen geradezu absurd großen, kunterbunten Regenschirm gespannt, obwohl es nicht regnete. Flüchtig gesehen konnte man sie für ein schwules Pärchen halten, aber irgendwas war anders. Vincent zuckte mit den Schultern und kümmerte sich nicht weiter um die Männer. Bevor er um die Ecke bog, sah er aber doch noch einmal zurück. Die Männer
Wieder eine auffällige Wortwiederholung. Warum nicht mal "Gestalten", "Personen", die "Beiden" oder so...

ausgestatteten Wohnung, starrte aus dem Fenster rüber zur Skyline,
Abgesehen davon, dass dieses umgangssprachliche Wort zum Text nicht passt. "rüber" heißt ja "herüber", was wiederum "zu sich her" bedeutet. Korrekt wäre an dieser Stelle "hinüber".

Schlaftrunken stand er nackt in seiner kleinen, mit billigen Katalogmöbeln ausgestatteten Wohnung, starrte aus dem Fenster rüber zur Skyline, bewunderte die perfekte Symetrie der fünf Memorial-Towers
Symmetrie

Eine Zeit lang starrte er hoch zur Decke, beobachtete die unzähligen Fliegen und Maden
Maden? Wegen der Leiche am Schluss kann ich nachvollziehen, dass es Maden gibt - aber oben an der Decke?

Wenn du dich ranhälst, kommst du ausnahmsweise mal vor Mitternacht ins Bett
ranhältst

versuchte Vincent sich seiner extremen Situation bewußt zu werden. Aber je mehr er darüber nachdachte, um so sinnloser, so unlogischer wurde es. Es gab keine rationale Erklärung dafür, dass Dinge verschwanden,
Mal alte, mal neue Rechtschreibung

Gut so", sagte der Mann amüsiert. "Mein Name ist übrigens Mister Drey."
Auf das "Mister" würde ich verzichten. Wirkt komisch. Niemand würde sagen, "Guten Tag, mein Name ist Herr Meier".

Noch ein paar Fragen: warum sucht sich Mister Drey ausgerechnet einen Kloputzer für dieses aufwändige "Experiment" aus? Warum gerade Vincent?
Rubrik "Seltsam" hin oder her: was soll die tote kopflose Frau?

Besten Gruß
nic

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom