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Generation Y
Alina Petrova leerte die Postbox und wunderte sich über den Absender der Mitteilung. Das Schreiben war ihr von der Zentralverwaltung zugestellt worden. Sie setzte sich an den Tisch ihrer bescheiden möblierten Wohneinheit und öffnete das Schreiben. Seit ihrer Kindheit hatte man sie auf diesen Augenblick vorbereitet. Trotzdem oder gerade deshalb zitterten ihre Hände, als sie die Nachricht gelesen hatte.
ALINA PETROVA, ES IST SOWEIT. BITTE BEREITE DEINE KINDER VOR. DIR BLEIBEN ZWEI TAGE ZEIT.
Das erste was Alina in den Sinn kam, war ihre Freundin, Senait, anzurufen.
„Hast du die Nachricht auch bekommen“, wollte sie wissen.
„Ja, was denkst du denn? Glaubst du vielleicht, die machen bei so was Fehler? Ich zittere jetzt noch am ganzen Leib. Und – wie geht’s dir?“
„In meinem Kopf dreht sich alles. Wenn ich mir vorstelle, was das für uns alle bedeuten könnte. Hör zu! Wir wollen uns etwas versprechen. Egal, was auch immer geschehen mag, wir wollen immer Freundinnen bleiben, ja?“
„Ja, sicher, was glaubst du denn.“
„Und – wie wirst du es deinen Kindern beibringen?“
„Na, so wie sie es uns gesagt haben. Du vielleicht nicht?“
„Doch, ich glaube auch, dass es am besten ist, es mit Bildern zu versuchen.“
„Na dann, viel Glück, wir sehen uns später, ja?
„Ja, klar. Meine müssten in einer halben Stunde von der Schule kommen. Ich ruf dich danach gleich an.“
„Ja, bis dann – also viel Glück.“
„Danke, euch auch.“
Kurze Zeit später saßen Maleika und Lenova bei Tisch. Die Kinder merkten gleich, dass mit der Mutter irgendetwas nicht stimmte. Sie benahm sich anders als sonst. Noch fürsorglicher als ohnehin schon. Und als sie gemeinsam bei Tisch saßen, da wollte der Teller der Mutter einfach nicht leer werden. Sie stocherte ebenso darin herum, wie dies normalerweise die Kinder zu tun pflegten, die sich dann immer was anhören mussten. Und zudem guckte die Mutter so komisch. Saß da und sah die beiden abwechselnd mit besorgtem Blick an.
„Ist mit dir heute irgendwas, Mutti?“, fragte Maleika, die etwas Jüngere, schließlich nach.
„Ach, esst erst einmal in Ruhe auf. Nachher muss ich euch eine Geschichte erzählen.“
Das Wörtchen „muss“ wollte der Älteren nicht so recht gefallen.
„Aber Mutti, wir wollten uns gleich noch mit Senari und Mariba treffen, und Annalena und Lotti wollen auch kommen“, gab sie zu bedenken. Und die Art, wie sie es sagte, zeigte der Mutter, wie unbeschwert einem Erwachsenen die Kindheit vorkam. Da gab es nichts Schöneres, als mit Freunden zu spielen und sich zu vergnügen. Die Sorgen und die Sorge um andere kamen erst später hinzu. An einem Tag wie heute, zum Beispiel.
„Da macht euch mal keine Gedanken, ihr beiden. Ich habe vorhin mit der Mutter von Senari und Mariba gesprochen. Auch sie wird ihren Kindern eine Geschichte erzählen, gerade so wie auch die Mutti von Annalena und Lotti dies tun wird, und all die anderen Mütter, die Kinder in eurem Alter haben.“
„Ooh, was ist denn das für eine Geschichte?“, kam es ihr da fast stereo entgegen.
„Na gut, gebt schon her.“ Die Mutter erkannte ihren Fehler sogleich. Aber sie konnte ihre beiden Liebsten ja verstehen. Neugier zur Mittagszeit, das vertrug sich schon immer schlecht mit leer gegessenen Tellern.
Als der Tisch abgeräumt war, bekam jede noch ein Stück Schokolade serviert. Ein weiteres Zeichen, dass da etwas nicht stimmte. So saßen die Töchter gespannt und mit großen Augen da und lauschten den Worten ihrer Mutter.
„Kurz bevor ihr aus der Schule gekommen seid, ist dieser Brief von der Zentralverwaltung eingetroffen.“
Die Mutter hielt das Schreiben hoch.
„Von der Zentralverwaltung? Aber wir waren wirklich ganz brav“, beeilte sich die etwas Größere zu sagen, und die kleine Maleika sagte gar nichts. Sie zog nur eine Schnute, bekam noch größere Augen und blickte beschämt auf das gehäkelte Tischtuch. Denn irgendetwas stellte man in diesem Alter ja immer an.
„Nein, macht euch da mal keine Sorgen. Es hat nichts mit euch zu tun.“
Das gefiel den beiden schon besser und Maleika schnappte sich, wieder mutig geworden, das letzte Stückchen Schokolade.
„Hmh, wie soll ich anfangen? Ich habe euch doch früher immer das Märchen vom Fisch erzählt, der nicht mehr nach Hause fand.“
„Ja, klar, ist eine schöne Geschichte. Wenn man sich das viele Wasser vorstellt, und darin schwimmt dann der große Fisch.“
„Ja, so ein rieeesengroßer …“, zeigte die Kleine mit ihren Händen, und sah, dass die rechte Hand mit Schokolade beschmiert war. Schnell verschwand das kleine Händchen unter dem Tisch und wurde dort an der Hose abgeputzt, schließlich war Maleika ein reinliches Kind.
„Wisst ihr, es gibt einen Grund, weshalb ich euch dieses Märchen so oft erzählt habe, und auch die Schulstunden, in denen ihr von relativen Größen erfahrt, dienen einem bestimmten Zweck. Wir wollen euch damit auf etwas vorbereiten.“
„Vorbereiten? Worauf? Kommt denn bald ein so großer Fisch, der uns alle verschluckt?“, fragte die Kleine etwas besorgt nach.
„Nein, mein Schatz“, lächelte die Mutter und beruhigte so die Kleine. „Aber so ganz Unrecht hast du da gar nicht. Was wäre, wenn ich euch erzählen würde, dass wir bereits in einem großen Fisch leben?“
„In einem Fisch leben? Äh … Mutti, geht’s dir auch wirklich gut?“, fragte Lenova mit prüfendem Blick nach.
„Sicher doch. Lasst mich es euch in Ruhe erklären. Ihr könnt mir glauben, als mir meine Mutter davon erzählt hat, habe ich auch so große Augen gemacht wir ihr, nur war ich damals schon etwas älter. Die Erfahrung hat gezeigt, dass in zwei Jahren die beste Zeit wäre, erst dich behutsam vorzubereiten, Lenova. Deine Schwester hätte dann dementsprechend noch ein wenig warten müssen.“
„Ich will aber auch alles wissen, was Lenova weiß!“, protestierte die Kleine.
„Ich glaube auch nicht, dass ich ein Geheimnis vor Maleika hätte so lange geheim halten können. Du weißt doch, wie nervig sie sein kann.“
„Hey, selber nervig …“
„Ganz ruhig, ihr zwei. Selbst wenn du, Lenova, deiner Schwester die Geschichte erzählt hättest, hätte sie dir vermutlich kein Wort geglaubt. Sie hätte höchstens gedacht, dass du ihr wieder einen Streich spielen wolltest; so unglaublich klingt die Geschichte. Aber dazu wird es erst gar nicht kommen. Der Brief, von dem ich euch erzählt habe, macht es notwendig, dass ich euch die ganze Wahrheit schon heute erzähle. Bitte denkt nicht, dass wir euch böswillig belogen haben. Wir haben nur einige Details verschwiegen, bis ihr unserer Meinung nach reif genug dafür gewesen wärt. Zunächst einmal müsst ihr eines wissen: Wir befinden uns gar nicht auf der Erde!“
„Nicht auf der Erde!“, erklang es im Zweikanalton aus putzigen Lautsprechern.
„Na, es ist schon etwas komplizierter. Unsere Heimat hier ist schon die Erde, das heißt, wir bezeichnen sie so. Benannt ist sie jedoch nach einem Planeten.“
„Ein Planet? Was ist ein Planet?“
„So etwas, wie der große Fisch?“, setzte die Kleine nach.
„Oh nein, mein Schatz, noch viel, viel größer. Auch mir fällt diese Vorstellung alles andere als leicht. Aber eins nach dem anderen. Stellt euch zunächst einmal vor, dass der kleine Fisch, den ihr aus dem Aquarium kennt, uns alle und alles was ihr kennt verschluckt hätte. Fortan würden wir nun in diesem Fisch leben. Und dieser kleine Fisch schwämme dann in einem See, der so groß wäre, wie der auf Ebene 2.“
„Und wir alle sind in dem Fisch drin, so groß ist der in Wirklichkeit? Und trotzdem wäre so viel Wasser um uns rum, wie bei dem kleinen Fisch, den wir in den See geschmissen hätten?“
„Ja, Lenova, so muss man sich das vorstellen. Nur handelt es sich bei unserem „Fisch“ um kein Lebewesen, sondern um eine von Menschen gebaute Maschine. Sie nennt sich Raumschiff.“
„Du willst also sagen, wir alle leben in einer riesigen Maschine?“
„Brr, so wie in einem Kühlschrank?“, fragte die Kleine hintendrein, und tat so, als würde sie frieren.
„Na, in einem Kühlschrank wäre es wohl alles andere als gemütlich. Ich glaube, das Einzige, was sich da wohl fühlt, ist das Erdbeereis, das dort immer wie durch Zauberhand verschwindet.“
Die Kleine rollte mit den Augen und tat so, als hätte sie den letzten Satz nicht gehört.
„Und was ist dann diese Erde genau?“, wollte Lenova wissen.
„Die Erde ist so wie der Strand auf Ebene 2. Irgendwann wird der riesige ‚Fisch‘ an Land schwimmen, und wir alle können aus ihm heraus steigen. Diese Geschichte hat mir schon meine Mutter erzählt, und heute erzähle ich sie euch. Denn dieser Strand ist nun nicht mehr fern. Die Zentralverwaltung hat mir geschrieben, dass wir in zwei Tagen dort ankommen werden.“
„Aber warum haben wir diese ‚Erde‘ überhaupt verlassen, wenn es da genauso schön sein soll, wie am Strand auf Ebene 2?“
„Ja, das ist eine gute Frage“, stellte die Mutter fest und zuckte mit den Schultern. Es gab nun einmal Fragen, die auch sie nicht beantworten konnte.
„Und was für einen Zeitraum müssen wir uns hier vorstellen, Dr. Hershey?“
„Wir werden zum Bau in etwa 10 Jahre benötigen. Das Ganze wird so groß sein, dass alles andere zuvor als Miniatur bezeichnet werden muss.“
„Ihre Meinung, Dr. Helmstedt?“
„Ich schließe mich eher dem asiatischen Kollegen an. Ein Ausbau der Raumstation erscheint mir nur konsequent und logisch. Angesichts der drohenden Katastrophe spielen finanzielle Mittel zwar keine Rolle mehr, und es bliebe noch genügend Zeit für eine neue Konstruktion, doch „funktioniert“ das Leben auf der Raumstation bereits. Sie kennen die Probleme, die wir anfangs hatten und wie schwer es uns fiel, sie in den Griff zu bekommen. Es scheint, als brauche das Leben eine gewisse Zeit, um sich auf neuartigem Terrain wohl zu fühlen, sich sozusagen „einzuleben“. Auch wenn wir uns noch scheuen, bei pflanzlichem Leben von Begriffen wie Seele oder Bewusstsein zu sprechen, so scheint es doch Kräfte zu geben, die wir mit herkömmlichen Untersuchungsmethoden nicht greifen können. Ich fände es somit ebenfalls sinnvoller, bereits vorhandenes Material zu verwenden, und die Station beständig auszuweiten.
Dann will ich noch anmerken, dass ich den Vorschlag von Dr. Tschechova durchaus für diskussionswürdig erachte, gerade als Mann gaben mir ihre Anregungen sehr zu denken. Vielleicht möchten Sie an dieser Stelle ein paar Worte dazu …“
„Ja, sehr gerne, Dr. Helmstedt. Meine Herren – Sie können mir glauben, dass ich dem männlichen Geschlecht gegenüber alles andere als feindselig eingestellt bin. Doch manchmal erfordern außergewöhnliche Umstände eben unorthodoxe Maßnahmen. Wir haben für viele Probleme Lösungen gefunden. Eines ist auch mit der besten Technik bisher nicht zu knacken gewesen. Wie soll eine Besatzung das jahrelange Eingeschlossensein überleben, ohne die geringste Möglichkeit, diesem Zustand zu entkommen, und ohne die Gewissheit zu haben, das Erhoffte jemals zu erreichen? Ich denke hier an ein Missionsziel auch über Proxima Centauri hinaus. Trotz annähernd 60 Prozent der Lichtgeschwindigkeit und einer Reisezeit von zirka 20 Jahren; wer sagt uns denn, dass die Reise nicht viel länger dauert? Wenn alle unsere Berechnungen stimmen, sich unsere Hoffnungen erfüllen und keine Unbekannten mit lethalem Ausgang auftreten, ist das Missionsende doch völlig offen. Es lässt sich jedenfalls heute schon feststellen, dass Frauen mit der Situation einer autarken Lebensgemeinschaft besser klarkommen, und deshalb befürwortet mein Team …“
„Aber, ich bitte Sie, liebe Kollegin. Ein Schiff, lediglich mit einer weiblichen Besatzung. Sie werden doch nicht ernsthaft glauben, dass die Männer da mitziehen. Wäre es nicht eine besondere Form des Rassismus, nur wegen seines Geschlechtes abgewiesen zu werden? Ich möchte nicht wissen, wie es wäre, wenn es einen umgekehrten Vorschlag in diese Richtung gäbe.“
„Dr. Seinfeld, ich denke, bei einem Projekt, bei dem es um die Zukunft der Menschheit geht, sollten wir lernen, in anderen Maßstäben zu denken. Ich will den männlichen Humanoiden ja nicht für immer aus der Evolution verbannen, aber eine sorgfältige Geschlechterplanung wäre unserer Meinung nach eine sinnvolle Variante, um ein friedliches Zusammenleben innerhalb dieses fragilen soziologischen Systems zu gewährleisten.“
„Danke, Dr. Tschechova. Ich sehe, zu diesem Thema würde gerne auch Frank Navaro noch etwas sagen.“
„Ja, denn auch mein Vorschlag befasst sich mit dem Thema Missionsende. Wenn wir davon ausgehen, dass das Ziel jenseits von Proxima Centauri liegen mag, demnach also mehrere Generationen im All unterwegs sein werden, erhöht sich natürlich auch das Risiko der Landung. Vielleicht sieht sich die Menschheit durch Krankheit, einer Seuche vielleicht, oder durch andere Umstände genötigt, wieder bei Null anfangen oder braucht zumindest Zeit, sich zu regenerieren. Vielleicht geht so Wissen verloren, welches eine Landung unmöglich macht. Allein schon die Vorstellung. Nicht auszudenken! Dieser Moment wäre an Tragik nicht zu überbieten. Stellen Sie sich die verzweifelten Menschen vor, die das Ziel vor Augen hätten und sich außer Stande sähen, die entsprechenden Maßnamen einzuleiten.
So arbeitet meine Team an einer verbesserten Version von Pfadfinder-Sonden, die in einiger Entfernung, ich denke hier an zwei Tagesreisen, Objekte sondieren und ihre Ergebnisse an das Mutterschiff senden werden. Bei einem positiven Ergebnis bliebe genügend Zeit, einen passiven Bremsvorgang einzuleiten. Dies würde Energie sparen und der Mensch wäre in der Lage, später, selbst am Beobachtungspunkt angekommen und womöglich zu einem negativen Eindruck gelangt, relativ problemlos wieder „durchzustarten“. Würde jedoch keine Reaktion seitens der Besatzung erfolgen, müsste man annehmen, dass diese dazu nicht mehr in der Lage wäre. In diesem Fall würde ein automatischer Landevorgang einsetzen, der die Menschen in ihre neue Heimat entließe. Allerdings wäre so ein Landevorgang dann eine einmalige Sache.“
„So weit, so gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke vorerst, für die von Ihnen gemachten Vorschläge. Wir wollen später alles noch näher erörtern. Lassen Sie uns nach einer kurzen Mittagspause fortfahren. Es gibt noch viel für uns zu tun.“
„… und wie lange schwimmen wir schon in diesem Meer, und weshalb müssen wir mit dem Wasser sparen, wenn doch da „draußen“ so viel ist? Und weshalb sind wir immer nur im Wasser und tauchen nie auf, da wir doch locker ein bisschen herumschwimmen könnten, und gibt es denn noch mehr Menschen wie uns, in anderen großen Raumfischen?“
„Es nennt sich Raumschiff, mein Kind“, verbesserte die Mutter und war keineswegs erstaunt über all die Fragen, die aus Lenova heraussprudelten. Und auch ihre Jüngste, die heftig mit dem Kopf nickte und so tat, als verstünde sie alles, bereitete ihr Vergnügen. Die Mutter war stolz auf ihre beiden wissbegierigen Plagegeister. Doch leider musste sie ihre Kinder vertrösten. Alle diese Fragen hatte sie in ähnlicher Form auch schon ihrer Mutter gestellt. Sie waren bis heute unbeantwortet geblieben.
„Ich bin mir sicher, dass die Zentralverwaltung näheres weiß. Glaubt mir, ich bin selbst ganz gespannt. Vor allem, stellt euch doch nur mal vor, wie gigantisch es außerhalb dieses Raumschiffs sein muss. Stellt euch nur so einen riesigen See vor, indem sich ein ‚Fisch‘ wie der unsrige verirren kann, und einen noch größeren Strand, die Erde, die diesen riesigen See umgibt. Und ich glaube auch nicht, dass wir das einzige Raumschiff sind. Es gibt da eine Sage, dass sich alle Menschen aus allen Raumschiffen einst treffen werden, und dann am Strand ein riesiges Fest feiern. So wie wir das manchmal tun, wenn unser Sektor die See auf Ebene 2 nutzen darf.“
„Oh, Mutti, das wäre ja ganz toll. Dann könnten Maleika und ich mit Senari, Mariba, Annalena, Lotti und all den andern Kindern jeden Tag plantschen und Wasserball spielen.“
„Das wäre dann sicher kein Problem mehr, mein Schatz. Und ich will euch noch etwas verraten. An diesem Strand, da sollen angeblich Menschen auf uns warten, die ganz anders aussehen als wir …“
-START BERICHT-
Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass diese Zeilen von einem Bewohner der Mutter Erde gelesen werden, trotzdem halte ich mich an die Traditionen und setzte die Sternensaga fort. Wie meine zahlreichen Vorgängerinnen sende ich das Material in Richtung Terra, in der Hoffnung, dass da doch noch jemand sein mag. Wie es üblich ist, verwende ich hierzu mir wichtig erscheinende Aufzeichnungen aus den Archiven, und füge dann meine Eindrücke hinzu.
-ARCHIV-
Drei Jahre nach unserem Start hatten wir den Kontakt zu Erde verloren. Danach fand keine Kommunikation mehr mit unserem Heimatplaneten statt. So konnten wir auch keine Hilfe erwarten, als der Ionenantrieb uns Schwierigkeiten bereitete. Wir schafften es schließlich, das Problem einigermaßen in den Griff zu bekommen. Doch dauerte unsere lange Reise zu Proxima Centauri so fast 30 Jahre. Das Schlimme war nur, dass uns die Sonden nach dem Eintreffen keinerlei Hoffnung bescherten. Eine neue Heimat war nicht in Sicht. Alles hatten wir erwartet, auch unterwegs zu sterben, doch benötigt der Mensch ein Ziel. Es ist ihm nicht bestimmt, ziellos durch ein Meer aus Sternen zu reisen. Täglich erwarteten wir eine frohe Botschaft, um endlich unser Gefängnis verlassen zu können, in dem wir nun schon so lange ausharren mussten. Doch nichts geschah. Schlimmer noch. Mit jeder Woche, jedem Monat schwand die Hoffnung ein klein wenig mehr, und eine düstere Erkenntnis bahnte sich den Weg in unser Innerstes. Die meisten von uns würden die Ankunft wohl nicht mehr erleben. Zum ersten Mal in der Geschichte des Menschen musste sich dieser verinnerlichen, dass er im Begriff war, sich für eine Sache zu opfern, ohne Hoffnung, dieses Opfer könnte seinen Nachkommen dienen oder er sich dadurch zumindest einen Platz in der ruhmreichen Ahnentafel sichern konnte. Denn, die Mutter Erde und Begriffe wie Vergangenheit und Zukunft existierten nicht mehr. Die Gegenwart bestand nur aus destruktivem Denken …
… an dieser Stelle sei Imperator Kyroll erwähnt. Ich entnehme den Archiven folgendes Zitat eines weiblichen Besatzungmitglieds; der späteren Imperatorin: „Ich habe selten einen Menschen erlebt, der über solche Kraft, Ausstrahlung und Herz verfügt hat. Und ich scheue mich nicht zu erwähnen, dass ich jeden Tag bedauere, da ich mich gegen meine Gefühle gewehrt habe. Es war die Idee meines späteren Ehemanns, einen Vorschlag in die Tat umzusetzen, der viele Jahre zuvor auf der Erde erstmals gedacht worden war. Die Männer kamen mit der Situation einfach nicht zurecht. Aggression und fast schon kriegerische Auseinandersetzungen nahmen immer schlimmere Ausmaße an. Wir inhaftierten die Rädelsführer, deren zahlreiche Anhänger und verhängten drakonische Strafen. Gott möge hierfür unseren Seelen gnädig sein. Doch aus Gründen der Abschreckung konnten wir auch vor der Todesstrafe nicht halt machen. Schließlich entschlossen wir uns, die Geschlechterplanung in die Tat umzusetzen.“
Der Tag, als der letzte Mann starb, erzeugte in uns alles andere als Jubel. Er starb, in Händen seiner Frau, die er über alles geliebt hatte. Er starb, in der Hoffnung, dass sich die Frauen ihrer Verantwortung bewusst wären. Denn im tiefgefrorenen Leben sollte eines Tages auch wieder das Y-Chromosom zum Zuge kommen. Doch die folgenden Generationen sollten sich ausschließlich aus Frauen zusammensetzen.
-ARCHIV ENDE-
-ANHANG-
Seither ist viel Zeit vergangen. Viele Mütter haben Töchter geboren, die ihre Mütter sterben sahen und dann selbst wieder Kinder gebaren. Es fiel uns in dieser Zeit nicht schwer, die Meinungen entsprechend zu bilden. Auf dem Schiff verbreiten sich Gerüchte schneller als Meteoritenschauer. Doch war es keine gute Idee das Bild eines gläsernen Fisches zu zeichnen, da wir nicht mit der Neugierde der Menschen gerechnet hatte. Regelrechte Ströme setzten sich in Richtung der Außenwände in Gang. Alle wollten einen Blick nach draußen werfen. Mit Hilfe von Stimmungsmachern heizten wir die Gerüchteküche neu ein, und zeichneten so das Bild eines gängigen Fisches, der ja auch über keine transparente Haut verfügt. Ferner entschlossen wir uns den „Mythos Mann“ einzuschleusen. Egal wie wir uns später entscheiden sollten. Falls wir uns eines Tages wieder für Männer aussprechen, sollten sich diese unseren Nachfahren nicht wie Außerirdische präsentieren. Außerhalb hat die Erfahrung gezeigt, dass Sagen und Mythenbildung von der Wahrheitsfindung ablenken. Die homosexuellen Partnerschaften, die sich mittlerweile ganz selbstverständlich ergeben haben, weisen indessen immer noch keine signifikanten Destabilisierungstendenzen auf. Im Gegenteil, das Zusammenleben verläuft weitgehend harmonisch. Eine Genetikerin brachte es kürzlich so auf den Punkt, indem sie anmerkte, es sei für lange Zeit „noch genügend Mann in uns.“ Sie wird es wissen müssen, da es zur Zeit keine versiertere Expertin gibt.
So schwimmt der „gläserne Fisch“ durch ein endloses Meer aus Sternen. Doch gläsern und umgeben von Sternen nur für uns, da wir die Wahrheit ja kennen. Mit den Jahren hatten wir beschlossen, diese nur noch einem auserwählten Kreis mitzuteilen. Den anderen erzählten wir von der See und einem alles umgebenden Strand. Dies war nicht unsere schlechteste Lüge gewesen. Und auch wir wissen nicht alles. Durch Katastrophen wie das große Feuer gingen uns Daten verloren. Die wahre Bedeutung des Wortes Planet und gewisser Distanzen behielten wir indessen für uns. Denn der Mensch braucht ein Ziel und die Hoffnung, dort auch irgendwann anzukommen. Einen noch so weit entfernten Strand zu erreichen, erscheint einem möglich. Doch wie soll man den letzten Menschen erklären, dass man nur auf der Suche nach einem kleinen Sandkörnchen ist, inmitten einer trostlosen Wüste.
-BERICHT ENDE-
„Was sind denn das für andere?“, fragte Lenova voller Neugierde nach.
„Sie nennen sich Männer.“
„Männer?“
„Mögen die uns denn?“, beeilte sich die Maleika zu fragen und schnappte sich wie zur Verstärkung ihre kleine Puppe.
„Und wie genau sehen die aus?“, wollte die Größere gleich noch wissen.
„Ganz langsam, ihr beiden. Ich habe diese Männer auch noch nie zu Gesicht bekommen. Sie sind uns angeblich schon ähnlich. Ihr dürft sie nicht mit irgendwelchen Tieren verwechseln. Ich sagte ja schon, es sind auch Menschen. Sie sind robuster gebaut als wir. Sie sind stark und sollen angeblich auch ein wenig gefährlich sein. Trotzdem, es gab da wohl mal eine Zeit, da waren Frauen wie ich mit einem Mann so zusammen, wie ich es heute mit Senait bin.“
„Na, aber das ist doch schön, du magst Senait doch ganz arg. Wieso sind diese Männer dann nicht gleich mit uns gekommen, und warten statt dessen die ganze Zeit am großen Strand auf unsere Rückkehr?“
„Das kann ich euch auch nicht beantworten. Auch die Gefahr, die von diesen Männern ausgehen mag, ist nicht genau bekannt. Seid einfach ein wenig vorsichtig, wenn ihr ihnen beim Ausstieg aus dem Raumschiff begegnet. Es soll junge Männer geben, so wie ihr Mädchen seid und da sind auch erwachsene Männer, die uns Frauen entsprechen. Ich vermute mal, dass die Ausgewachsenen eine größere Gefahr für uns darstellen. Wir werden ja sehen.
…
-ARCHIV ENDE-
-ANHANG-
Nun füge auch ich, die momentane Schiffsoberin, den Archiven einen aktuellen Anhang hinzu. Dies wird die erste Botschaft sein, die von einem Schiff gesendet wird, dass nicht mehr ziellos durch das Sternenmeer treibt. Denn wir haben unser Ziel erreicht. Ich glaube nicht, dass die Erbauer des Schiffs etwas Böses im Sinn gehabt hatten, als sie die Automatik installierten. Nachdem der Bremsvorgang eingesetzt hatte, blieb mir nur eines zu tun. Die Menschen davon in Kenntnis zu setzen, dass wir bald ankommen würden.
Die Erbauer hatten an so vieles gedacht. Die Modulbauweise hat sich als goldrichtig erwiesen. Wenn ich mir alte Pläne ansehe, so hat unser Schiff nur noch wenig gemein mit dem Koloss, der sich einst auf die lange Reise machte. Einige Schiffsteile mussten abgesprengt, andere durch Robots neu montiert werden.
Doch hatten die Erbauer sicher nicht mit der Dauer unserer Odyssee gerechnet, sonst hätte ihnen eines klar sein müssen. Eine Menschheit, die sich so lange auf der Reise befindet, empfindet diese irgendwann nicht mehr als solche. Schon gar nicht, wenn man durch geschickte Fehlinformationen mögliche Alternativen erschafft. Der „gläserne Fisch“ ist uns allen zur Heimat geworden. Er ist für uns die Erde. Ja – wir leben hier zwar auf engem Raum zusammen, aber wir sind weitestgehend glücklich. Wir haben uns arrangiert, helfen einander, sind füreinander da. Wir kennen und schätzen uns. Die Nähe macht aus Fremden Freunde, oder besser, sie lässt das Fremdsein erst gar nicht zu. Es existieren weder räumliche noch menschliche Distanzen zwischen uns. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, und in dieser langen Zeit gewöhnt man sich an fast alles, dann beginnt es richtig schön zu werden. Deshalb, wer immer diese Botschaft einmal empfangen und lesen mag, der soll wissen: Hätte ich eine Landung verhindern können, ich hätte es getan.
Leider sind uns im Laufe dieser langen Zeit die nötigen Kenntnisse dazu verlorengegangen. Nicht zuletzt dadurch, da wir uns nach mehreren schweren Krisen, Krankheiten und Reformationen immer wieder organisieren mussten.
Nun ist es zu spät. Ich sitze an meinem Beobachtungspult, sehe die geöffneten Schleusen und die Menschen, die zu Tausenden ihrem „Fisch“ entströmen. Ganz zaghaft bewegen sie sich, ungläubig, voll Erstaunen und mit angstvollem Blick. Sie sehen sich einer grenzenlosen Weite ausgesetzt. Sie vermissen in dieser trostlosen „Ebene“ das versprochene Wasser. Sie halten nach anderen Menschen aus anderen Raumschiffen Ausschau, und suchen speziell auch nach „Ihm“. Ich wünschte, ich hätte mehr Zuversicht. Wir werden Hilfe brauchen. Ich blättere in den Analen der Menschheitsgeschichte und lese von Expeditionen, Entdeckungen und einem Pioniergeist. Etwas sagt mir, dass für die kommende Generation das Y-Chromosom von entscheidender Bedeutung sein könnte. Aber sollen wir das Projekt „Mann“ wirklich angehen, es riskieren; nach allem, was die Überlieferungen sagen? Ich hadere noch mit mir. Und dann ist da noch dieses kleine Mädchen, dass ich näher gezoomt hatte und mittels der Richtmikrofone belauschte. Ich hätte es besser nicht getan, denn ihre zarte Stimme klingt nach, und lässt mich ganz traurig werden. Als das Kind seine Puppe hochgehalten hatte, so als sollte diese ihr Anliegen bekräftigen, da hörte ich, wie die Kleine herzzerreißend darum bat: „Komm, lieber Fisch, schwimm, schwimm weiter. Bitte, bring uns wieder fort von hier.“
Und jetzt, da ich sehen kann, wie dieser Strom aus Menschen allmählich beginnt, in die falsche Richtung zu fließen, muss ich auf grausame Weise erkennen, dass dieses kleine Mädchen mit ihrer flehenden Bitte alles andere als alleine ist.