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geh' lieber zum Bund
„Dieter, ich will sterben“, sagte mir Frau Schawan eiskalt.
„Wie bitte?!“ Selbst nach sechs Monaten im Dienst schafften es die Alten immer wieder, mich zu überraschen. „Frau Schawan, Sie irren sich. Sie mögen es doch hier im Altersheim.“
„Nein, Dieter, ich habe lange darüber nachgedacht und ich will sterben.“
Ich fühlte mich schon wieder überfordert. Ich war Zivildienstleistender und kein Psychologe. Was sagt man denn da?
„Ach Frau Schawan, was betrübt sie denn? Sie sind doch sonst immer so fröhlich. Kann ich Ihnen was bringen?“
Frau Schawan schaute mir in die Augen und ihr Blick härtete sich. Ihr faltenüberzogenes Gesicht durchbohrte mich förmilich. Ich war überwältigt. Die Frau war 88 Jahre alt und stark von Alzheimer geplagt. Am selben Morgen hatte ihr Krähen noch die gesamte Station aufgeweckt. Manchmal bildete sie sich ein, sie sei ein Gockel. Jetzt spürte ich eine Entschlossenheit und eine Klarheit in ihren Augen, die mir unter die Haut ging.
„Ich will, dass du was anderes für mich machst. Ich will, dass du mich tötest“, sagte sie mit einer kühlen Sachlichkeit.
„Was?“ Ich konnte es nicht glauben.
„Jetzt hör mir gut zu, Dieter.“, sagte sie und wedelte dabei mit dem Zeigefinger. „Ich weiß, du denkst ich bin verrückt, aber die eine oder andere Sache verstehe ich schon noch. Ich leide, Dieter. Ich kann ohne fremde Hilfe kaum noch auf die Toilette. Ich habe überall Schmerzen und sollte meine Familie mich doch mal besuchen, erkenne ich sie kaum noch. Ich bin eine wandelnde Leiche. Ein Überbleibsel aus einer vergegangen Zeit, die nicht mehr ist. Ich habe keine Lust mehr. Darum habe ich mich entschieden, in die Nachwelt zu wandern.“ Frau Schawan pausierte. Das viele Reden war anstrengend gewesen. Aber sie machte sogleich weiter, plötzlich sehr betrübt: „Weiß du, wenn man so alt ist wie ich, hat man sehr viel Tot erlebt. Meine Eltern, meine Schulkameraden, meine Freundinnen, alle meine Liebhaber, und auch mein Mann, alle gehören jetzt der Nachwelt an. Ich vermisse sie, Dieter, aber ich kann sie ja wiedersehen, nicht wahr? Wenn ich tot bin komme ich auch dorthin, richtig? Wer weiß, vielleicht bin ich dann nicht mehr so alt. Vielleicht werde ich wieder ein hübsches junges Mädchen sein, wie ich es einst war. Was meinst du?“
Ich war schockiert. „Naja... ich denke... vielleicht...“.
„Ach, ist mir doch egal was du denkst“, zischte Frau Schawan dazwischen. „Schlechter als es hier ist kann es doch unmöglich sein. Mein einziges Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich mich umbringen soll. Außerdem wird so ein Freitod nicht sonderlich gern vom lieben Gott gesehen. Darum wirst du mich töten.“
Jetzt reichte es mir. Die Situation war unheimlich genug. Mein Vorgesetzter sollte es regeln. Ich drehte mich um zum Gehen. Ich war vielleicht zwei Schritte gelaufen als mich Frau Schawan am Arm packte. Sie war wie eine Katze aus dem Stuhl aufgesprungen, auf dem sie gesessen war, und nun klammerte sie sich an meinen Arm mit einer unglaublichen Kraft. Dass sich Frau Schawan überhaupt so schnell bewegen konnte war erschreckend genug, aber als ich ihr in die Augen schaute, bekam ich richtig Angst. In ihren Augen lag der pure Fanatismus. Ihr Gesicht war total angespannt und sie fletschte ihre Zähne wie ein Wolf. Eine Reihe gelber Zähne kam zum Vorschein. Es war eine wahrhaft schreckenerregende Grimasse. Die zierliche alte Frau hatte sich, so kam es mir vor, in ein Monster verwandelt.
„Jetzt hör mir gut zu“, sagte sie und auch ihre Stimme hatte einen schrecklichen Unterton, „wenn du mich nicht tötest, dann töte ich dich!“
Ich löste mich von ihrem Griff und stolperte rückwärts. Sie war vielleicht verrückt aber sie meinte es ernst. Irgendwie wusste ich es. Dieser Blick...
Und dann lachte sie einfach los. Eine furchterregende boshafte Lache. Wie eine Hexe. Ich fühlte mich ein Kleinkind. Ich wollte schon schreien. Und dann, ohne Vorwarnung, war die Hexe weg. Frau Schawan setzte sich wieder hin, schaute um sich und krähte los. „Ki kiri kiiiiii, ki kiri kiiiiii...“
„Ach Herr Gott! Jetzt geht das schon wieder los.“, sagte ein alter Mann in meiner Nähe.
In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. Immer wieder schoss mir das Bild von Frau Schawans Gesicht durch den Kopf. Am nächsten Morgen suchte ich meinen Vorgesetzten auf.
„Herr Fischer, ich sorge mich um Frau Schawan. Ich glaube sie will sterben“, erklärte ich.
„Frau Schawan? Sie ist doch so eine frohe Natur. Warum denkst du denn das?“
„Sie hat es mir ausdrücklich gesagt“, sagte ich.
Herr Fischer spielte mit seinem Ziegenbart und schien nachzudenken: „Hmmm... also so was muss man natürlich immer ernst nehmen. Aber Frau Schawan ist schon seit neun Jahren in unserer Anstalt und... also das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Hör doch hin, sie ist wieder am Gockeln,“ In der Tat war sie das. „Aber natürlich spreche ich mit ihr, wenn du dir das wünscht.“ Herr Fischer legte seine Hand auf meine Schulter. „Weiß du, es freut mich, dass du dich um die Alten kümmerst, aber man darf da nicht alles so wörtlich nehmen.“
„Natürlich“, sagte ich. Wahrscheinlich hatte er Recht. Vielleicht hatte ich die Situation überschätzt. Wie zur Bestätigung plazte Frau Schawan in unseren kleinen Vorzimmer.
„Ki kiri kiiiiiii, Ki kiri kiiiiiii...“ Mit äußerster Heiterkeit tanzte sie im Kreis und wedelte wie beim Fliegen mit den Armen.
„Frau Schawan!“, sagte Herr Fischer freundlich, „wie geht es Ihnen heute?“
„Gut! Ki kiri kiiiiiiiii, Ki kiri kiiiiiiii...“
Herr Fischer warf mir einen beruhigenden Blick zu. „Kommen Sie, Frau Schawan. Sie wissen, dass Sie sich hier nicht aufhalten dürfen. Gehen wir ein Stück spazieren.“ Herr Fischer legte einen Arm um sie und führte sie Richtung Türe.
Mir fiel regelrecht ein Stein vom Herzen. Ich lachte. Ich hatte mir von einer verrückten alten Frau Angst einjagen lassen. Schon glaubte ich meine Sorge los zu sein. Ich beobachtete Frau Schawan wie sie mit Herrn Fischer den Raum verließ.
Kurz bevor sie draußen war drehte sie sich im Gehen kurz um und warf mir wieder diesen Todesblick zu. Dazu strich sie ganz schnell mit ihrem Zeigefinger an ihren Hals entlang. Es dauerte höchstens eine Sekunde, aber die Botschaft war klar. Dann drehte sie sich ganz schnell um, ohne dass Herr Fischer irgendwas gemerkt hätte und krähte wieder los: „Ki kiri kiiii!!!“
Nun, da stand ich also. Völlig bestürzt.
Den Rest des Tages ging ich Frau Schawan aus dem Weg und versuchte mich möglichst um die anderen zu kümmern. Ich wusste jetzt nicht mehr was tun. Ich dachte daran die Zivi-Stelle hinzuschmeißen und mich woanders zu bewerben, aber selbst in meiner jetztigen Lage hielt ich das für übetrieben.
Plötzlich wusste ich auch nicht wirklich, was daran auszusetzten war, dass Frau Schawan sterben wollte. Seit ich hier war hatte sie keinen einzigen Besucher empfangen. Sie war krank und schwach. Auf was könnte sie sich schon in diesem Leben noch freuen?
Und dann wusste ich was zu tun war. Der Gedanke schlich sich erst allmählich an mich heran, aber nun war mir alles glasklar. Ich bringe sie einfach um, dachte ich mir. Haja, warum nicht? So konnte ich unsere Probleme beide zugleich lösen, zwei Fliegen mit einer Klatsche erschlagen. Sie wollte den Tot und ich wollte ihn vermeiden. Ich bringe sie um wir sind beide erlöst. Im Nachhinein staune ich manchmal über diese Entscheidung. Ich war kein Mörder. Ich war auch keineswegs sadistisch veranlagt. Ich war sogar einmal im Tierschutzverband gewesen. In der Schule hatte ich mich oft für schwächere Mitschüler eingesetzt, die von anderen gehänselt wurden. Ein Stück weit freute ich mich auch, dass ich Frau Schawan einen Gefallen tun konnte. Aber am meisten wurde ich immer noch von der Angst bewegt. Dieser Blick kann man kaum in Worte fassen. Ich bildete mir ein, dass Frau Schawan mich vielleicht aufsuchen würde, sollte ich die Anstalt verlassen. Um ruhig schlafen zu können, musste sie weg. Und so begann ich, mir einen Plan auszudenken. Schon bald merkte ich jedoch, dass es gar nicht leicht ist, einem Menschen das Leben zu nehmen. Wie geht man da vor? Zuerst dachte ich an Schlaftabletten. 20 Pillen mit einem kräftigen Schuss Vodka und die alte Frau wäre mit Sicherheit nicht wieder aufgewacht. Allerdings ist das kein Mord, sondern eher aktive Sterbehilfe. Frau Schawan wollte keinen Selbstmord begehen, da sie Gott fürchtete. Das fiel also weg. Dann wollte ich sie vergiften. Das wäre Mord gewesen aber woher bekommt man heutzutage eigentlich Gift? Das ist gar nicht so einfach. Vielleicht bin ich hier nicht kreativ genug gewesen, aber man kann ja eine Vergiftung feststellen und angenommen ich hätte vor zwei Tagen in einem Laden oder sonstwo mich nach Rattengift erkündigt...
Ich war kurze Zeit echt verzweifelt. Letzendlich entschied ich mich dafür, sie mit einem Kissen zu erwürgen. Sie war sehr schwach. Also sollte es eigentlich nicht schwierig sein. Und wer stellt schon großartig Fragen, wenn eine 88-jährige Frau tot in ihrem Bett aufgefunden wird?
So verbrachte ich die nächsten Tage damit, den richtigen Zeitpunkt zu suchen. In dieser Zeit bestätigte mir Frau Schawan immer wieder mit ihren Augen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Auch schien sie mir weiterhin sagen zu wollen, dass ich nicht zu lange warten sollte... Ich nickte ihr meistens nur zustimmend zu.
Bald stellte ich fest, dass Frau Schawan jeden Tag um ungefähr die gleiche Uhrzeit ein Nickerchen machte, nämlich um 15:00. Das war also meine Zeit. Der Tag war mir auch schnell klar. Logischerweise musste es Freitag sein, damit ich mich hinterher ausruhen konnte. Ich entschied mich gleich für den nächsten, da ich nach wie vor Angst hatte, Frau Schawan könnte mir mit ihrem Mordversuch zuvorkommen.
So passierte es, dass ich um 15:15 mich mit einem Kissen vor Frau Schawans Zimmer befand. Im Laufe dieses Freitags hatte sich eine unglaubliche Spannung in mir angesammelt. Ich kann es kaum beschreiben aber ich fühlte mich wie ein Tiger auf der Jagd. Ich war wahnsinnig konzentriert. Als ich die Tür leise öffnete wurde ich überrascht. Da stand Frau Schawan, einen Meter von mir entfernt, mit einem riesigen Küchenmesser in der Hand. Ihre Augen waren geschlossen. Als sie ihre Augen öffnete verwandelte sie sich urplötzlich wieder in ein Ungeheuer. Sie hatten den gleichen Blick in ihren Augen wie bei unserer ersten Begegnung. Bevor ich reagieren konnte stürtzte sie sich auf mich und rammte mit voller Wucht das Messer in meinen Oberschenkel. Währenddessen schrie sie mit aller Kraft: „töte mich!“
Auch ich schrie vor Schmerzen. Ich versuchte mich zu retten. Ich schlug sie weg und riss das Messer aus meinem Fleisch. Was ich jetzt tat, kann ich selber nicht ganz erklären. Auch kann ich mich nicht gut daran erinnern. Man erzählte mir später was passiert war. Es war wohl Instinkt. Ich stürzte mich auf Frau Schawan, die jetzt benebelt auf dem Boden lag, und haute ihr das Messer in die Brust. Aber nicht nur einmal, ich tat es immer wieder. Ganze sechzig Mal hatte ich auf die eingestochen bevor man mich wegzog. Sie war nicht mehr wieder zu erkennen. Währendessen soll ich die grässlichsten Schimpfworte gesagt haben, die man sich überhaupt vorstellen kann.
Ich sitze nun seit fünf Jahren hinter Gittern. Zwei Jahre lang war ich in der Psychatrie. Meine Geschichte glaubt niemand. Man hält mich für verrückt. Auch der Messerstich in meinem Oberschenkel (ich humple noch heute) könne nicht von ihr stammen, sagt man mir. So viel Kraft hätte Frau Schawan nie im Leben aufbringen können, behaupten die Kriminolgen. Man geht davon aus, dass ich in meiner Rage mir selbst die Verletzung zugezogen habe. In anderen Worten, ich stach daneben. Vielleicht lässt man mich irgendwann wieder raus. Wer weiß? Ich hoffe meine Geschichte hat euch gefallen. Vielleicht glaubt ihr mir...