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- 17.06.2004
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Gemeinsam einsam eins
Er war nicht dick und auch nicht dünn. Sein Gesicht hatte die richtigen Proportionen und wurde den neuesten Erkenntnissen der Schönheitsforschung gerecht. Eine imaginäre Linie von Auge zu Auge stand in angenehmer Parallelität zu der Linie, die seine Mundwinkel verband. Auch stand der Abstand dieser beider Linien im richtigen Verhältnis zum Radius des imaginären Kreises auf seiner Stirn. Er war das, was man allgemein als attraktiv bezeichnet.
Er genoss sein Aussehen und den damit verbundenen Stolz der, ähnlich dem Stolz auf Eltern und Vaterland, zu den Einfältigkeiten des homo sapiens gehört.
Er genoss es, stolz über seine Mitmenschen hinwegzuschweben, sie je nach Laune mal kurz zu mustern um dann, immer in gelassener Eile, seines Weges zu gehen.
Vor kurzem sah ich ihn in der U-Bahn. Er saß mir gegenüber. Er trug Kopfhörer, die Hände waren leger über seinem Schoß zusammengeschlagen und er blickte gelassen aus dem Fenster. Raus ins Dunkel. Ab und zu wendete er den Kopf und blickte sich im Radius des Möglichen, dass heißt ohne große Verrenkungen, um. Dabei fokussierte er die einzelnen Menschen nicht. Es war ihm egal wer da um ihn rum nach Hause fährt. Es war auch kein wirkliches Umschauen im eigenen Sinne. Die kurze Bewegung seines Kopfes erinnerte mich eher an einen Menschen, der aus tiefem Schlaf erwacht, ohne zu wissen wo er sich befindet. Ein kurzes Orientieren, Herr werden über die Lage, sich im monotonen Einerlei der U-Bahn bemerkbar machen. Das war sein Motiv.
In diesem Moment wusste ich, dass er mich erkannt hatte, genauso wie ich ihn erkannte, als wir zuvor beide am Gleis warteten.
An der nächsten Haltestelle stieg eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter ein. Während die Frau es aufgrund von Platzmangel vorzog im Mittelteil zu stehen, watschelte das kleine Mädchen Richtung letztem freien Platz. Dem Platz neben ihm. Im Zuge ihrer kindlichen Bemühungen den Sitz zu erklimmen, stieß das Mädchen mit einem Fuß gegen ihren zukünftigen Sitznachbarn. Es entschuldigte sich sofort mit einer süßen Piepsstimme und schaute dabei ihre Mama mit leicht ängstlichem Blick an. Aber ja, sie hatte soweit alles richtig gemacht. Das Okay der Mama kam prompt im Zuge eines strengen Lächelns. Die geistig anwesenden Menschen im hinteren Teil des Wagens warteten gleichgültig auf eine Reaktion. Wäre keine gekommen hätte das auch niemanden geniert, aber in dieser Sekunde warteten wir trotzdem.
Die Reaktion des jungen Mannes rührte und faszinierte mich zugleich. Akustisch durch die Kopfhörer gestört, aus tiefen seichten Gedanken erwachend, bewegte er seinen Kopf in Richtung des Mädchens, um auf meiner Höhe ein „is nix passiert“ zu murmeln. Dann drehte er, ohne das Mädchen auch nur einmal gesehen zu haben, seinen Kopf wieder weg und starrte weiter aus dem Fenster. Er war erschrocken und verstört, das merkte man.
Innerlich lachte ich. Mich belustigte die Gewissheit, wie leicht seine Fassade zerschlagen werden konnte, wie leicht man diesen perfekten Menschen aus seiner perfekt einstudierten Rolle hinauskatapultieren konnte.
Ich schaute mich um in der Erwartung, ähnliche Gedanken in den Gesichtern der restlichen Insassen zu finden. Doch ich blickte in gelassenes U-Bahn Einerlei. Selbst den Blick der jungen Mami konnte ich nicht erhaschen, da sie verträumt aus dem Fenster sah.
In diesem Moment wurde mir undeutlich bewusst, dass jeder jüngere Mensch, unter normalen Umständen, nicht besser reagiert hätte als mein Gegenüber. Falls es überhaupt ein besser gab, denn eine Antwort übertrifft schon einiges. Aus meiner vorherigen Schadenfreude wurde so schlichte Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass der Platz neben mir schon seit einiger Zeit von einer jungen Frau mit Bayernschal besetzt wurde.
Gerne hätte ich dem Mann gegenüber auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, dass ich es nicht besser hätte machen können. Ihm die Hand gereicht. Ihm einfach das Gefühl vermittelt das es okay ist. Aber wir erreichten meine Haltestelle.
Ich stieg aus, nahm die Kopfhörer aus dem Ohr und ging nach Hause. Dabei genoss ich es, stolz über meine Mitmenschen hinwegzuschweben, sie je nach Laune mal kurz zu mustern um dann, immer in gelassener Eile, meines Weges zu gehen.