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Geisterfahrer im Zug nach nirgendwo
Geisterfahrer im Zug nach nirgendwo
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Müde sah er auf die Bahnhofsuhr: Punkt ein Uhr. Der nächste Zug kam erst wieder in fünf Stunden, bis dahin hatte er hier seine Ruhe. Fünf Stunden, in denen er schlafen konnte ohne Angst. Angst, dass ihn jemand wieder verjagte, Angst, dass die Menschen verächtlich auf ihn herabblickten, wenn sie an seiner Decke vorbeiliefen, die Kinder verschreckt zu ihren Eltern rannten, wenn er verdreckt und übel riechend vor ihnen auf dem Boden lag, die Hunde gegen seine Decke pinkelten, während er schlief.
Er entdeckte den stillgelegten Gang neben dem Bahnsteig zufällig, als er lebensmüde auf den Gleisen spazieren ging, er sein Leben dem Schicksal überlassen wollte. Da kletterte er dann doch lieber in das Loch hinein, weil er Angst hatte, von einem Zug erfasst zu werden. Anscheinend hatte er auch Angst davor, sein sinnloses Leben zu verlieren. Jetzt wohnte er in diesem Loch, das war besser als alle anderen Schlafplätze, die er bisher gefunden hatte. Nur früh raus musste er wieder, sonst ließ ihm der Zugfahrplan keine Zeit mehr dafür, die Gleise entlang zu gehen um den Bahnsteig verlassen zu können. Schließlich musste er Geld verdienen auf dem Bahnhofsstrich, um sich was zu Essen kaufen zu können. Und den Koks, um alles besser ertragen zu können. Alkohol kaufte er selten, den bekam er gelegentlich auch so. Es ging ihm besser, seit er dieses Loch gefunden hatte.
Heute war sein Geburtstag. Endlich wurde er volljährig. Nun brauchte er nicht mehr zu befürchten, dass man ihn zu seinem Vater zurückbringen wollte, wenn die Polizei ihn aufgriff.
Seinen Vater fürchtete er mehr als alles andere in seinem Leben. Regelmäßig roch Vater nach Selbstgebranntem, ab einem bestimmten Alkoholpegel wurde er aggressiv, schlug seine Mutter und ihn und vergewaltigte Mutter auch ab und zu mal vor seinen Augen. Dann drohte er ihm, selbst dranzukommen, wenn er irgendjemandem davon erzählte. Deshalb traute sich Mutter nicht, etwas dagegen zu tun. Irgendwann einmal kam die Polizei und brachte seinen Vater ins Gefängnis. Das war die schönste Zeit in seinem ganzen Leben. Er wünschte sich so sehr, dass Vater nie mehr wiederkam – doch schon bald war er wegen guter Führung wieder draußen. Dann ging er auf seinen Sohn los, weil er glaubte, er habe ihn damals bei der Polizei verpfiffen. Dabei hatte er geschwiegen wie ein Grab – es mussten wohl die Lehrer etwas geahnt haben, die seine blauen Flecken sahen. Und es war Mutters einziger Versuch, doch etwas dagegen zu unternehmen.
Eines Tages war Mutter tot. Schlaftabletten. Sie war das Einzige, das ihn trotz aller Qualen zuhause hielt. Nach Mutters Tod war Vater noch aggressiver. In einem passenden Moment schaffte er es irgendwann, von zu Hause wegzulaufen – wohin, wusste er nicht, Hauptsache weg. Da war er sechzehn und hatte keine Ahnung von der Welt. Ohne Wohnung fand er keine anständige Arbeit, ohne Arbeit bekam er keine Unterkunft - er wollte auch keine, sonst hätte man ihn vielleicht wieder nach Hause gebracht. Sein Vater war bestimmt auf der Suche nach ihm. Eine zeitlang hatte er ein Zimmer in einer WG, doch die löste sich später auf, weil die Miete nicht bezahlt wurde. Seitdem tingelte er umher. Einmal fuhr er per Anhalter mit einem Mann im Auto, der Gefallen an ihm fand. Von da an machte er das auch für andere Männer, sie zahlten ihm gutes Geld dafür. Diese Fähigkeit war wohl das Einzige, was ihm von zu Hause mitgegeben wurde. Den Platz am Bahnhof hatte er sich hart erkämpft – im Laufe der Zeit lernte er, sich durchzuschlagen.
Er drückte seine Zigarette aus und kletterte auf die Gleise. Langsam lief er zu seiner Nische und krabbelte auf seine Decke.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, lieber Nick!“ gratulierte er sich selbst. „Ich wünsche dir alles Gute für deine Zukunft.“ Er legte sich hin und schloss die Augen. Was würde die Zukunft für ihn bereithalten? Er war im Zug des Lebens nur ein Geisterfahrer, zählte zum Abschaum der Gesellschaft.
Heute war sein achtzehnter Geburtstag, heute wollte er seinem Leben eine grundlegende Wendung geben. Er nahm das Röhrchen mit den rosa Pillen auf einmal, spülte den Schnaps hinterher. Er hatte keine Angst mehr, sein sinnloses Leben zu verlieren, im Gegenteil. Zum ersten Mal fühlte er so etwas wie Wärme und Freude. Es war die Vorfreude darauf, seine geliebte Mutter bald wiederzusehen.