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Generationskonflikt
„Heute gehen wir in den Park, Frau Sonntag, frische Luft, die wird uns gut tun!“
Frau Sonntag saß auf dem alten Sofa wo sie immer saß, wenn der Zivi kam. Er war ein so netter junger Mann. Wie hieß er noch gleich? Sie vergaß ständig seinen Namen, aber sie war ja auch schon sechsundachtzig Jahre alt, und da ließ einen das Gedächtnis schon mal im Stich.
Auf dem Tisch stand das „Essen auf Rädern“, was die alte Frau nicht angerührt hatte. Alex öffnete die hygienisch verpackten Aluschalen und verzog das Gesicht.
„Und zur Feier des Tages machen wir ein Picknick.“ Ein Picknick, ach Gott war das lange her, dass sie ein Picknick gemacht hatte! Der Zivi half ihr in die Schuhe und den Mantel.
Unterwegs zum Park kamen sie bei McDonald`s vorbei und Alex kaufte eine große Tüte mit Hamburgern, Pommes Frites und zwei Becher Cola. Wo war nur ihr roter Weidenkorb, den sie früher für ein Picknick benutzte, dachte Frau Sonntag, der wäre um vieles schöner gewesen als diese braune Papiertüte. Hätte Alex ihr nur vorher was gesagt, dann hätte sie danach suchen können.
Im Park setzten sie sich auf eine Bank und begannen zu essen. „Na, Frau Sonntag, lange nicht mehr so was Leckeres gegessen, hm?“ Er beobachtete wie die alte Frau die Hamburger und Pommes hungrig verschlang. Hoffentlich würde er nicht irgendeinen Cholesterin- oder Zuckerspiegel in Unordnung bringen. Durch den Strohhalm schlürfte sie die Cola, die wie Schaumwein auf ihrer Zunge perlte und sie leise rülpsen ließ.
„Zeit für nach Hause zu gehen,“ sagte Alex nach einer Weile. War die Zeit schon wieder vorbei? Sie lebte für diese zwei Stunden am Tag, wenn der Zivi bei ihr war. Er hatte immer so kurzweilige Ideen. Jeden Tag setzte sie sich, nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, auf das Sofa und wartete geduldig bis zum Nachmittag. Manchmal fühlte sie sich dabei an früher erinnert. An die Zeit als sie mit Hans, ihrem späteren Mann, verlobt war und sie als ungestümer Backfisch den Abend herbeisehnte, dass Hans sie endlich zum tanzen abholte. Es war kurz vor dem Krieg und eine schlechte Zeit für die Menschen. Aber sie war jung und verliebt, da sieht die Welt rosarot aus und die Gefahr, die drohte, nahm sie damals nicht wahr. Als Hans eingezogen wurde, lernte sie warten, langes, sehnsuchtsvolles und vor allem ängstliches warten. Da hatte sie es jetzt besser.
An den Wochenenden kam Alex nicht. Ihre Tochter besuchte sie auch nur alle vierzehn Tage und begrüßte sie jedes mal mit den Worten, dass sie nicht viel Zeit hätte und nicht lange bleiben könnte. Aber Frau Sonntag wollte nicht undankbar sein, Angelika war schließlich verheiratet und hatte Haushalt und Beruf.
Am nächsten Tag zeigte Alex ihr wie ein Handy funktionierte. Sie war ganz aufgeregt, als sie ihre Schwester in Frankfurt anrief, die ihr gar nicht glauben wollte, dass sie vom Balkon aus telefonierte. Durch ihn hatte sie auch das erste Mal Musik über Kopfhörer gehört und war erstaunt, dass aus so einem kleinen Ding, das sich MP3-Player statt Radio nannte, Musik kommen konnte. Heutzutage war alles so anders. Wo früher Bahnschaffner einem den Fahrschein verkauften und Kassierer das Geld auszahlten, gab es heute nur noch Automaten. Wie sollte sich ein alter Mensch da zu Recht finden. Der Zivi ließ ihren Einwand, dass sie für irgendetwas zu alt sei nie stehen. Sein Wahlspruch war: „Wirst alt wie ne Kuh, lernst immer noch dazu!“ Sie lachte dann jedes Mal und war gespannt, was er ihr diesmal zeigen wollte.
So kam er eines Tages mit der Idee: „Wohin möchten Sie heute verreisen?“
„Verreisen? In zwei Stunden kann man nirgendwohin verreisen!“ schüttelte sie den Kopf. „Kann man doch! Also wohin?“ Er sagte das so überzeugend, dass ihr nur noch Paris übrig blieb zu antworteten. An diesem Tag besuchten Sie ein Internetcafe und Frau Sonntag zehrte noch lange von der wunderschönen Reise.
Manchmal wünschte sie sich, der Zivi wäre ihr Enkel. Angelika hatte keine Kinder und ihr Sohn Thomas lebte mit Frau und Tochter im fünfhundert Kilometer entfernten Berlin, so dass sie ihn und seine Familie selten sah. Einmal wollte sie Alex Geld zustecken, da sie dachte, er könne eine neue Hose gebrauchen und als Zivi verdiente man ja nicht viel. „Was haben Sie an meiner Hose auszusetzen,“ fragte er mit gespielter Entrüstung und Frau Sonntag war es schon fast peinlich, dass sie es angesprochen hatte: „ Na, ja, sie sieht aus, als sei sie dir viel zu groß, sie sitzt so komisch.“ Alex lachte laut: „Dafür hab` ich ne Schweinekohle ausgegeben, das trägt man als Freund des Raps, das ist ne Baggy.“ Frau Sonntag verstand zwar nicht ganz was er meinte, aber sie ließ es dabei bewenden.
Es war Montag. Frau Sonntag hatte ein langes, einsames Wochenende hinter sich und saß nun erwartungsvoll auf dem Sofa als es endlich klingelte. Aber statt Alex, stand ihre Tochter mit einem Polizeibeamten vor der Tür. Sie schaute die beiden erstaunt an. Wo war Alex?
Angelika und der Beamte versuchten ihr irgendetwas von EC-Karten Betrug zu erklären. Immer mal wieder wären kleinere Beträge am Geldautomaten von ihrem Konto verfügt worden wie man aus den Kontoauszügen ersehen konnte. Sie würde doch Bargeld von ihrer Tochter mitgebracht bekommen und den Automaten gar nicht nutzen. Der Betrüger musste die Geheimzahl kennen und das könnte ja nur jemand aus ihrem Umfeld sein. Als Frau Sonntag die EC-Karte zeigen sollte, konnte sie diese nicht finden, aber sie verlegte in letzter Zeit öfter Dinge, und konnte sich nicht mehr erinnern, wo sie sie hingetan hatte. Auf ihre Frage, wann denn nun endlich der Zivi käme, bekam sie nur die kurze Antwort, dass in Zukunft statt Alex eine Frau vom mobilen Pflegedienst kommen würde. Der Polizeibeamte kramte ein bereits ausgefülltes Formular aus seiner Tasche, dass Frau Sonntag unterschreiben sollte. Sie verstand nicht, was ihre Tochter und der Beamte von ihr wollten. Als sie „Anzeige gegen Unbekannt“ las, verweigerte sie ihre Unterschrift. Wen sollte sie denn für was anzeigen? Ihre Tochter schimpfte etwas von „uneinsichtig“ und „Altersstarrsinn“, aber Frau Sonntag blieb stur. Diesmal war sie froh als Angelika endlich fort war.
Hatte sie richtig gehört, Alex würde nicht mehr kommen? Ihr Herz krampfte sich zusammen und es tat weh wie Liebeskummer.
Frau Sonntag musste über das gerade Geschehene nachdenken. Plötzlich begriff sie und Wut stieg in ihr hoch. Was sollten diese Verdächtigungen? Was bildete ihre Tochter sich eigentlich ein, ihre eigene Mutter zu behandeln wie ein kleines Kind, die zwar alt, aber schließlich nicht unmündig war.
Sie dachte, sie hätte ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter. Das erste Mal seit langer Zeit war sie richtig böse auf Angelika.
Frau Sonntag beschloss umgehend Alex anzurufen. Den Zettel mit seiner Handynummer hatte sie in eine alte Keksdose in den Küchenschrank getan und das hätte sie nie vergessen.
Der Zivi teilte ihr mit, man hätte ihm gesagt, es wäre nicht mehr gewünscht, dass er zu ihr käme und so sei er nun für eine andere alte Dame eingeteilt worden.
Frau Sonntag musste schlucken: „Alex, du hast mir doch gezeigt, wie man Geld am Automaten verfügt. Wieviel Geld haben wir diesen Monat insgesamt abgehoben?“
Der Zivi registrierte, dass sie seinen Namen auf Anhieb wusste. Die alte Frau wirkte sehr aufgebracht aber auch irgendwie resolut. „Hunderfünfzig Euro,“ antwortete er. „Und letzten Monat?“ „Fünfzig Euro weniger, das habe ich Ihnen doch aufgeschrieben.“
„Kann ich mir das leisten, Alex?“ Der Zivi musste grinsen, er mochte die alten Menschen. Er fragte sich oft, ist es Senilität oder Weisheit, dass sie viele Dinge des Lebens wie zum Beispiel Geld nicht mehr für so wichtig erachteten. „Aber klar, sie sind sehr sparsam. Außerdem haben wir doch alle Ausgaben in ihr altes Haushaltsbuch geschrieben. Das habe ich mir übrigens für meine Finanzen abgeguckt.“ Frau Sonntag atmete erleichtert auf, man konnte sich eben auf den jungen Mann verlassen: „Sag mir nur noch, wo ich meine EC-Karte hingetan habe!“ Auch das konnte der Zivi ihr beantworten. „Was ist denn los, Frau Sonntag? Gibt’s Probleme?“ „Weißt du Alex, ich bin jetzt schon so alt, und ich dachte, ich kenne die Menschen, aber wirst alt wie ne Kuh, lernst immer noch dazu!“
Am nächsten Tag saß sie auf dem Sofa und überlegte, was sie alles mit Alex erledigen wollte.
Erst fahren wir zur Bank Geld holen und die Vollmacht für ihre Tochter streichen lassen, dann zum Friseur. Sie war lange nicht mehr dort gewesen und vielleicht würde der Friseur Alex von einer ordentlichen Frisur überzeugen können. Die Dreadlocks fand sie wirklich nicht schön, aber sagen würde sie das nie.