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Geraubtes Gold
„Sind viele Schiffe hier versunken?“, fragte sie.
„Ein paar“, sagte ich.
„Berühmte Piratenschiffe?“
„Glaube nicht. Die bekanntesten sind woanders untergegangen. Jamaika oder Haiti.“
„Schade.“
„Warum? Wollen Sie nach Goldmünzen tauchen?“
„Find’s nur faszinierend. Aber Tauchen ist gar nicht meins. So tief unter Wasser, alles so dunkel, das muss ich nicht haben.“
„Da finden Sie auch eher Haie“, sagte ich.
„Machen Sie mir keine Angst. Wir wollen morgen mit dem Boot raus.“
„Einmal um die Insel?“
„Nur die Westküste runter.“
„Haben Sie die Bootstour bei meiner Agentur gebucht?“
Sie trug einen weißen Hut, nahm ihn jetzt ab, fächerte sich Luft zu und sagte: „Ja. Sah vielversprechend aus. Sich auf dem Meer sonnen, ein bisschen schaukeln lassen ...“
„Meine Kollegen machen das täglich, da brauchen Sie sich keine Sorgen machen. So nah an der Küste gibt’s auch gar keine Haie.“
„Okay.“
„Und im klaren Wasser kann man Fische und Korallen sehen.“
„Aber Piraten gab es hier nie?“
„Henry Morgan war manchmal hier. Hatte eine Höhle im Süden. Hat sich da versteckt.“
„Der Captain Morgan?“
„Genau.“
„Gold hat man da nicht gefunden? In der Höhle?“
„Nee, nur Dokumente und Gemälde.“
„Gibt bestimmt trotzdem Leute, die nach verlorenem Piratengold suchen.“
„Ständig. Dank Disney. Auf der Insel können Sie haufenweise Schatzsuchen buchen. Sind aber nur Show.“
„Sie glauben nicht, dass man noch Gold finden kann?“
„Nach so vielen Jahrhunderten? Das wird alles futsch sein.“
„Alles weg?“
„Alles weg.“
Es war ruhig im Playa del Cielo. Leidy stand hinter der Theke und polierte Gläser. Ich saß ihr gegenüber auf einem Hocker. Lange konnte man nicht darauf sitzen, der Hintern schmerzte auf dem harten Holz. Vor mir ein leeres Shotglas. „Oye“, sagte ich. „¿Otro Aguardiente?“
„Listo“, sagte Leidy. Sie warf ihr Tuch auf die Theke und bückte sich, stöhnte dabei, kramte eine Flasche ohne Etikett heraus, füllte mein Shotglas bis zum Rand mit Klarem. „Solo lo mejor.“
„Das Beste? Komm, das Zeug ist doch selbstgebrannt“, sagte ich und grinste.
Leidy erwiderte bloß das Grinsen, polierte dann weiter. Sie war bestimmt die dickste Frau auf San Andrés. Zumindest hatte ich hier keine dickere gesehen. In der Stille der Bar konnte ich sie atmen hören und ihr stand stets Schweiß auf der Stirn. Sie trug Shirts von Metallica, AC/DC oder Megadeth und manchmal rauchte sie einen Joint, der ihr im Mundwinkel hing, während sie Bierflaschen öffnete oder mit Kunden stritt, die nicht bezahlen wollten. Davon abgesehen war das Playa del Cielo ruhig und nie gut besucht. Entgegen dem Namen lag die Bar nicht am Strand. Nur selten verirrten sich Touristen hierher.
Heute waren nur zwei weiteren Personen anwesend. Ein Pärchen saß an einem der Holztische und unterhielt sich leise, manchmal kicherte die Frau. Leidy zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Hosentasche. „Wie machst du das eigentlich?“, fragte ich.
„¿Qué?“
„Diesen Laden am Laufen halten.“
Sie zuckte mit den Schultern.
Ich schüttelte den Kopf und kippte den Aguardiente in einem Zug runter. Das Zeug brannte im Rachen und ich verzog das Gesicht. „¿Más?“, fragte Leidy .
„Grad nicht“, sagte ich.
Minuten vergingen, in denen das Pärchen quatschte und Leidy Rauch gen Decke blies. Die Luft wurde undurchsichtiger, als wäre ich innerhalb von Sekunden an Grauem Star erkrankt. Und obwohl die Sonne bereits untergegangen war, steckte die Wärme des Tages noch in den Holzdielen und den dünnen Wänden. Mein Hemd klebte mir am schweißnassen Rücken. Das orangefarbene von der Touristenagentur. „Wie war die Arbeit?“, fragte Leidy zwischen zwei Zügen.
„Wie immer. Sind viele Deutsche dabei zurzeit.“
„Deine Leute“, sagte sie.
„Hm.“
„¿O no?“
„War schon lange nicht mehr in Deutschland, weißte doch.“
„Sí. Aber willste nicht mal?“
Ich schob das leere Shotglas von meiner rechten Hand in die linke. „Kann nicht.“
Leidy kniff die Augen zusammen, zog erneut an der Zigarette. Ein roter Punkt glühte auf, verschwand dann wieder hinter Rauch.
Ich senkte den Blick und fuhr mit dem Daumen über den Eichstrich des Shotglases. „Die Touristen reichen mir.“
„Está bien“, sagte sie und drückte den Zigarettenstummel in einem Aschenbecher aus.
Über der Theke hing ein Fernseher. 40 Zoll, schwarz, Flachbild. Leidy holte die Fernbedienung aus einer Schublade und schaltete ihn ein. Ein Mann erschien auf dem Bildschirm, gepflegter Bart, schicker Anzug, strahlendes Lächeln. Er hielt eine bildhübsche Frau bei den Händen und sagte: „Quiero compartir mi vida contigo.“ Die Frau stöhnte auf und schmiegte sich eng an den Mann und Tränen rannen über ihre Wangen. Die Musik wurde lauter, melodramatisch.
Leidy rollte mit den Augen. „Putas telenovelas.“
Ich schmunzelte. Das Pärchen am Tisch verstummte und sah in unsere Richtung, doch Leidy würdigte die beiden keines Blickes und wechselte den Sender und das Pärchen sah wieder weg. Ein blaues Logo erschien im TV, darunter Noticias Caracol. Eine Nachrichtensprecherin sprach so schnell, dass ich nicht alles verstand. Das Gesicht des Präsidenten starrte uns entgegen, zerzaustes Haar, Brille, intensiver Blick, so als würde er sich gerade mit jemandem streiten. Amnistía para los narcos stand da in schwarzer Schrift auf gelbem Grund.
„Petro ruiniert alles“, sagte Leidy.
„Gab schon Schlimmere“, sagte ich.
„So? Wie lange bist du hier? Drei Jahre?“
„Ich …“
„Dann rede nicht so. Ese presidente es un desastre. Die Narcos begnadigen? Unsere Ölproduktion stoppen? ¡Malparido! Guck dir mal die Inflation an.“
„Ist doch überall so.“
„Aber vielleicht wär’s nicht so schlimm, wenn wir keinen kriminellen Präsidenten hätten, ese terrorista.“ Sie zündete sich die nächste Zigarette an. „Amigo de Escobar. Bald geht es uns so wie den venezuelanos. Und wo fliehen wir dann hin, wenn hier alles im Arsch ist? Hm? Brasil? Panamá? Dime.“
„No sé. Du übertreibst aber schon gerne …“
Da lächelte sie. „Kennst mich doch.“
Ich lächelte zurück. „Brauchst dir keine Sorgen machen.“
„Wenn du meinst. Kannst mir ja dann Tipps zum Auswandern geben.“
„Gerne, ich …“ Das Bild von Präsident Petro wurde abgelöst vom Bild einer jungen Frau. Sie trug einen weißen Hut.
„Geist gesehen?“, fragte Leidy.
„Diese Frau …“ Die Stimme der Nachrichtensprecherin wurde ernster, als sie sagte, eine deutsche Touristin würde seit zwei Tagen vermisst, sie sei nach einer Bootstour nicht zurückgekehrt, ihre Freunde suchten ganz San Andrés nach ihr ab. Hinweise an die örtliche Polizei.
„¿Todo bien?“, fragte Leidy.
„Hm.“ Ich hörte die Worte der Nachrichtensprecherin nicht mehr, starrte weiter auf das Bild der Touristin. Blaue Augen, blonde Haare, verschmitztes Lächeln. Ich fragte mich, für wen sie da lächelte? Eine Freundin oder einen Geliebten? Für mich? Sie sah ihr ähnlich, und da musste ich an ihr Lächeln denken, damals zwischen den Mülltonnen, mit Blut auf den Zähnen. Dann verschwand das Bild der Touristin und ich wandte mich Leidy zu. „¿Otro?“, fragte ich.
„Otro“, sagte sie und füllte mein Shotglas erneut mit Selbstgebranntem.
Am nächsten Tag ging ich zur Agentur. Bunte Plakate am Eingang versprachen die Erfüllung jeglicher Wünsche. Bilder von Wasserfällen, Stränden, Delfinen, leicht bekleideten Latinas. Im Inneren dann nur ein Vorzimmer und ein Büro, beides eingerichtet mit schlichten Holzmöbeln, die Wände weiß und schmucklos, in den Ecken Pflanzen von makellosem Dunkelgrün, eindeutig aus Plastik. An der Decke drehten sich zwei Ventilatoren. Sie waren schon älter und summten laut. Als schwebten zwei riesige Käfer über meinem Kopf.
Die Tür zum Büro stand offen. Ramiro saß am Schreibtisch und blätterte durch Papiere, kaute dabei auf seiner Unterlippe herum. Neben ihm ein grauer Monitor, der einzige Computer unserer Agentur. Ich klopfte an die Tür. „¿Jefe?“
Ramiro zuckte zusammen. „Jesús, schleich dich nicht so an!“
„Perdón. Wollte nicht stören.“
„Está bien. Hab nur keinen erwartet. Hast du nicht erst heute Abend Schicht?“
„Ja, Nachtwanderung.“
„Was machst du dann hier?“
„Hab nur ne Frage.“
Ramiro wandte den Blick nicht von mir ab und wartete. Über seinem Kopf drehte sich auch ein Ventilator, aber leiser. Die Luft war kühler hier im Büro. Ich fragte: „Vor drei Tagen … wer hat da die Bootstouren übernommen?“
Ramiro lehnte sich zurück, sein Bürostuhl knarzte. Er verschränkte die Arme und atmete hörbar aus. „Es geht um die Frau aus den Nachrichten.“
„Ja.“
„Hab schon gehört, dass sie bei uns was gebucht hatte.“
„Also?“
Ramiro sah an mir vorbei, zu dem Schrank hinter mir. Ordner stapelten sich darin, Papiere hingen aus ihnen heraus, vergilbt und wellig wegen der Luftfeuchtigkeit. „Schlag dir das aus dem Kopf“, sagte Ramiro.
„¿Qué?
„Unsere Jungs haben damit nichts zu tun.“
„Aber vielleicht haben sie was mitbekommen.“
„Ich bin seit zehn Jahren hier der Boss“, sagte er, als hätte er mich nicht gehört. „Und nie haben die Jungs was verbrochen. Tausende Touristen, keine Klagen.“
„Vielleicht war ein anderer Tourist beteiligt“, sagte ich. „Kann ja sein, dass sich jemand komisch verhalten hat.“
Nun sah mich Ramiro wieder an, kniff die Augen zusammen. „Warum interessiert dich das überhaupt?“
„Was?“
„Das Mädchen … das kann dir doch egal sein. Lass die Polizei das regeln.“
Ich sah ihr Lächeln wieder vor mir. „Ich … ich will nur helfen.“
Ramiro schüttelte den Kopf, wandte sich dann seinem Computer zu und fuhr mit der Maus herum, klickte einige Male, tippte langsam etwas ein, jeder Tastendruck auf der Tastatur wie das Ticken einer Uhr, lehnte sich nach vorne gen Monitor, kniff die Augen so fest zusammen, dass ich glaubte, er könne kaum noch etwas sehen, und er scrollte mit dem Mausrad und seine Augen zuckten unter den Lidern hin und her und nach einer Weile sagte er dann, den Blick immer noch auf den Monitor gerichtet: „Maicol.“
„Arbeitet er gerade?“
„Hat heute frei.“
„Komisch.“
„Wieso?“
„Nimmt doch nie frei.“
„Na, heute schon. Nach dem Grund hab ich nicht gefragt.“
„Wo wohnt er denn?“
Wieder seufzte Ramiro und klickte einmal auf die linke Maustaste, scrollte erneut und sagte dabei kaum hörbar: „Nombre … fecha de nacimiento …“ Und dann lauter: „Ah, acá lo tenemos. Calle Veinte, apartamento quince.“
„Gracias.“
„Wird aber nichts bringen.“
„Ich möchte trotzdem mal nach ihm sehen. Und was ich in meiner Freizeit mache, ist meine Sache.“
„Wie du willst.“ Er senkte den Kopf, blätterte wieder durch die Papiere auf dem Tisch. „Aber falls du was rausbekommst, sag Bescheid. Wir wollen keinen Ärger.“
Die Sonne stand im Zenit und brannte auf der Stirn. Hinter der Straße lag der Strand, der weiße Sand warf das Tageslicht zurück, schmerzte in den Augen; ich musste sie zusammenkneifen, um nicht zu erblinden. Ein Mann schlenderte über den Strand, trug einen weiten Hut, der sein Gesicht in Schatten tauchte, ansonsten war die Gegend verlassen wegen der Hitze. In der Ferne eine Strandbar aus hellgrauem Holz. Das Klirren von Geschirr schallte durch die Leere, gelegentlich Gelächter. Dahinter das Meer von tiefstem Blau und wellenlos. Ein einzelnes Dreieck wanderte den Horizont entlang wie das Ziel in einer Schießbude. Ein Segelboot. Palmen säumten die Promenade, kein Wind fuhr durch ihre Blätter, dennoch bewegten sie sich; grüngelbe Sittiche flogen zwischen den Palmen umher und zwitscherten, es klang, als würden sie mich auslachen. Ich wischte mir Schweiß von der Stirn und wandte mich gen Inselinneres.
Mit jeder Minute, die ich mich Calle Veinte näherte, nahm der Verkehr auf den Straßen und Fußwegen zu. Gelbe Taxis rollten über den Asphalt, Motorroller quetschten sich links und rechts an den Fahrzeugen vorbei und hupten. Dunkle Abgase verschmolzen mit dem Flirren der Luft, verloren sich im Blau des Himmels. In Deutschland wären solche Dreckschleudern nicht durch den TÜV gekommen, und bei dem Gedanken musste ich grinsen, aber nur kurz.
Es waren nur dreißig Minuten bis zur Calle Veinte und die Bewegung tat mir gut. Die Straßen wurden enger und die Häuser standen dichter beisammen, weiße, schmucklose Klötze, die man so auch in Bogotá oder Medellín fand und die schwerlich an Inselparadies erinnerten. Ein leichter Wind wehte durch die Gassen, legte sich wohltuend auf meine schweißnasse Haut. Tiefhängende Stromkabel schwangen im Wind träge hin und her, verbanden die Wohnblöcke wie Fäden, die San Andrés zusammenhielten. Aus offenen Fenstern schallten Rufe und tiefe Reggaeton-Bässe. Ich lauschte der Umgebung, genoss den seichten Luftzug und dachte an nichts anderes, auch nicht daran, was ich Maicol eigentlich fragen, was ich mit dem Besuch bezwecken wollte. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, ließ mich von den Nummern auf den Straßenschildern leiten, ocho, nueve, diez, die Sonne wanderte langsam gen Westen, die Schatten wurden länger.
No. 15 stand auf dem Klingelschild. Ich drückte den schwarzen Knopf neben dem vergilbten Papier und wartete. Nach einigen Sekunden ertönte ein Knacken aus dem Lautsprecher und ein Rauschen, dann fragte eine Frauenstimme: „¿Hola?“
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „¿Maicol?“
Wieder einige Sekunden Rauschen, dann: „Maicol no está en casa.“
„Wo ist er denn?“
„Wer spricht denn da?“
„Ay, perdón. Ich bin ein Kollege von Maicol.“
„Und was wollen Sie?“
„Nur quatschen.“
„Worüber?“
Ich leckte mir über die trockenen Lippen. „Über die Vermisste …“
Kurzes Schweigen, dann: „Listo. Maicol ist zum Markt, Fisch kaufen. Freitags essen wir immer Fisch, sabe?“
„Ich warte dann hier?“ Ich sah mich um.
Gegenüber dem Wohnblock standen Palmen, die Schatten auf eine graue Wand warfen, dort wäre ich vor der Sonne sicher, könnte auf Maicol warten, lange würde es bestimmt nicht dauern, bis er … „Sie können auch reinkommen“, sagte die Frau.
„Hm?“
„Ja, ist doch kein Problem. Dauert bestimmt nur ein paar Minuten.“
„Okay. Wenn es keine Umstände macht.“
„Dritter Stock.“ Der Lautsprecher knackte erneut, das Rauschen verschwand, dann summte die Eingangstür und ich drückte sie auf.
Die Treppen knarzten unter meinen Schuhen, während ich in den dritten Stock emporstieg. Das Treppenhaus weiß und schmucklos, stellenweise platzte Putz ab und schwarze Schlieren zogen sich die Wände entlang, Spuren von Leuten, die Schränke und Betten und Fahrräder über ebenjene schmalen Stufen gehievt hatten, über die ich nun keuchte. Ich erreichte Wohnung Nummer fünfzehn. Die Tür stand einen Spalt weit offen und ein halbes Gesicht musterte mich. Ein dunkelbraunes Auge, lange schwarze Haare. „Hola“, sagte ich.
„Hola.“ Sie öffnete die Tür vollständig, lächelte und streckte mir ihre Hand entgegen. „Lucía.“
Ich schüttelte ihre Hand, sie schwitzte nicht. „Danke für die Einladung.“
„Con gusto. Gehen Sie ruhig durch, das Wohnzimmer ist hinten rechts.“
Ich ging an ihr vorbei in die Wohnung und sie schloss die Tür hinter mir. „¿Cafecito?“, fragte Lucía.
„Ja, gerne. Schwarz.“
Sie nickte und verschwand in der Küche.
Ich betrat das Wohnzimmer. Ein braunes Sofa, ein alter Fernseher, eine Glastür, die auf einen Balkon herausführte, dahinter das angrenzende Wohnhaus. Ich setzte mich auf das Sofa, versank tief in dem weichen Stoff. An den Wänden hingen Kruzifixe, und Engel in verschiedenen Größen standen auf Schränken und auf dem kleinen Tisch vor mir. Direkt über dem Fernseher ein Gemälde von Maria mit dem kleinen Jesus.
Ich starrte ihr in die Augen, so dunkel wie die Augen von Lucía. Wenn ich Maria so sah, mit zusammengepressten Lippen und Tränen auf den Wangen, den schlafenden Jesus auf den Armen, ihre Gesichtszüge erhellt vom Heiligenschein über dem Kopf des Babys, da fragte ich mich oft, ob sie das alles so gewollt hatte. Wenn sie schon vor der Schwangerschaft gewusst hätte, was ihrem Sohn dreißig Jahre später widerfahren würde, hätte sie ihn trotzdem bekommen? Hätte sie trotzdem einen Märtyrer gezeugt? Ihr Glück geopfert, um der Welt den Glauben an etwas Höheres zu schenken? Und warum hängten sich so viele Leute Sinnbilder von Leid und Tod in die Wohnzimmer?
„Bitte“, sagte Lucía und reichte mir eine weiße Tasse, aus der Dampf stieg.
Ich bedankte mich, nahm die Tasse und pustete, wartete einen Augenblick, während sich Lucía neben mich setzte und lächelte und ohne zu zögern einen Schluck trank. Ich erwiderte das Lächeln und hob langsam die Tasse, ließ den Kaffee erst meine Lippen berühren, um die Hitze zu testen, nahm dann einen kleinen Schluck und nickte. „Sehr lecker.“
„Sie haben einen Akzent“, sagte Lucía.
„Kann sein. Bin nicht von hier.“
„Maicol hat da was erwähnt … Sie sind der Deutsche.“
„Genau“, sagte ich und nahm noch einen Schluck.
„Wie die Verschwundene.“
„Hat Maicol darüber gesprochen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Er redet kaum über die Arbeit.“
„Achso.“
„Ja.“ Aus ihrer Tasse ragte ein Löffel und sie rührte nun um, Metall scharrte über Porzellan.
Ich trank erneut; mein Schlucken klang laut in der Stille zwischen uns. „Sie sind seine Freundin?“, fragte ich, um das Gespräch aufrechtzuerhalten.
„Ehefrau.“
„Oh, wusste nicht, dass er schon verheiratet ist.“ Ich musterte Lucía aus dem Augenwinkel. Sie wirkte sehr jung, kaum älter als zweiundzwanzig. Fast noch ein Kind. Aber solche Dinge laufen auf jedem Kontinent anders, dachte ich mir noch, bevor ich fragte: „Verhält er sich denn auffällig, seit …“
Lucía verengte die Augen. „Was wollen Sie damit andeuten?“
„Also, ich …“
„Mein Maicol hat damit nichts zu tun.“
„Aber vielleicht hat er was gesehen.“
„Wenn das so wäre, hätte er mir was erzählt. Hat er aber nicht.“ Sie hob ihre Stimme und ihre Augen begannen zu glitzern. Zornestränen.
Ich setzte ein Lächeln auf. „Entiendo. Lo siento.“
„Está bien.“
Wieder schwiegen wir, starrten vor uns hin. Auf das leere Sofa zwischen uns, auf die Engel, aus dem Fenster. Dann fragte Lucía: „¿Y usted?“
„¿Yo?“
„Haben Sie eine Frau?“
„Nicht mehr.“
„Was ist passiert?“
„Sie ist gestorben. Schon ein paar Jahre her.“
„Lo siento.“
„Está bien.“
„Und Kinder?“
Ich schüttelte langsam mit dem Kopf, sah dabei aus dem Fenster.
Lucía legte eine Hand auf ihren Bauch. „Wir sind bald zu dritt, sabe?“
Bitterer Geschmack machte sich in meinem Mundraum breit. Mein Magen verkrampfte. Ich hätte gerne gesagt, das läge am Kaffee, aber ich würde mich damit nur selbst belügen.
Lucía sagte: „Maicol kümmert sich echt rührend um mich. Und endlich hat er einen Job. Wissen Sie, früher saß er immer im Park rum, hat sich um nichts geschert, der Faulenzer. Seine Eltern haben uns unterstützt. Finanziell, meine ich, das ist ja heute alles nicht so einfach, und ich wollte eigentlich zur Uni, aber dazu müsste ich aufs Festland. Das wissen Sie bestimmt nicht, aber fast alle Universitäten sind in Bogotá. Ich wollte aber nicht runter von der Insel. Meine Eltern verlassen … und Maicol. Und dann war ich plötzlich schwanger, also so plötzlich nicht, ich bin ja nicht wie María hier, aber es hat mich doch überrascht. Als ich ihm das gesagt habe, hat er sich so gefreut. Und vor allem endlich den Arsch hochgekriegt. Diese Wohnung, zum Beispiel, die haben wir …“
Während Lucía in den Redeschwall geriet und darüber ihren Kaffee vergaß, starrte ich aus dem Fenster. Zu den Balkonen der Nachbarn. Eine ältere Frau hing dort Wäsche auf, darüber saß ein Mann auf einem Gartenstuhl aus Plastik und las ein Buch, neben ihm ein schwarzes Antennenradio aus den Achtzigern. Und da stellte ich mir vor, dass ich nicht aus einem Fenster blickte, sondern ein Gemälde betrachtete. Und die Balkone wurden zu Uhren, als hätte Dalí das alles gemalt. Und die Uhren schmolzen zu einem dickflüssigen Brei, der auf die Straße darunter tropfte, römische Ziffern und Sekundenzeiger sammelten sich in den Schlaglöchern, versetzten den Asphalt in seinen ursprünglichen Zustand. Doch der Mann und die Frau verloren den Boden unter den Füßen, stürzten und fielen auf die Straße hinab, ganz langsam, in Zeitlupe, und ich konnte ihre Gesichter sehen, weit aufgerissene Augen und Münder, die schreien wollten, doch kein Ton entwich den Kehlen. Sie würden stumm weiter fallen, durch die Straße hindurch, immer tiefer, unendlich und unsichtbar. „Das hat meine Mutter immer gesagt. Gott sei Dank waren wir schon verheiratet, sonst hätte sie Maicol mit einem Besen verprügelt, ihn auf die Straße gejagt wie einen räudigen Köter. Und papá erst, da darf ich gar nicht dran denken.“
Ich stellte die Tasse auf den Tisch und sagte: „Ich glaube, ich gehe lieber.“
„So? Warum denn? Maicol kommt bestimmt gleich.“
„Jaaa, aber fänden Sie es nicht komisch, wenn er uns hier so sieht?“
„Meinen Sie?“
„Wir kennen uns ja gar nicht. Nicht, dass er auf falsche Gedanken kommt.“
„Maicol wird nie eifersüchtig, falls Sie das meinen.“
Die Luft wurde stickiger, ich fühlte mich, als würde ich überhitzen. Das Atmen fiel mir schwer, als hätte mir jemand ein dickes Tuch auf Mund und Nase gepresst. Ich erhob mich.
Lucía fragte: „¿Todo bien? Sie sind auf einmal so blass.“
„No se preocupe. Ich muss nur kurz an die frische Luft. Ich warte einfach draußen.“
„Gehen Sie doch auf den Balkon.“
Ich hob beide Hände. „No, ich vertrete mir unten die Beine.“
Lucía presste die Lippen zusammen. „Wenn Sie meinen.“
Als ich mich umdrehte und den Flur betrat, hörte ich das Klimpern eines Schlüssels und ein Scharren an der Wohnungstür, dann ein Klicken, die Tür schwang auf und Maicol stand da, hielt eine weiße Tüte in der linken Hand und erstarrte. „Was machst du denn hier?“, fragte er.
Ich schluckte und räusperte mich. „Wollte nur mal nach dir sehen.“
„Nach mir?“
Lucía ging an mir vorbei. „Hola, amorcito“, sagte sie und umarmte Maicol und küsste ihn. „¿Cafecito?“
„Sí claro, mi reina. Compré peces.“
„¿A buen precio?“
„Treinta mil.“
Sie nahm Maicol die Tüte ab und sah hinein. „Qué chévere.“ Dann ging sie in die Küche.
„Also?“, fragte Maicol.
„Wegen der Deutschen“, sagte ich.
Maicol seufzte. „Ja, schlimme Sache das.“
„Hast du was mitbekommen?“
„Wieso?“
„Ich war bei Ramiro. Du hattest die Bootstour, bei der die Frau zuletzt gesehen wurde.“
Maicol schüttelte den Kopf. „War alles ganz normal.“
„Keiner hat sich auffällig verhalten?“
„No.“
„Hm.“
„Kann mich nicht mal daran erinnern, die Frau gesehen zu haben“, sagte Maicol. „Hab auch andere Sorgen gerade.“
„¿Por el bebé?“
„Lucía hat dir schon davon erzählt?“ Er grinste. „Ich werde papá, kaum zu glauben, was?“
Ich setzte ein Lächeln auf. „Felicitaciones.“
„Gracias. Morgen gebe ich einen aus.“
„Morgen?“
„Bei der großen Party am Playa Principal. Du kommst doch?“
„Weiß ich noch nicht.“
„Kannst du dir ja überlegen. Ramiro kommt auch. Zum ersten Mal mit neuer Flamme.“
„Jefe hat eine Neue?“
„Sí, seit ein paar Wochen schon.“
„Na ja, mal schauen. Bin ein bisschen beschäftigt zurzeit.“
„Womit?“
„Dieses und jenes.“
Maicol legte den Kopf schief. „Siehst echt nicht gut aus, mano. Das mit der Touristin muss dir ja echt nahe gehen.“
„Kann sein.“
„Hm. Verstehe, falls du morgen nicht kommst. Immerhin wurde sie am Playa Principal gefunden. Verstört einige Leute.“
Wieder bitterer Geschmack in meinem Mund, und ich spürte, wie Blut durch meine Ohren pulsierte. „Gefunden?“
„Ihre Leiche“, sagte Maicol. „Kam heute Morgen in den Nachrichten. Hast du´s nicht mitbekommen?“
„War unterwegs.“ Mehr konnte ich nicht antworten, die Stimme versagte mir. Der Flur wurde dunkler, ich glaubte, gleich umzukippen, doch nichts geschah. Ich fühlte mich nur so allein, ohne Halt. Eine Boje mitten auf dem Meer mit einem Loch im Rumpf, der sich mit Wasser füllte, die Boje gen Grund zog, fort vom Sonnenlicht. Irgendwo in der Wohnung tickte leise eine Uhr.
Nach der Nachtwanderung mit einigen Mexikanern und Kolumbianern vom Festland saß ich wieder an Leidys Tresen und hatte schon zwei Shots intus.
„¿Otro?“, fragte Leidy.
„No. Una cerveza, por favor.”
„¿Cuál? Tengo Club Colombia o Aguila.”
„Dáme Aguila.”
„Listo.” Sie stellte das kühle Bier vor mir auf den Tresen. Wassertropfen rannen die Flasche hinab. Ich starrte das blaue Etikett an, musterte den Adler darauf, fuhr mit dem Daumen über seine Schwingen. „¿Qué pasó?“, fragte Leidy.
„Está muerta.“
„¿La alemana?“
„Sí.“
„Ich weiß ja nicht, wie es bei euch ist“, sagte Leidy, „aber wenn bei uns jemand verschwindet, ist er meistens tot. Man kann froh sein, wenn bei der Leiche noch der Kopf dran ist.“
„Es gibt kein euch“, sagte ich. „Nur mich.“
Leidy schmunzelte. „Ay, tan serio. Was ist los mit dir? Es sterben öfter mal Leute, das nimmt dich sonst nicht so mit.“
„Hab ich dir je erzählt, warum ich hergekommen bin?“
„No.“
„Meine Frau … sie ist vor vier Jahren gestorben. Wir waren zusammen essen und auf den Heimweg ist sie zusammengebrochen. Zwischen irgendwelchen beschissenen Mülltonnen. Hat Blut gehustet und gelächelt und einen Witz gemacht … einen Scheißwitz. Irgendwas über das Restaurant.“ Ich nahm einen Schluck Bier. Es schmeckte nicht, legte sich aber kühlend über meine Zunge und da trank ich mehr.
Leidy zündete sich eine Zigarette an. Sie bohrte nicht nach und wir waren allein in der Bar. Vielleicht fiel es mir deshalb leicht, alles herauszulassen. Oder der Tod der Deutschen hatte mich doch stärker mitgenommen als ich zugeben wollte. Ich erzählte ihr vom Krankenhaus, vom Lungenkrebs, der bereits gestreut hatte. Wie alles zu spät war.
Leidy sagte: „Du hättest nichts tun können.“
„Doch“, sagte ich. „Sie hatte schon länger über Beschwerden geklagt. Ich habe nicht zugehört, es auf etwas anderes geschoben.“
„Worauf?“
„Ihre Schwangerschaft. Und sie hatte öfter mal Beschwerden, die sich als Kleinigkeiten rausgestellt hatten.“ Ich drehte die Flasche in meiner Hand. „Danach sah ich sie überall. Jede beschissene Ecke in Hamburg, Berlin, München.“
„Und deshalb Kolumbien?“
„Weiter geht’s fast nicht, oder?“ Ich lächelte.
Leidy fragte: „Und das Kind?“
Ich schüttelte den Kopf.
Leidy nahm einen tiefen Atemzug und blickte auf ihre Füße.
Nach einem Moment des Schweigens fragte ich: „Wusstest du, dass viele denken, das hier sei das Paradies?“
„Ist es doch auch“, sagte Leidy. „La tierra de Dios.“
„Und doch entkommt man nirgends dem Scheiß. Ich habe gehört, sie hätten der Deutschen den Schädel eingeschlagen.“
Leidy schwieg.
Ich starrte auf die Maserung des Holztresens. „Na ja, ich schlafe mich besser aus. Morgen sieht die Welt wieder anders aus, was?“
Leidy sagte: „Por supuesto.“
„¿Cuánto?“
„Geht auf’s Haus.“
„Nichts da. Ich weiß, du brauchst die Kohle. Díme.“
„Veinte mil.“
Ich kramte in meiner Hosentasche nach einem losen Geldschein, zog einen Fünfziger hervor. Darauf ein lilafarbener García Márquez, der mich aufmerksam musterte. Neben seinem Gesicht stand ein Miniatur-Márquez. Er sah aus wie ein Diktator, doch aus seiner linken Hand steigen Schmetterlinge empor, als wäre er ein Magier. Sie flatterten gen Himmel, verschmolzen dort mit Lila und Gelb und Blau. Ich drehte den Schein um und klatschte ihn auf den Tresen. „Passt so.“
Ich saß allein auf den warmen Sand des Playa Principal. In der Ferne spielte En Barranquilla Me Quedo und Stimmengewirr schallte über den Strand. Die Party war im vollen Gange, jemand hatte einen großen Grill aufgebaut, auf dem Fleisch brutzelte und die Luft mit dem Geruch von Rauch erfüllte. Ich hatte Ramiro und seiner neuen Freundin Hallo gesagt und kurz mit Maicol über Belanglosigkeiten gequatscht, irgendwas über Lucía und ihre Brechanfälle während der Schwangerschaft. Nach einem Bier war ich gegangen. Niemand hatte mich beachtet, niemand würde nach mir fragen.
Und so saß ich allein abseits der tanzenden Menge und starrte auf das Meer hinaus gen Westen. Ich glaubte, in der Ferne Nicaragua zu erblicken. Ich wusste, was ich da sah, waren bloß dunkle Wolken mitten auf dem Meer, und doch stellte ich mir vor, da wäre schon Nicaragua. Mit seinen dichten Wäldern und vereinzelten Maya-Tempeln. Ob es da auch Bedarf für einem deutschen Reiseführer gab? Ich wäre zwar wieder allein, aber was für einen Unterscheid machte es schon, ob hier oder dort? Hatte ich einen weiteren Neuanfang in mir?
Ich blickte auf das Meer hinaus, stellte mir ihre Leiche vor, die im Wellengang auf- und abtrieb. Das Gesicht zerfressen vom Salz, blutige Flecken auf dem nackten Rücken, wo Möwen Fleisch herausgepickt hatten. So trieb sie den Strand entlang, bloß noch ein Stück Fleisch. Die Sittiche in den Palmen beäugten die Leiche, hatten vermutlich auch den Mord gesehen, doch ihnen entwich nur ein fröhliches Zwitschern, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt, als gäbe es nur Tukane und Kolibris und Affen, alle friedlich vereint in ihrem Wald, auf ihrer Insel, auf ihrem Planeten. Sie sahen nicht den Qualm am Horizont, die Flammen in ihrem Dschungel, die Schneise aus Flüchtlingen, die sich von Venezuela bis nach Bogotá zog, weinende Frauen mit schreienden Kindern auf den Armen, brennende Autos am Straßenrand, FARC-Guerilleros in den Büschen, raubend, vergewaltigend, ein Präsident, der Amnestie versprach. Und der Tod der Touristin würde untergehen in den Nachrichten über mehr Tod und mehr Leid, und San Andrés würde vergessen. Nur ich würde verbleiben, auf das Meer hinausblicken und an sie denken. An ihr Lächeln und ihren kleinen weißen Hut. Wäre sie nicht so schön gewesen, würde sie noch leben.
Als ich so dasaß, meine Füße im warmen Sand vergraben, als wollte ich hier Wurzeln schlagen, wurde in der Ferne ein Cumbia angestimmt und Menschen lachten. Die Brise streichelte mir über das Gesicht und der Himmel wurde blutrot, während die Sonne vor mir im Meer versank wie eine riesige Goldmünze.