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Gerd ist schwul
Ich war gerade dabei, den Salat abzuschmecken, als Annette zu mir in die Küche gerannt kam. Sichtlich erregt hampelte sie vor mir herum, doch offenbar scheute sie sich, mit ihrer Mitteilung einfach herauszuplatzen, weshalb ich mich endlich dazu herabließ zu fragen: „Nun sag schon, was?“
„Weißt du schon? Gerd ist schwul!“
Sie hatte die Augen weit aufgerissen, beobachtete meine Reaktion. Auch ihr Mund stand offen, vielleicht um den Druck auszugleichen, der ihre Augäpfel aus den Höhlen zu sprengen drohte.
„Was?“ brachte ich hervor.
„Lena hat es gerade erzählt, die anderen sind auch völlig schockiert. Ach, was heißt schockiert, überrascht!“
Im Nachhinein betrachtet hätte ich mir gleich denken können, daß das nicht sein konnte. Es war einfach Unfug, nur für eine Sekunde zu glauben, daß Gerd schwul sein könnte. Vermutlich hätte ich sofort fragen sollen, woher diese Information stammte, doch ich war so durcheinander von der Nachricht, daß ich zusammen mit Annette auf die Terrasse stürzte. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um Lenas vorhersagbares ‘Eigentlich hatte ich mir das schon immer gedacht’ zu erwischen. Jens, der für einen Moment zu erstaunt gewesen schien, verschwand gerade wieder unter der Maske seiner Intellektualität.
„Nun“, Jens streckte sich auf meinem Lieblingsstuhl aus, „mich überrascht das, um ehrlich zu sein. Gerd homosexuell, nein, das hätte ich nicht von ihm gedacht.“
„Wieso, ist doch nichts dabei“, sagte Mark, mein Mann, „von mir aus kann er gerne schwul sein, solange er mir nicht an den Hintern grapscht.“
„Das ist von Adenauer, aber ich habe vergessen, wen er damit meinte“, belehrte Lena.
„Ich hätte da aber auch Einwände“, merkte ich an.
Jens warf ein: „Vielleicht ließe sich mit den beiden über eine Teilnahme sprechen.“
„Ach, Jens, du bist ein Ferkel! Allein die Vorstellung!“
Niemand sagte etwas, und Mark unterbrach den unangenehmen Moment, indem er sein Glas erhob: „Einen Toast auf Gerd, und darauf, daß er endlich damit herausgekommen ist.“
Wir stießen an, tranken, und Lena sagte: „Jetzt verstehe ich auch, weshalb er noch nicht hier ist.“
„Glaubst du, er schämt sich?“ fragte ich.
„Möglich“, entgegnete Lena.
„Aber das braucht er doch nicht, ich rufe ihn sofort an.“
Mark hielt mich zurück: „Komm, laß man, der braucht jetzt auch erst mal seine Zeit, ist doch ein gewaltiger Schritt, wer weiß, wie lange er schon darüber nachgedacht hat.“
„Ob er schwul ist?“ fragte Annette, und Mark erwiderte ungeduldig: „Nein, ob er es zugeben will natürlich. Schwul wird man doch geboren.“
Lena korrigierte: „Also ich habe von Leuten gehört, die waren verheiratet und hatten Kinder“, an dieser Stelle hob sie vielsagend die Augenbrauen, „und dann eines Tages wurden sie plötzlich schwul und sind gegangen.“
„War Thomas Mann nicht auch schwul?“ wollte ich wissen, und Annette wendete ein: „Der hatte doch Familie.“
„Aber das sagt Lena ja gerade. Vielleicht war er ja tatsächlich nicht immer schwul“, schaltete sich Mark ein, und Lena ergänzte: „Ja, aber der Tod in Venedig ist ein frühes Werk, das hat er vor dem Zauberberg geschrieben.“
Jens klärte uns auf: „Meines Erachtens waren es die gesellschaftlichen Umstände der damaligen Zeit, die ihm das Ausleben seiner sexuellen Orientierung unmöglich gemacht haben. Vermutlich war seine Heirat nur eine Art Tarnung.“
Annette verzog das Gesicht: „Das ist ja pervers.“
„Pervers! Du und deine hehren Vorstellungen von Ehe und Sexualität. Vermutlich war es der einzig gangbare Weg“, schloß Jens, der sich während seines Vortrags vorgebeugt hatte und sich nun zufrieden zurücklehnte. „Ich könnte es Gerd nicht verdenken, wenn er sich erst einmal nicht seinen alten Freunden präsentieren will und es vorzieht, zu warten, bis wir uns selbst an den Gedanken gewöhnt haben. Weiß er denn sicher um unsere Reaktion?“
Ich verteidigte: „Ich denke schon, wir waren immer seine Freunde. Er weiß, daß er auf uns vertrauen darf.“
Jens zuckte bedeutsam mit den Schultern und goß sich Wein nach.
„Also, um ehrlich zu sein, ob Freunde auch wirklich Freunde sind, merkt man ja auch erst, wenn es um etwas geht“, philosophierte Annette.
„Ich werde ihn jetzt anrufen. Ganz egal, ob das der richtige Zeitpunkt ist, oder nicht“, sagte ich und verließ entschlossen die Terrasse. Auf dem Weg zum Telefon verließ mich allerdings der Mut. Wie sollte ich das Gespräch beginnen? Vielleicht: „Hallo Gerd, hier Judith, also ich finde es völlig in Ordnung, daß du schwul bist.“ Das klang irgendwie doof. Vielleicht sollte ich „homosexuell“ sagen? Ich überlegte mir einen anderen Anfang, dann noch einen, und als ich schließlich bei „vom anderen Ufer„ ankam, gab ich frustriert auf.
In dem Moment, in dem ich wieder auf die Terrasse trat, gab Lena gerade zu bedenken: „Er hatte ja auch noch nie länger als einige Wochen eine Freundin.“
„Dabei sieht er doch so gut aus“, sagte Annette.
„Stimmt genau“, bestätigte Lena und fügte vielsagend an, „und er achtet ja auch sehr auf sein Äußeres.“
„Wir hätten es eigentlich schon lange bemerken können“, seufzte Mark nachdenklich, „vielleicht hat er das ja erwartet, wollte vielleicht immer, daß wir ihn darauf ansprechen.“
„Ach was, warum hat er es denn nicht einfach gesagt?“ empörte sich Annette. „Erst an Neujahr habe ich ihm viel Glück in der Liebe gewünscht, und daß er bald eine nette Frau trifft! Er hat mich so seltsam angesehen dabei, ja, ich weiß noch genau, wie seltsam er mich dabei angesehen hat, oh Gott, wie peinlich!“
„Das ist vielleicht nicht so einfach, tun wir uns nicht alle schwer, unseren Freunden wirklich zu vertrauen?“ fragte Mark und stocherte im Grill herum.
„Das klingt ganz, als hättest du selbst dein kleines Geheimnis“, erwiderte Lena mit gespielter Gleichgültigkeit. Wir kannten das an ihr, sie mußte vor Neugierde zergehen.
Ich sah Mark fragend an, er mußte meinen Blick in seinem Rücken spüren, doch ohne sich zurückzudrehen begann er: „Naja, wie ihr wißt, hatte ich vor ein paar Jahren ja diese Idee, mit dem Erstellen von Internetseiten Geld zu verdienen. Und habe das dann wieder aufgegeben, weil die Konkurrenz einfach zu groß war.“
Ich nickte, Lena saß wie versteinert auf ihrem Stuhl, als hätte sie Angst, eine unbedachte Bewegung könne Mark davon abhalten, seine Geschichte zu Ende zu erzählen.
„Was ich euch nicht erzählt habe, ist, daß ich die ganze Sache aufgeben mußte, weil ich... Also, es ist so. Wenn man eine Seite im Internet veröffentlicht, dann muß man eine gewisse Form einhalten. Rechtlich. Da muß es ein Impressum geben, im Falle eines Verkaufs über die Seite gibt es noch mehr Auflagen. Ich hatte es irgendwie versäumt, mich darüber genau zu informieren. Einige meiner Kunden bekamen plötzlich eine Klage, es ging um ein paar tausend Euro jeweils, und weil die Verträge, die ich mit ihnen abgeschlossen hatte, mich nicht von der Haftung ausschlossen, mußte ich letztlich die ganze Summe selbst bezahlen.“
Mark schwieg, machte sich weiter an der Kohle zu schaffen und fuhr schließlich fort: „Das war noch, bevor wir geheiratet haben. Ich habe es aus irgendeinem Grund für mich behalten, auch Judith nichts davon gesagt; es war mir irgendwie peinlich.“
Ich ging zu ihm und legte meine Hände auf seine Schultern. Ich wußte, daß Jens die Geschichte ebenso peinlich sein mußte wie Mark. Trotz ihrer offensichtlichen Unterschiedlichkeit bewunderte er Mark, mußte die Schwäche seines besten Freundes unerträglich finden.
„Laßt uns darauf trinken“, sagte Annette, die sehr ergriffen aussah, „ich finde es gar nicht peinlich, aber richtig mutig von dir, das zu erzählen.“
Jens rief: „Einen Schnappes, gebt dem Mann doch erst mal einen Schnappes!“
Lena stimmte ein: „Mir auch! Judith, habt ihr noch diesen Williams von deiner Tante?“
Wir prosteten uns zu und tranken, Mark sah irgendwie erleichtert aus, ich glaube, er hatte das schon lange erzählen wollen.
„Könnt ihr euch noch an Konstantin erinnern, diesen Oboenspieler, mit dem ich zusammen war?“ fragte Annette.
„Wie lange ist das jetzt schon her?“ wollte Lena wissen.
„Ich weiß nicht mehr, zwei Jahre vielleicht, ist aber auch ganz egal. Also, wir hatten im Sommer geplant, nach Spanien zu fahren, gemeinsam. Und dann bekam dieser Idiot ein Engagement für eine Konzerttournee, Australien“, begann sie, und in ihrem Gesicht spiegelte Empörung: „Der hat einfach zugesagt, ab nach Australien, kein Spanienurlaub, und da habe ich mir gedacht: Nein, ist mir egal, dann fahre ich eben alleine.“
„Eine wirklich mutige und auch sehr emanzipierte Entscheidung, Annette“, stichelte Jens, „war das jetzt auch so eine Art Geständnis?“
„Nein, das kommt doch erst noch“, sagte Annette, vielleicht etwas zu laut, der Alkohol schien langsam seine Wirkung zu zeigen. Ihre Züge entspannten sich, dann setzte sie fort:
„Ich bin also in dieses Feriennest gefahren, da, irgendwo am Mittelmeer, allein, war richtig schön. Und am zweiten Abend in der Disko habe ich diesen Spanier kennengelernt, hat dort irgendwo gearbeitet, sprach kein Wort Deutsch, wir haben uns so mit Englisch ausgeholfen. Aber das war auch gar nicht wichtig. Ich habe ihn noch am selben Abend einfach mit in meine Ferienwohnung genommen.“
Wir starrten Annette ungläubig an. Selbst Lena vergaß für einen Moment ihre übliche Bewegungslosigkeit, die sie einnahm, wenn sie jedes Detail einer Geschichte in sich aufsaugen wollte: „Aber du warst mit Konstantin doch noch mindestens ein halbes Jahr zusammen? Und sagst du nicht immer, daß du Treue für das wichtigste in einer Beziehung hältst?“
„Aber der hatte einen Körper, sage ich euch; wirklich, einen so schönen Körper, der Kerl war vielleicht erst zwanzig, kaum älter. Und wenn er dann in seinem Spanisch irgendwelche Sachen sagte, konnte ich gar nicht anders, als ihn überall abzuknutschen. Und was wir da alles gemacht haben, was dem alles eingefallen ist! Morgens ging ich an den Strand, mittags schlief ich, am Nachmittag wieder an den Strand, und pünktlich um neun abends war er bei mir und heißa!“
„Den ganzen Urlaub lang?“ Lena wollte es noch immer nicht glauben.
„Drei Wochen, jeden Abend“, stellte Annette mit einer unkontrollierten Armbewegung klar, „nur sonntags nicht, da war er bei seiner Familie oder so.“
„Auf Spanien!“ rief ich und goß Williams nach.
„Auf die Spanier!“ schrie Annette. „Und guten Sex! Sagt mal, können wir langsam essen, ich bin am Verhungern.“
Nach einem Steak, zwei Würsten, drei Ladungen Kartoffelsalat und einer Flasche Wein gab sich Lena einen Ruck: „Also gut, ich muß jetzt auch etwas gestehen.“
„Raus damit!“ lallte Annette.
„Das nimmt langsam bedrohliche Ausmaße an“, schob Jens ein, „am Ende muß ich noch erzählen, daß ich in der Schule immer die Bleistifte meiner Mitschüler gestohlen habe.“
„Hast Du?“ fragte ich.
„Nein, natürlich nicht... aber ich habe mein Bett genäßt“, sprudelte Jens hervor. Und dann rief er: „Und zwar bis ich zehn war!“
Er brach in ein ansteckendes, groteskes Lachen aus, schlug dabei immer wieder mit der Faust auf den Tisch und fuhr fort:
„Und dann hat mich meine Mutter zu unserem alten Hausarzt geschleppt, und der hat mir dann Tees verordnet und eine spezielle Ernährung. Die ganzen Arzthelferinnen standen überall herum und sahen mich mitleidig an, das war alles sooo peinlich...“
Jens bog sich vor Lachen und preßte dann heraus: „Am Ende wollten sie mich noch zu einem Psychologen schicken, ich glaube fast, ich habe nur damit aufgehört, weil ich nicht zum Psychologen wollte.“
Nachdem wir uns alle halbwegs beruhigt hatten, fragte Lena amüsiert: „Darf ich jetzt vielleicht noch meine Geschichte erzählen?“
„Nur, wenn Judith auch noch etwas erzählt“, entgegnete Mark.
„Aber du weißt doch alles von mir“, stammelte ich verteidigend.
„Ja? Du wolltest mir nie erzählen, was du als Sechzehnjährige in diesem Sommer gemacht hast, von dem auch deine Mutter nur zu erzählen weiß, daß du am ersten Ferientag verschwunden und am letzten zurückgekommen bist.“
Ich spürte, wie meine vom Alkohol schon geröteten Wangen noch mehr an Farbe gewannen: „Ach so, das, das war nichts besonderes. Laßt doch Lena endlich erzählen!“
„Nein, ich habe es mir anders überlegt, du zuerst!“ sagte Lena.
„Aber da gibt es nichts zu erzählen“, mein Blick fiel auf Mark gespanntes, angetrunkenes Gesicht, „ja, gut, ich hatte so ein paar interessante Jungs kennengelernt. Einer von den beiden hatte einen alten Opel Rekord, mit dem sind wir nach Frankreich gefahren.“
Ich schwieg, alle starrten mich erwartungsvoll an.
„Also gut, ich erzähle es ja schon: Wir haben dort wild gecampt und die ganze Zeit Gras geraucht.“
„Du hast Gras geraucht?“ fragte Annette und fügte hinzu: „Warst Du mit denen auch im Bett?“
„Also in Zukunft weiß ich, woran ich bei dir bin“, stichelte Jens, „dich treibt nur ein Thema um.“
„Nein, ich glaube, die wollten schon, aber ich hab mich dann doch nie getraut.“
Mark fragte: „Du glaubst?“
Ich sagte nichts, und Mark setzte fort: „Aber sie haben es versucht, oder? Ihr habt es versucht, stimmt doch, oder?“
„Ja, wir haben es versucht, aber es hat nie geklappt, ich war irgendwie... blockiert... Ach, eigentlich ist es ja auch lustig: der eine hat mich andauernd massiert, faselte von Ritualen und speziellen Punkten am Körper, der andere hat mir immer wieder sein Geschlecht gezeigt und behauptet, ich müsse es nur lange genug betrachten!“
Alle mußten lachen, ich auch, nur Annette wiederholte verständnislos: „Und du hast Gras geraucht?“
„Ja, ziemlich viel, glaube ich...“
„Und, wie fandest du das?“ hakte Annette nach.
„Gib acht, jetzt erzählt sie gleich, daß sie was dabeihat“, sagte Jens, und Lena flötete: „Ach, jetzt so einen kleinen Joint...“
„Aber zuerst deine Geschichte!“ befahl Annette.
Lena wollte gerade auf Annettes letzten Satz eingehen, da ging die Türklingel. Wir sahen uns alle an. Mark ging ins Haus und kam wenig später mit Gerd im Schlepptau auf die Terrasse zurück.
„Gerd!“ fiel Annette dem Neuangekommenen um den Hals. „Schön daß du da bist, du weißt, du bist hier immer willkommen, was auch passiert, wir mögen dich alle, so wie du bist.“
Gerd blickte etwas verwirrt, und auch Lena stand auf, um ihn zu begrüßen. Jens, sonst eher scheu, drückte Gerd wohl zehn Sekunden lang. Endlich war die Reihe an mir, doch Mark hielt mich zurück.
„Entschuldigt mein spätes Kommen, aber ich bin mir sicher, ihr werdet mir verzeihen“, sagte Gerd. „Ich will euch jemanden vorstellen.“
Lena warf Annette einen bedeutungsvollen Blick zu, Jens schloß mit lächelnder Gewißheit die Augen.
„Sie ist gerade auf der Toilette, sie heißt Bianca, und wir sind seit einem halben Jahr Kollegen.“
Gerd strahlte, doch keiner von uns rührte sich. Endlich fragte er verständnislos: „Ist irgendwas?“
Mark begann hysterisch zu lachen, und Annette platzte heraus: „Aber bist du nicht schwul?“